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Jan C. Watzlawik (Hg.)
Auf Möbeln. SitzPolsterModen. Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund
(Dortmunder Materialien zur Materiellen Kultur 9), Dortmund 2019, Technische Universität, Institut für Kunst und Materielle Kultur, Seminar für Kulturanthropologie des Textilen, 124 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947323-06-7Rezensiert von Antonia Reck
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020
„Unsere heutige Gesellschaft sowie alltägliche Lebenswelt sind geprägt vom Sitzen und von Sitzen.“ (6) Dieser Alltäglichkeit des Sitzens wie unseres Umgangs mit Sitzmöbeln nachzuspüren und sie gleichzeitig infrage zu stellen, war Ziel der Ausstellung „Auf Möbeln. SitzPolsterModen“, die von Dezember 2018 bis Mai 2019 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund gezeigt wurde. Entstanden ist die Sonderausstellung aus einem dreisemestrigen Lehrforschungsprojekt im Masterstudiengang Kulturanalyse und Kulturvermittlung der Technischen Universität Dortmund unter Leitung des Kulturwissenschaftlers und Kunsthistorikers Jan C. Watzlawik. Der vorliegende Katalog folgt dem Aufbau der Ausstellung und ist, wie im Titel anklingt, in drei Bereiche gegliedert: Sitzen und Sitzmöbel, Sitzpolster und schließlich Moden derselben. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich vom späten 18. Jahrhundert, mit der Entstehung schwerer Polstermöbel, entlang prägender Entwicklungen der „SitzPolsterModen“ bis ins 21. Jahrhundert.
Zunächst werden die Begriffe „Sitz“, „Polster“ und „Moden“ definiert, in ihrer Entstehungsgeschichte dargelegt und polyperspektivisch kontextualisiert: „Die Ausstellung geht davon aus, dass ein Sitz […] durch den Menschen bestimmt wird. Ein Gegenüber wird zum Sitz, wenn sich dort jemand niederlässt.“ (14)
Möbelforschung ist im Kanon der Vergleichenden Kulturwissenschaft fest verankert. Der vorliegende Katalog fokussiert innerhalb dieses Bereichs einerseits auf Polstermöbel, andererseits werden Verbindungslinien und strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Möbel- und Kleidungsmoden gezogen sowie Prozesse des Wandels in den Blick genommen. Dabei treten unterschiedliche Facetten ans Licht: Fragen nach der Herkunft der Objekte werden mit Entstehungskontexten und Geschichte verbunden, die Frage der technischen Herstellung wird mit Materialitäten verknüpft. Die Interpretation der Sitzmöbel als Gebrauchsgegenstände ist mit alltagspraktischen, sozialpolitischen, zeitgeschichtlichen, konsumkritischen, kulturtheoretischen, kunst- und designhistorischen Dimensionen und Perspektiven verwoben. Sitzen wird als Körpertechnik verstanden, die sowohl alters-, schicht- und geschlechtsspezifisch geprägt als auch zeitlich und (sozial-)räumlich gebunden ist und dabei doch wandelbar.
Die sozio-kulturellen Bedeutungen der „SitzPolsterModen“ sind hierbei von besonderem Interesse. So können Sitzpositionen im Raum, Tischordnungen, das erhöhte Thronen auf Kissen usw. Indikatoren für soziale Hierarchien sein, „der herausragende Sitz als Mittel und Mittler von Macht“ (20) gelten. Formen, Farben, Materialien und Designs von Polstermöbeln dienen der individuellen Verortung in Gruppen, der sozialen Orientierung, der Statusrepräsentation und der Distinktion. Wer sechs Stühle MR20 Freischwinger von Mies van der Rohe, die Bauhaus-Klassiker schlechthin, um ihren oder seinen Esstisch gruppiert, veranschaulicht nicht nur designhistorische Kenntnisse, sondern präsentiert kulturelles und ökonomisches Kapital in Stahlrohr.
