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Aktuelle Rezensionen


Ulrich Hägele (Hg.)

Heinz Pietsch. Fotografien 1950‒1989. Katalog zur Ausstellung des Kreisarchivs Tübingen und des Instituts für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen

Tübingen 2019, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 129 Seiten mit zahlreichen Farbabbildungen, ISBN 978-3-947227-00-6
Rezensiert von Eva Lüthi
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020

Der Fotoband ist, zusammen mit einer Ausstellung, das Ergebnis einer praxisorientierten Lehrveranstaltung von Ulrich Hägele. Er ist im Rahmen eines Kooperationsprojekts des Masterstudiengangs Medienwissenschaft an der Universität Tübingen zusammen mit dem Leiter des Tübinger Kreisarchivs, Wolfgang Sannwald, entstanden. Sichtbar gemacht wird eine alltagsfotografische Trouvaille, der riesige analoge Fotonachlass von Heinz Pietsch, den das Archiv des Landkreises Tübingen im Jahr 2001 übernommen hat. Im Vorwort umreißt der Fotonachlassverwalter, Wolfgang Sannwald, die Bedeutung des Bildbestandes aus 110 000 Dias von Heinz Pietsch, der den „hautnahen Alltag der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik“ (7) aufzeigt, und er weist auf die Möglichkeit hin, künftige Nutzer*innen für den Sammlungsbestand zu gewinnen: Vorliegendes Projekt bildet den wissenschaftlichen Auftakt, die Fotografien als kulturgeschichtliche Zeugnisse zu veröffentlichen. Entstanden ist ein stimmiger quadratischer Band aus ca. 165 Farbfotografien auf 128 Seiten.

Dem Katalog vorangestellt, führt Ulrich Hägele die Betrachter*innen auf die Besonderheiten der Sammlung hin. Knapp 50 Jahre lang fotografierte Heinz Pietsch intensiv. Er führte seit seinem sechzehnten Lebensjahr, von 1942 bis zu seinem Tod 1989, ein visuelles Tagebuch. Seine Kamera hatte er jederzeit dabei und fotografierte den Alltag zu einer Zeit, als die alltägliche Praxis des Fotografierens und der Blick auf den Alltag – gerade im Unterschied zu heutigen Praxen – noch ungewohnt und kostspielig waren. Heinz Pietsch knipste aber nicht nur einfach, er führte auch sorgfältig Buch über seine farbigen Diapositive. Er schrieb in Schulhefte „wann und wo er welches Motiv aufnahm, um welche Uhrzeit, mit welcher Kamera und mit welchem Film“ (7). Damit bietet die Fotosammlung den Forscher*innen optimale Voraussetzungen, die Bilder zeithistorisch korrekt zu kontextualisieren.

Der Herausgeber setzt als Experte für Alltagsfotografien die analoge Bildpraxis der digitalen gegenüber, er verknüpft die Bilder mit der Biografie des Tübinger Lehrers und Hobbyfotografen Heinz Pietsch und verortet sie zeithistorisch. Sensorisch mit dem „Klick, Klick“ greift Hägele aus der Dichte an eingefangenen Alltagsbildern ihre Eigenart auf. So fotografierte Pietsch den offenen Kofferraum seines Autos nach dem Großeinkauf (60) oder, wie ich genauer ausführe, seine sportlich-elegant gekleidete Ehefrau auf dem Sofa unter einer aufgeblasenen Trockenhaube, mit Aschenbecher und Zigaretten auf dem Tisch, ein Buch lesend, neben ihr am Sofaende sitzend eine Katze auf gestrickter Flickendecke, die sich putzt (28). Diese Verweilsituation zuhause, gerahmt von bürgerlichem Interieur, hat Pietsch in einer spannenden Perspektive 1973 aufgenommen und erzählt. Im Katalog veröffentlicht werden auch die von ihm unterrichteten Schulklassen in Stockach (41), die er mit der Kamera eingefangen hat, seine Ablichtungen von Fernsehsendungen, von ihm Gesammeltes wie seine Lottoscheine seit der ersten Ziehung (58). Pietsch drapierte die materielle Kultur seines Alltags offenbar täglich zu kleinen Bildwerken, porträtierte sich manchmal selbst (dazu) (93). Er inspizierte mit der Kamera Beobachtetes von ganz nah, wie einen Gummiknoten am Vogelkäfig (72). Der Katalog zeigt Bilder, die sich die Rezensionsleser*innen eher ansehen müssten, als sie beschreibend, sprachlich transformiert, wahrzunehmen.

