Aktuelle Rezensionen
Timo Heimerdinger/Marion Näser-Lather (Hg.)
Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie
(Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde 29), Wien 2019, Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 294 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-900358-35-8Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020
Anfang November des Jahres 2017 fand in Innsbruck eine Tagung statt, die es definitiv in sich hatte, deren Beiträge mittlerweile in gedruckter Form vorliegen und denen man eine ausgesprochen lange Nachwirkungsphase wünschen möchte! Der übergeordneten Frage, wie man „nur dazu forschen“ könne, soll keineswegs folgen, dass Hilfestellungen geleistet werden, wie man/frau in theoretischer, methodischer, inhaltlicher und formal-organisatorischer Hinsicht bestimmte Forschungsthemen adäquater in den Griff bekommt. Im Gegenteil, es geht darum, den – auf 13 unterschiedliche Texte verteilten – Versuch zu unternehmen, „sich mit den Aussparungen, den abgewehrten, verschmähten, gemiedenen oder ausgegrenzten Themen zu befassen“. Anders gesagt: Die Tagung sollte „nach den Formen und Gründen des thematischen Naserümpfens fragen und dieses analysieren“. Dazu entwirft das Herausgeber-Duo Timo Heimerdinger und Marion Näser-Lather zu Beginn eine Typologie von insgesamt sechs Kategorien der negativen Themenpolitik, die ausführlich illustriert werden, nämlich, stichwortartig: Unergiebigkeit, Langeweile und Desinteresse, Nutzlosigkeit, Ekel, moralische Verwerflichkeit und methodische Unzugänglichkeit (11–13). Die einzelnen Beiträge sind dann drei Themenblöcken zugeordnet.
„Schauplätze“: Im Anschluss an den Einführungstext setzen sich Christine Bischoff und Cornelia Renggli mit fünf verschiedenen, aber durchaus vernetzten Orten kulturwissenschaftlich-themenpolitischer Aushandlungsprozesse auseinander, als da sind: Institute, Fachgesellschaften, Publikationen, Kooperationen sowie Fördergelder, was Silke Göttsch-Elten unter dem Gesichtspunkt von Exzellenzinitiative einerseits und der Entwicklung der sogenannten Kleinen Fächer vertieft.
„Zugänge“: Jens Wietschorke stellt Überlegungen zur Differenzierung von weiteren Kategorien an, die seit geraumer Zeit der Legitimation von Forschungsprojekten dienen, das Interessante und das Spannende versus das Uninteressante und das Nicht-Spannende. Er plädiert für die Beibehaltung des Relevanzkriteriums, denn dieses verfüge über eine „unabdingbare und produktive Funktion für die wissenschaftliche Arbeit: als Korrektiv und Horizont der Forschung sowie als ständiger Diskussionsimpuls“ (94). Mirko Uhlig erörtert verschiedene Reaktionsweisen forschender Persönlichkeiten gegenüber Forschungsgegenständen sowie Forschungspartner*innen, während Bernd Jürgen Warneken und ebenso Kaspar Maase die Wiederaufnahme vernachlässigter beziehungsweise verdrängter Themenbereiche und einschlägiger Fragestellungen in den eigenen disziplinären Forschungskanon anmahnen; im ersten Fall geht es darum, soziale Ungleichheit nicht nur in der Welt migrantischer, sondern auch in den Lebenssituationen nicht-migrantischer Unter- und Mittelschichten zu untersuchen, im zweiten Fall darum, verstärkt populärkulturelle Entwicklungen in den Blick zu nehmen, also ästhetische Bedürfnisse und Erfahrungen ernst zu nehmen. Stefan Groth liefert am Beispiel der Arbeitskulturenforschung einen übergreifenden Beitrag zur Bedeutung von Trends als Forschungsthema (Stichwort: kognitiver Kapitalismus), unter besonderer Berücksichtigung von Fragen der Relevanz und der Repräsentativität, was auch eine Diskussion des Verhältnisses unserer Disziplin zu quantitativen Forschungsansätzen mit sich bringt.
„Fälle“: Vier verschiedene Fallstudien aus der eigenen Forschungserfahrung liefern Karin Bürkert (Brauchforschung), Lydia Maria Arantes (Handarbeiten), Jonathan Roth (politische Themen) und Karl Braun (Aby Warburgs Ikonographie und volkskundlich-kulturwissenschaftliches Arbeiten). Die Herausgeber*innen runden den Band mit einer Zusammenfassung inklusive Ausblick ab, indem sie vier verschiedene, nicht unbedingt trennscharfe Dimensionen herausarbeiten, welche bei der Themenwahl in unserem fachlichen Kontext eine zentrale Rolle spielen sollten: die persönliche Dimension (Themenpräferenz), die gesellschaftspolitische beziehungsweise inhaltlich-programmatische Dimension (Themenrelevanz und Dringlichkeit), Fachhabitus und Zuschreibungen von außen und von innen (Themenkompetenz und Themenzuständigkeit), schließlich Themenresonanz (öffentliche Dimension).
Es fällt auf, dass der Band kritische, jedoch insgesamt recht behutsam argumentierende Beiträge versammelt. Das kann man durchaus positiv bewerten, allerdings liegt die Gefahr nahe, dass bestimmte Problematiken eher nicht angesprochen werden. Schon im Einführungstext der Herausgeber*innen fehlt zum Beispiel eine siebente Kategorie negativer Themenpolitik, nämlich die disziplinäre Konkurrenz, welche forschende und schreibende Akteur*innen einem enormen Druck aussetzen kann. Wenn ich allein an zwei Reaktionen auf mein einstiges „Angestelltenkultur“-Habilitationsprojekt denke (einerseits: dieses gehöre nicht in die Volkskunde, sondern in die Sozialgeschichte; andererseits: das Projekt gehöre eigentlich in den Bereich der sogenannten Interkulturellen Kommunikation), dann kann ich nur hoffen, dass Jonathan Roth beim Zustandekommen seiner Dissertation, einer ethnografischen Erkundung eines lokalen Parteibezirks, diesbezüglich weitgehend stressfrei arbeiten konnte: Er „wilderte“ nämlich unter anderem im „Hoheitsgebiet der Politikwissenschaft“ (221). Aber möglicherweise sind im Feld konkurrenzbetonter Handlungen noch gänzlich anders gelagerte Orientierungen am Wirken? Stefan Groth zitiert dazu den Politologen Frank Nullmeier, der sich mit der Bedeutung von „,Konformität, Positionssicherung und Besitzstandswahrung‘ […] ‚Ressentiment, Neid, Missgunst und Hass‘ oder ‚auch Wetteifer, Siegstreben, Ehrgeiz, Ehr-, Status- und Distinktionsstreben‘“ (170 f.) auseinandergesetzt hat. Derartige Gesichtspunkte werden in dem grundsätzlich verdienstvollen Tagungsband fast komplett ausgespart.