Sitzen dient der Erholung des Körpers, soll gleichzeitig jedoch geistige Aktivität fördern – Stichwort Schreibtisch- oder Bürostuhl. Ausdrücke und Redewendungen wie „die Schulbank drücken“, „Sitzen bleiben“, „Nachsitzen“ oder „in Haft sitzen“ erzählen von disziplinierenden Funktionen des (Still-)Sitzens: „Menschlicher Körper und Möbel gehen eine enge, wechselseitige Verbindung ein. Durch den Sitz wird die Haltung geprägt.“ (12) Sich angemessen auf einem Stuhl, einem Hocker oder einer Bank zu halten, muss erst erlernt werden: „Das Sitzen ist eine kulturelle Praktik, die sich zeitlich verändert und räumlich unterscheidet.“ (12) Auch die Bedeutung von Sitzgelegenheiten für zwischenmenschliche Interaktionen wird deutlich: Während das Sofa der Kommunikation im Freundes- und Familienkreis dient, schafft der Ohrensessel, durch die namengebenden Ohren, einen privaten Raum, löst die Sitzenden gleichsam aus ihrer Umgebung heraus. Mit der Entwicklung und dem Wandel der Sitzgelegenheiten erfuhren auch die Sitzpositionen Veränderungen. Die üppiger gefederten Polstermöbel des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zum Beispiel zogen eine weit zurückgelehnte, mehr liegende denn aufrechte Haltung nach sich und wurden von einigen Zeitgenossen als Symbol für Dekadenz und „Verfall der Sitten“ der Oberschicht gedeutet. „So ließe sich […] behaupten, dass in der sich permanent wandelnden Art und Weise des Sitzens die jeweils geistige Verfasstheit der Zeit zum Ausdruck kommt.“ (85)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass hier ein essayistisches, dabei sehr informatives Werk vorliegt. Den mit je einer Seite auffallend kurzen Texten sind die betreffenden Exponate in gezeichneter Form beigeordnet. Im Gegensatz zu „klassischen“ Ausstellungskatalogen sind die Stücke nicht als Fotografien, sondern in Form von Skizzen präsent. Technische Beschreibungen sowie Inventarnummern fehlen, was den Eindruck von Unkonventionalität und Leichtigkeit verstärkt. Hervorzuheben ist ferner, dass die studentischen Texte denjenigen von Jan C. Watzlawik gleichberechtigt sind. Mit Sebastian Hackenschmidt, Kunsthistoriker und Germanist, verfasste ein Experte für Möbel- und Kulturgeschichte den abschließenden Beitrag, was den Katalog um eine Außenperspektive bereichert.
Die zu Anfang aufgeworfenen Fragestellungen werden im Band detailliert beantwortet und das übergeordnete Anliegen, „die soziokulturellen Kontexte sowie Wechselwirkungen von Sitzen, Polstern und Moden“ (52) zu offenbaren, wird eingelöst. In den Analysen ergänzen sich Mikro- und Makroebenen, nicht zuletzt in Texten zum modischen Wandel. Hier wird deutlich, wie kapitalistische Zwänge sich auf (Sitz-)Möbelkonsum und -qualität auswirken, wie dies gleichzeitig zu neuen Formen der „Verweigerung“ – etwa demonstrativem Sitzen auf dem Boden – sowie zu Umbrüchen in Material und Technik führt.
Die Publikation eröffnet ein Panoptikum alltagspraktischer Funktionen und kultureller Symboliken von „SitzPolsterModen“. Während diese Offenheit einerseits den Reiz des Katalogs ausmacht, werden die Lesenden von der Kleinteiligkeit gleichzeitig strapaziert. Auch wäre eine klarere Verbindung der einzelnen Facetten untereinander wünschenswert gewesen. In jedem Falle regen die Texte zur Beschäftigung mit den mannigfaltigen Ausdrucksformen und Bedeutungsebenen der alltäglichen Sitzmöbel an.