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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Bernd Wegner

Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940–1944

Paderborn 2019, Ferdinand Schöningh, XI, 259 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-506-78055-3
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2020

Wer hat nicht aus väterlichem oder großväterlichem Mund Berichte vom sogenannten Frankreich-Feldzug gehört? Wer hat nicht daheim in irgendeiner Truhe Michelin-Landkarten aus den Jahren 1940 oder 1942 gefunden, Fotopostkarten von französischen Landschaften oder Städten, von Kirchen und weiteren Baudenkmälern, sowie sonstige Erinnerungsgegenstände? Und wer hat sich etwa nach Lektüre von Romanen von Michael Wallner und Pierre Assouline oder nach dem Anschauen des Spielfilms „Diplomatie“ von Volker Schlöndorff nicht gefragt, wie sich eigentlich das Leben der deutschen Besatzungsmacht während der Zeit der Okkupation Frankreichs zwischen 1940 und 1944 abgespielt hat? [1] Nun, mittlerweile kann man eintauchen in diese spezielle Erfahrungswelt, dank Bernd Wegner, emeritierter Historiker an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität, der sich am Beispiel der französischen Hauptstadt mit dem „Blick“ der Akteure auf Alltag und Kultur ebendort kritisch auseinander setzt, mit deren Reaktionen auf die Stadt, mit der Bedeutung, welche der „Mythos Paris“ für sie besaß, sowie mit der Art und Weise, wie sie ihr eigenes Leben in der vorübergehenden Fremde gestalteten. Der Studie, einer kompakten „dokumentarischen Collage“, geht es im Wesentlichen nicht um „die Verhältnisse in Paris“, sondern um den subjektiv-individuellen „Blick auf sie“ (X f.).

Als Quellen dienten dem Autor Feldpostkarten, Tagebücher, gleich ob bereits publiziert oder lediglich in inländischen und ausländischen Archiven (in Frankreich, England, USA und Russland) gesammelt, Gesprächsprotokolle (aus von britischen und amerikanischen Stellen abgehörten Unterhaltungen deutscher Kriegsgefangener aller Dienstgrade), unterschiedliche Akten vorgesetzter Dienststellen und Kommandobehörden sowie, schließlich, knapp 40 Abbildungen, Fotografien ohne „eigenen Beweiswert“, also weitgehend illustrativen Charakters (XI).

Die Darlegungen des Autors sind in 19 Kapitel eingeteilt, in deren Verlauf die folgenden Themen, unterstützt durch zahlreiche Zitate aus den verschiedenen Ego-Dokumenten, behandelt werden: militärische Vorgänge (der Fall von Paris am 14. Juni 1940, der Einzug deutscher Truppen, Waffenstillstand, Landung der alliierten Truppen, Luftangriffe, Hitlers Zerstörungsvisionen und der Ungehorsam der Truppen an Ort und Stelle, Übergabe der Stadt an die Alliierten); politische Vorgänge (Kurzbesuche und Besichtigungsprogramme von Hitler, Himmler und Goebbels); infrastrukturelle Vorgänge (Öffentlicher Nahverkehr, Wechselkurs, Schwarzmarkt); rechtliche Vorgänge (Übergriffe und weitere Rechtsbrüche wie die Ausplünderung von Kunst- und Antiquitätenläden, Zensur); Alltagsleben der Einheimischen (vorübergehende Massenflucht, Wohnverhältnisse, Ernährung, Dienstleistungen für Besatzer); Alltagsleben der Besatzer (Ernährung, Wohnverhältnisse, Freizeitaktivitäten vom Sport über das breite Spektrum vergnügungskulturellen Lebens bis hin zur Erkundung der abendländischen Baukunst); interkulturelle Begegnungen (Kontakte, Geschäftsbeziehungen, Verhältnis von Freundlichkeit und Heuchelei im Umgang miteinander, private Beziehungen, Prostitution und Moral, Sprachprobleme, Verhältnis zu afrikanischen und jüdischen Franzosen, Rassismus, nicht zuletzt Desertion sowie Aktivitäten der Résistance).

