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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Tobias Becker/Isabel Gana Dresen (Hg.)

Sightseeing | Sightfleeing. Experimente ethnografischer Tourismusforschung

(Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, Sonderband 2), Münster/New York 2019, Waxmann, 123 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-8309-3987-0
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020

Den Ausgangspunkt für die hier zu besprechende Publikation stellt eine, wie wir das heutzutage nennen, Summer School am Freiburger Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie dar, bei der Teilnehmer_innen aus unserem Fach, aus Soziologie sowie Interkultureller Kommunikation, aus insgesamt sechs deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten, vier Tage lang eine gemeinsame Forschungspraxis erprobten, um sich multiperspektivisch an „Neujustierungen oder Reakzentuierungen“ (10) zu versuchen. Das im Untertitel des Bandes genannte „Experiment“ hat offensichtlich geklappt, sonst könnte der Rezensent das Buch nicht in der Hand halten.

Zunächst geht es um die notwendige Klärung des Begrifflichen, stellt doch „Sightfleeing“, im Gegensatz zu „Sightseeing“, einen Neologismus dar, welcher sich auf die Abwendung touristischer Akteure von den eingeführten und eingeschliffenen touristischen Programmatiken und Praktiken bezieht: „Die Kehrseite des ‚Pulls‘ des Sightseeings ist das ‚Push‘ des Sightfleeings. Zu dem kollektiven ‚Hin-zu‘ gesellt sich ein in massenhafter Individualität artikuliertes ‚Weg-von‘.“ (23) Es folgen 16 Beiträge, die sich abwechselnd und sinnvoll miteinander verschränkt mit a) bestimmten Facetten des Gegenstandsbereichs, b) der Methodik und c) der Quellenkunde ausgesprochen kritisch auseinandersetzen. Konkret geht es a) um städtisches Tourismusmarketing, das Schreiben und Versenden von Ansichtskarten, Graffiti im Stadtraum als gewissermaßen alternative oder oppositionelle Sehenswürdigkeiten, Abenteuerrucksäcke sowie um touristische Blicke auf die Umwelt; b) um das Auffinden eines Forschungsfeldes, die nähere Bestimmung von Themenfeldern, das Fotografieren als touristische Praxis, die adäquate Vermittlung von Wissen, den spielerischen Umgang im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung sowie um Typologisierungen und Kategorisierungen; c) um Freizeit als gesellschaftliches Problem, Macht und Moral im Forschungsprozess sowie um Beschwerdepraktiken auf Seiten der Reisenden.

Die Texte sind durchgängig flott, bisweilen augenzwinkernd und auch ein wenig verspielt geschrieben; die Autor_innen gehen jedoch nicht in die Falle der von Orvar Löfgren in seinem Buch „On Holiday. A History of Vacationing“ (Berkeley u. a. 1999, 5) dekonstruierten vermeintlichen „lightweight airiness“ des touristischen Milieus. Dazu sind sie viel zu anspruchsvoll ausgerichtet. Der reichlich mit Bildmaterial ausgestattete Band bringt gegen Ende noch ein kurzes Kapitel, welches übersehene und ungeliebte Themen anspricht: „Was fehlt?“ (113). Im Übrigen hat die Summer School keineswegs nur den Sonderband mit eigenen Texten erarbeitet, sondern auch einen Kurzfilm, einen Blog sowie eine Abschlusspräsentation mit „graphischen, bildlichen und schriftlichen Elementen“ (94), was das ganze Projekt umso vielseitiger, kreativer und somit positiver erscheinen lässt. Ein letztes: Über gelegentliche Druckfehler kann man flexibel hinwegsehen, nicht aber über den falsch formulierten Hashtag „#sea“ (87), der „#lake“ heißen müsste, da es sich beim Titisee um ein Binnengewässer handelt und nicht um ein Meer. Nichts für ungut!