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Stefanie Mallon

Das Ordnen der Dinge. Aufräumen als soziale Praktik

Frankfurt am Main/New York 2018, Campus, 387 Seiten mit 3 Abbildungen, ISBN 978-3-593-50904-4
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020

Wieder ist eine Publikation zum übergeordneten Gegenstandsbereich und Problemfeld „Ordnung“ im Umfeld unserer Disziplin erschienen. Anders als verschiedenen einschlägigen Sammelbänden aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit geht es der hier anzuzeigenden Studie jedoch nicht etwa um Themen wie zum Beispiel die „Ordnung und Verortung ziviler Drohnen“ oder die „Regulierte Süße. Wie Zucker als Handels- und Konsumgut fortwährend geordnet wird“ oder „Die Vase der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts“ [1]. Im Gegenteil, die von der Universität Oldenburg preisgekrönte Dissertation von Stefanie Mallon, die mittlerweile als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie tätig ist, setzt sich mit einem ganzen Set von ausgesprochen alltagsnahen, vermeintlich vordergründigen, tatsächlich jedoch in höchstem Maße komplexen Vorgängen auseinander, eben dem Ordnen von Dingen, dies im Sinn der Tätigkeiten des Aufräumens. Im Zentrum des Interesses stehen angeeignete und erlernte Praktiken zum Erhalt beziehungsweise zur „Herstellung von physischer Ordnung im Wohnbereich“ (10). Alternativ ist die Rede von „physische[r] Ordnungspflege“ (13) und von „materieller häuslicher Ordnung“ (14). Der Komplex der dazugehörigen Vorgänge soll unter dem Gesichtspunkt erkundet werden, wie er als „soziale Praktik gouvernemental verwaltet wird“, wobei die zentrale Fragestellung lautet: „Welche gesellschaftlichen Mechanismen sind dabei wirksam, die Praktik des Aufräumens einzufordern und zu strukturieren?“ – und es wird das Ziel verfolgt, zur Sensibilisierung für diese scheinbar normal-alltägliche Praktik und den Umgang mit ihr beizutragen (12).

Hier liegt zweifellos eine wissenschaftliche Herausforderung; und Stefanie Mallon stellt sich die auf jeden Fall anspruchsvolle Aufgabe, einen Vorstoß in dieses weitgehend unerforschte Feld zu unternehmen und die Komplexität des Phänomens hinsichtlich seiner soziokulturellen, generationalen und genderspezifischen Bedingungen sowie der lebensweltlichen Bedeutungen für die Akteur*innen analytisch zu erfassen und empirisch zu fundieren.

Es geht in der Studie um eine Diskursanalyse, die ihre Fundierung durch die Auseinandersetzung der Autorin mit theoretischen Zugängen aus einer Vielzahl von kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, etwa von Andreas Anter, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Jean-Claude Kaufmann und Bruno Latour, ergänzt durch Auswertung der selbst durchgeführten leitfadengestützten Interviews mit insgesamt zehn Expert*innen für die Herstellung von Ordnung im jeweils eigenen Haushalt, die hier als „Alltagsakteur*innen“ bezeichnet werden (acht Frauen, zwei Männer, mehrheitlich mit Kindern zusammenlebend).

Die Studie ist so aufgebaut, dass einem umfangreichen einleitenden Kapitel (Problematisierung) fünf weitere, reich untergliederte Kapitel unterschiedlichen Umfangs folgen, die das Feld in fünf verschiedenen Perspektiven betrachten. Perspektive I liefert eine grundsätzliche Literaturanalyse zur Thematik des Wohnens und der normalisierten Ordnung. Perspektive II konzentriert sich auf private wie auch schulische Ordnungserziehung, unter anderem auch unter Bezug auf das Selbstregulations-Experiment Summerhill. Perspektive III untersucht das breite Spektrum der hygienebezogenen Ordnungspraktiken. Perspektive IV stellt einen kritischen Literaturbericht zur empirischen Erforschung von Unordnung dar. Und Perspektive V erkundet Möglichkeiten der themenaffinen Selbst-Bildung mittels Ratgeberliteratur. Die fünf Kapitel und manche der Unterkapitel werden durch Diskussionen abgerundet, die gesamte Studie durch ein umfangreiches Fazit- und Ausblick-Kapitel.

Stefanie Mallons Doktorarbeit sorgt dafür, dass wir nun mehr darüber wissen, in welcher Weise und mit welchen Veränderungen, wann, aus welchen Beweggründen, mit welchen Begleiterscheinungen und mit welchen Auswirkungen, mit welchen Bewertungen und welchen Bedeutungen sich der Umgang mit Ordnungspraktiken im privaten Raum gestaltet und wer die jeweiligen Akteur*innen sind. Wir erfahren näheres über die Charakteristika, die Chancen, Probleme und auch Grenzen der zur Debatte stehenden Prozesse. Die von der Autorin erstellte, stilistisch einwandfreie und mittels durchgängiger Regieanweisungspraxis übersichtlich strukturierte Analyse sorgt dafür, dass Klarheit darüber herrscht, mit welchen theoretischen, den Forschungskontexten mehrerer kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen entstammenden Ansätzen sich arbeiten lässt, wenn man im Bereich der Erforschung des Umgangs mit alltäglichem ordnungsbezogenen Handeln zu Erkenntnisfortschritt gelangen möchte. Denn eines deutet sich unmissverständlich an: Die Thematik der Alltagsordnungen wird uns weiterhin beschäftigen (müssen), gleich ob es um die Praxisformen und sozio-kulturellen Referenzmilieus der neuerdings ihre Dienste anbietenden Ordnungs-Coaches geht oder gar um einschlägige interkulturelle Konflikte. Ein allerletztes: Was die praktizierte Methodik betrifft, so gilt es möglicherweise zu erkunden, ob nicht teilnehmende Beobachtung, vor allem im Gerd Spittlerʼschen Sinn als „dichte Teilnahme“ [2], zusätzliche erkenntnisfördernde Qualitäten mit sich bringen könnte.

Anmerkungen

[1] Vgl. Maximilian Jablonowski: Der Nomos des Vertikalen: Zur Ordnung und Verortung ziviler Drohnen. In: Stefan Groth u. Linda Martina Mülli (Hg.): Ordnungen in Alltag und Gesellschaft. Empirisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2019, S. 77–92; Kerstin Poehls: Regulierte Süße. Wie Zucker als Handels- und Konsumgut fortwährend geordnet wird. In: Ute Elisabeth Flieger, Barbara Krug-Richter u. Lars Winterberg (Hg.): Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde an der Universität des Saarlandes im September 2014 (Saarbrücker Beiträge zur Historischen Anthropologie 1). Münster/New York 2017, S. 93–109; Anne Feuchter-Schawelka: Die Vase der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts als Ausdruck des unterschiedlichen Bedürfniswandels Ost/West. In: Silke Göttsch-Elten u. Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Jena 2001. Münster u. a. 2003, S. 355–365.

[2] Gerd Spittler: Hirtenarbeit. Die Welt der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen von Timia. Köln 1998, S. 55–74.