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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Peter Czoik/Nastasja S. Dresler (Hg.)

50 Jahre ’68. „Blumenkinder“ und „Revoluzzer“ in Kunst, Literatur und Medien des 20. Jahrhunderts

(Film – Medium – Diskurs 107), Würzburg 2020, Königshausen & Neumann, 513 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8260-6798-3
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.08.2020

Anzuzeigen ist ein Band, der zwei Jahre nach dem „Jubiläumsjahr“ der „Jugendrevolte“ bzw. „Studentenrevolte“ eine Form von Bilanz ziehen möchte, dies mit der Zielsetzung, zu erkunden, „in welchem Umfang der Geist der Revolte aus heutiger Perspektive in die Kulturproduktion der 1960er- und 1970er-Jahre eingegangen ist“ – auch „unter welchen Voraussetzungen die ‚Kulturbewegung‘ zu ihrer Mythologisierung finden konnte“ (vii). Zu diesem Zweck hat das Herausgeber-Duo Peter Czoik und Nastasja S. Dresler 20 Artikel zusammengetragen, die in sechs thematischen Blöcken zur Präsentation kommen. Disziplinär gesehen, vertritt die Mehrheit der fünf Autorinnen und zwölf Autoren verschiedene Schwerpunkte in unterschiedlichen Literaturwissenschaften, daneben in der Kunstgeschichte, Geschichte, Philosophie, Politik- sowie Filmwissenschaft. Berufliches Handlungsfeld ist, wiederum mehrheitlich, die Universität, daneben das Verlags-, das Museums-, das Bibliotheks- und das Akademiewesen, auch der freiberufliche Journalismus sowie die Schriftstellerei.

Dem Vorwort folgt eine ausgesprochen umfangreiche Einführung von Nastasja S. Dresler, in der sie nicht nur eine kurze Chronik der Ereignisse rund um das Jahr 1968 liefert, sondern auch die verschiedenen Richtungen der gegenkulturellen Bewegung klärt; sie spricht von „Teilrevolutionen“ (in den Bereichen musikalischer Pop, Sexualität, Kleidungsmode) und betont die damals vorherrschende Inhomogenität (1). Das Free Speech Movement in Berkeley 1965 wird ebenso gestreift wie der sogenannte „Summer of Love“ in San Francisco 1967 oder der sogenannte Pariser Mai 1968, dies alles unter besonderem Bezug auf vorwiegend westdeutsche und auch europäische Entwicklungen. Dabei geht es speziell um die Veränderungen lebensideologischer, sozialer, geschlechtlicher, generationaler, künstlerischer, literarischer, filmischer, protestkultureller Provenienz, welche dann in den 1970er Jahren peu à peu weitere Veränderungen zur Folge hatten, nämlich eine Aufspaltung in, vereinfacht gesagt, drei verschiedene, wenn auch zum Teil sich überlappende Bewegungen: die Aussteiger*innen, die Reformer*innen und die Radikalen.

„Theoretische Annahmen“: Hier geht es um die Beziehungen zwischen der Studentenbewegung und den Vertretern der Kritischen Theorie, auch um die unterschiedlichen Konzepte dieser philosophischen Schule, zudem um das Verhältnis von antiautoritärem Aufbruch und selbst herbeigeführter Überforderung, schließlich um Probleme der Gewichtung zwischen der Verfolgung von politischen Idealen sowie der Durchsetzung von Interessen der Selbstverwirklichung. „Populär- und Gegenkultur“: Ein, gewissermaßen solitärer, Beitrag setzt sich mit den damaligen Gefühlen auf Seiten der Akteur*innen auseinander, während die anderen beiden Artikel sich Werken der Musik zuwenden, aus der Produktion von Bob Dylan beziehungsweise George Harrison. „Literatur“: Werke von Bernward Vesper und Rolf Dieter Brinkmann, Tom Wolfe und T.C. Boyle, Uwe Timm sowie Hermann Hesse werden in vier unterschiedlichen Texten unter spezieller Berücksichtigung des subjektiven Faktors untersucht, was in den nächsten beiden Themenblöcken in vergleichbarer Weise für die Bereiche „Bildende Kunst“ und „Film“ verfolgt wird. Das letzte Kapitel geht dann nochmals ins Grundsätzliche und Übergreifende und problematisiert kultur- sowie sozialgeschichtliche Perspektiven der ganzen Bewegung.

Im Vorwort des Sammelbandes wird darauf verwiesen, dass unter anderem „Produktion und Rezeption gesellschaftspolitischer Positionen der 68er“ (vii) untersucht werden sollen, im Untertitel des Bandes ist ausdrücklich von „Medien“ die Rede und in den verschiedenen Beiträgen geht es immer wieder um kulturindustrielle (Horkheimer/Adorno) oder bewusstseinsindustrielle (Enzensberger) Vermittlungen; dies führt zur Frage, warum die mittlere Phase dieses kulturellen Prozesses, die (nicht nur) materielle Distribution, in den verschiedenen Beiträgen nur eine ganz geringe Rolle spielt. Ohne Verlage bleibt das Manuskript in der Schublade liegen; ohne das Galerie- oder Museumswesen findet keine Kunstausstellung statt; ohne Kinos gibt es keine Filme zu betrachten. Gerade die sogenannten 68er haben doch vorgeführt, dass ihnen just diese Zusammenhänge vollkommen klar sind; man erinnere sich an die Proteste gegen die Presseprodukte des Verlagshauses Axel Springer und deren Verbreitung; man erinnere sich an alternative Neugründungen wie den Verlag Klaus Wagenbach. Zudem fällt es auf, dass das Medium der Fotografie völlig ignoriert wird. Das ist zu bedauern, denn es liegt seit dem Jahr 1998 ein umfangreicher, im Heidelberger Braus Verlag erschienener und vom britischen Historiker Eric Hobsbawm eingeleiteter Band vor, welcher das Schaffen der weltweit tätigen Fotoagentur Magnum vorführt. Sein Titel: „1968. Ein Jahr, das die Welt bewegt“. Und ein Letztes: Auf jeden Fall ist es verdienstvoll, dass die Autor*innen von vornherein davon ausgehen, dass die von ihnen unter verschiedenen Fragestellungen untersuchte Bewegung eine international(istisch)e Bewegung gewesen ist. Dennoch findet in den genaueren Betrachtungen vorwiegend eine Auseinandersetzung mit lediglich westdeutschen und nordamerikanischen gegenkulturellen Thematiken statt, während, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, französische Entwicklungen weitgehend reduziert werden auf die Mai-Revolte und die Aktivitäten von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Dabei ist ebendort bereits im Jahr 1970 der Roman „Derrière la vitre“ [Deutsch: Hinter Glas. Berlin 1974] von Robert Merle erschienen, der sich ausdrücklich mit, wie es im Original heißt, „la crise de Mai“ auseinandersetzt, dies unter Einbezug der Verhältnisse an der neuen Universität Paris X in Nanterre, welche im Zusammenhang mit der Revolte eine zentrale Rolle gespielt haben.