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Marita Krauss/Erich Kasberger
Ein Dorf im Nationalsozialismus. Pöcking 1930–1950
München 2020, Volk, 396 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-86222-321-3Rezensiert von Johann Kirchinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020
Monografien über die nationalsozialistische Geschichte von Städten gibt es mittlerweile häufig und fast jede größere Stadt kann eine derartige Untersuchung aufweisen. Die nationalsozialistische Geschichte der Dörfer steht trotz mancher Publikationen noch etwas im Windschatten der Forschung. Auch Forschungen zur nationalsozialistischen Agrargeschichte wären zu nennen, aber die Geschichte von Dörfern erschöpft sich ja nicht in der Landwirtschaft. Umso verdienstvoller erscheint es, dass der Gemeinderat im oberbayerischen Pöcking die Historikerin Marita Krauss und den Historiker Erich Kasberger beauftragt hat, eine Geschichte der Dörfer, die in der heutigen Gemeinde Pöcking zusammengeschlossen sind (Pöcking, Aschering, Maising), zu verfassen. Dabei stellt Pöcking durch seine Lage am Starnberger See mit seinen zahlreichen Villen ein besonders interessantes Forschungsobjekt dar. Denn auf Pöcking mit seinem ländlichen Charakter traf die städtische Kultur der Sommerfrischler und Villenbesitzer. Das bietet der Untersuchung analytische Kontrastierungsmöglichkeiten von großem heuristischen Wert.
Die Publikation beginnt mit der Vorstellung der kommunalen und NS-Funktionsträger in den Dörfern. Das Bild hierzu auf Seite 21 zeigt allerdings keine Fronleichnamsprozession, denn es fehlen die Monstranz in der Hand des Priesters und der Tragehimmel. Es folgt die Darstellung der „Machtergreifung“, was vor allem im Hinblick auf die Veränderung der kommunalpolitischen Strukturen von großem Interesse ist. Dabei wird deutlich, dass die tradierten dörflichen Strukturen nicht überwunden wurden. Vielmehr gingen diese eine mehr oder weniger funktionierende Symbiose mit den nationalsozialistischen Vorgaben ein. In einem Kapitel, das deutlich über die Gemeinde Pöcking hinausgreift, wird die Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Untergliederungen in Pöcking verglichen mit der durchschnittlichen Mitgliedschaft in den Dörfern des Altlandkreises Starnberg, der durchschnittlichen Mitgliedschaft in den evangelischen Dörfern des Altlandkreises Rothenburg ob der Tauber sowie derjenigen in zwei Vergleichsstädten (Augsburg und Kaufbeuren). Grundlage dafür stellen die Meldebögen zum Entnazifizierungsverfahren dar. Dabei kommen Krauss und Kasberger zu dem Ergebnis, dass es keine flächendeckende Erfassung der Landbevölkerung durch die NSDAP gegeben habe. Anschließend wird die Wirtschaftsgeschichte Pöckings im „Dritten Reich“ dargestellt, wobei die Landwirtschaft einen großen Raum einnimmt. Es folgt der Grad der Politisierung und die Instrumentalisierung dörflicher Konflikte sowie die Situation von Kirche und Schule. Dargestellt werden schließlich auch die konkreten Auswirkungen staatlicher Ausgrenzungsmaßnahmen vor Ort und der Umgang mit der im Dorf wohnenden jüdischen Bevölkerung. Dabei meint der Begriff der „anderen Dorfbewohner“ meist die zugezogenen, jedenfalls die nicht ländlich sozialisierten Bewohnerinnen und Bewohner der Villen, worunter sich Leute mit beachtlichen NS-Karrieren, aber auch dezidierte Gegner des Regimes befanden. Schließlich beschreiben Krauss und Kasberger die Zustände im Dorf während des Zweiten Weltkrieges und thematisieren auch das Schicksal von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Ein besonderes Kapitel widmet sich dem zum Gemeindegebiet von Pöcking gehörenden „Sisischloss“ in Possenhofen, das als Lazarett und Flüchtlingslager diente. Abschließend beschäftigen sich Krauss und Kasberger dann noch mit der Entnazifizierung.
Die Monografie ist reich bebildert, basiert auf einer breiten Quellengrundlage, betrachtet Pöcking aber nie isoliert. Krauss und Kasberger ist eine dichte Beschreibung der Dörfer Pöcking, Aschering und Maising im „Dritten Reich“ gelungen. Dabei hätte eine methodische Reflexion – etwa in Bezug auf das Konzept der Dichten Beschreibung – ein bisweilen allzu anekdotenhaftes und ausuferndes Erzählen in stringente(re) Bahnen gelenkt. Trotzdem zeigt die Monografie, wie wichtig es für die Kenntnis der Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands ist, auch den ländlichen Raum zu berücksichtigen. Dabei sind Krauss und Kasberger sehr darum bemüht, das Narrativ von der geringeren Empfänglichkeit der katholischen Landbevölkerung für den Nationalsozialismus zu reproduzieren. Das mag grundsätzlich auch richtig sein. Doch zeigt gerade die hier beschriebene bemerkenswerte Fülle an Posten und Pöstchen, die das „Dritte Reich“ auch auf dem Dorf zu vergeben hatte und die auch besetzt worden sind, eindrücklich, wie sehr der Nationalsozialismus auch das Dorf durchdringen wollte – wenn dies auch wegen der infrastrukturellen Schwierigkeiten nicht im gleichen Ausmaß gelang wie in den Städten. Deshalb wurden die Akzente in dieser Hinsicht allzu exkulpierend gesetzt.