Wir haben es bei der Okkupation von Paris mit einer Vielzahl von Widersprüchlichkeiten zu tun: Da gab es etwa deutsche Offiziere, die mit einer einheimischen Partnerin zusammenwohnten; im Nachtleben herrschte eine weit größere Liberalität als daheim; auch wenn das Verhältnis der beiden Seiten sich als das Verhältnis von Ausbeutern und Ausgebeuteten beschreiben lässt, so gab es gleichzeitig zum eigentlichen Okkupationsgeschehen eine Begeisterung für die französische Hauptstadt auf Seiten der Besatzer. Diese Beobachtung kann jedoch nicht verallgemeinert werden, auch wenn im Laufe der Zeit ausbleibende „Touristenströme aus aller Welt durch die Anwesenheit deutscher Kriegstouristen kompensiert werden“ konnten, wie der Autor formuliert (109). In diesem Zusammenhang gelingt es ihm, und das dürfte für die weitere Debatte in sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen, welche sich mit Fragen des (Massen-)Tourismus befassen, von zentraler Relevanz sein, eine Typologie von Akteuren aus dem Kreis der Okkupanten mit je unterschiedlichem Selbstverständnis und je unterschiedlicher Haltung zu entwickeln. Es sind dies der grundsätzlich desinteressierte „Landser“; der sogenannte „Kriegstourist“, den das übliche Besichtigungsprogramm interessiert und der später noch einmal zurückkommen möchte; der „Abenteurer“, der Außergewöhnliches erleben möchte; der frankophile „Bildungsbürger“, der die Stadt regelrecht studiert, ja geradezu kennt; schließlich der „Flaneur“, der sich eher treiben lässt, der Beobachtungen anstellt und Eindrücke sammelt (198 f.). Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Herangehensweisen an die Stadt Paris lässt sich ein beachtenswertes Resümee ziehen; danach „blieb für Viele die Erfahrung von Paris unvergesslich. Für einen kürzeren oder längeren Augenblick öffnete sich ihnen die Tür zu einer Welt, die es nach nationalsozialistischen Vorstellungen so nicht mehr geben sollte.“ (209)

Einige wenige Kritikpunkte seien genannt: Begriffe wie „Schmelztiegel fremder Rassen“ (39), „Wehrmachtghetto von Paris“ (60) sowie „Volkskörper“ (197), alle ohne Anführungszeichen gebracht, darf man gut und gerne ersetzen. Zum Untertitel ist zu bemerken, dass der „Blick“ generell, aber auch unter besonderer Berücksichtigung touristischer Aktivitäten, zum Gegenstand theoretischer Überlegungen geworden ist, was hier leider nicht auftaucht [2]. Insgesamt jedoch ist Bernd Wegners wohl formulierte Studie ausgesprochen positiv zu bewerten, weil sie ein lange Zeit vernachlässigtes Thema plausibel, eindrucksvoll und anschaulich bearbeitet und, darüber hinaus, zu weiteren Forschungen einlädt, etwa zur Frage, was von diesem militärisch bedingten Unterwegssein eigentlich, über die ausgewerteten Quellen hinausreichend, übrig geblieben ist; welche Reisefolgen sich ausmachen lassen; wie das „Danach“ ausgesehen hat.

Anmerkungen

[1] Michael Wallner: April in Paris. Roman. München 2007; Pierre Assouline: Lutetias Geheimnisse. Roman. München 2006; Volker Schlöndorff: Diplomatie. F/D 2014.

[2] Zum Beispiel John Urry: The Tourist Gaze. London 22002; Hasso Spode: Der Blick des Post-Touristen. Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung. In: Ders. u. Irene Ziehe (Hg.): Gebuchte Gefühle. München/Wien 2005, S. 135–161.