Der Ausstellungskatalog ordnet die Fotos anhand von fünf Motivgruppen: Familie, Ritual und Feste, Pop Art, Mobilität und Stadt. Nach der Sichtung der Fotosammlung respektive einer Vorauswahl an fünfhundert Dias wurden die Fotos nach ikonografisch-phänomenologischen Aspekten ausgewählt (14). Genauere Angaben zur Bildauswahl, zum methodischen Vorgehen und der gewählten Repräsentation suchen Fotoforschende vergebens. Die fünf Bilderthemen haben jeweils fünf Studierende aufgearbeitet und zu jeweils einem Kapitel zusammengestellt: Einladend mit grossformatiger Fotografie und einseitigem Einführungstext sind nachfolgend, grafisch gelungen, die Einzelbilder zur gewählten Bildthematik zu sehen. Die jeweiligen Bildangaben des Fotografen haben die Studierenden in den Legenden häufig mit sorgfältig recherchierten Zusatzinformationen zum Abgebildeten, seltener mit Interpretationsangeboten oder Angaben zur Fotopraxis, angereichert. Die Abbildungen wurden digital vermutlich wenig bearbeitet: Fusel und Kratzer auf dem Fotomaterial wurden nicht ausgefleckt, und seine Farbigkeit veranschaulicht die Überlieferung. Den beiden Themen Pop Art und Stadt werden im Katalog etwas mehr Platz für Bilder (24 bzw. 28 Seiten) eingeräumt. Die Studierenden nehmen sich zurück; sie werden erst im Anschluss an den Katalog namentlich aufgeführt. Daraus wird ersichtlich, dass sie, nebst den Themenbearbeitungen, auch in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Aufbereitung eines Interviewvideos mit Angehörigen, der Erstellung von Homepage und Einbettung ihres Projekts in die sozialen Medien sowie in die eigentliche Ausstellungs- und Katalogproduktion eingebunden waren.

Der Band bietet Zugänge zur Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit und das Projekt hat unter Hägeles Leitung bestimmt wesentliche Themenfelder der Sammlung eines Hobbyfotografen herausgearbeitet. Als Dokumentierung von Realität werden die Bilder zusätzlich über Interviews fachkundig gerahmt. Erklärungsversuche zur Motivation der exzessiven Fotopraxis von Pietsch werden angestoßen, Deutungsansätze sind leider spärlich. Gerade wenn der Herausgeber für Pietsch das Argument verwendet, dass er wohl fotografiert habe, wenn ihm die Sprache fehlte (13), er also Fotografie als Kommunikationsmittel nutzte, dann ist die Kommunikation mit Bildern und ihre medienspezifische Erforschung verstärkt zu thematisieren; gerade, weil Fotos mehrdeutig sind.

Auf der Suche nach Interpretationsangeboten des Gezeigten ist die Zuordnung zur Gruppe Pop Art ein erkenntnisgewinnender Anker. Die teils sehr expressiven, ungewöhnlich belichteten, sorgfältig positionierten Gegenstände und Inszenierungen des Alltags von Pietsch diskutieren die Studierenden im Sinne von Blickregimen und Blickkulturen. Der von Pietsch mit der Kamera ins Visier genommene Mercedesstern (91) unter der Motivkategorie Mobilität oder die wiederkehrenden Aufreihungen der Weihnachtsgeschenke (43 ff.) unter der Motivkategorie Rituale und Feste ließen sich ebenso der Stilrichtung Pop Art zuordnen. Sie bringen das gewählte Ordnungsprinzip ins Wanken. Debattierten die Forschenden über eine Analysenkategorie Medien (als Bildinhalt und Erzählform) – ausgelöst durch die fotografierten Motive wie Fernsehsendungen, Plakatwände, Geld, Osterschmuck u. a. m.? Für eine Fotoforschung fehlen knappe kulturwissenschaftliche Basisinformationen zur Bildauswahl (weshalb fehlten beispielsweise Pietschs erste Bilder der 1940er Jahre), zum Verständnis gewählter Motivgruppen und zu ihrer Repräsentation. Nach welchen Überlegungen haben die Bildforscher*innen ihre nicht chronologisch gereihten Einzelbilder zu neuen Kapiteleinheiten zusammengestellt? Es ist bedauerlich, dass die Erkenntnisgewinne aus der Fotografie als eingesetztem Medium zu wenig ausgearbeitet vorliegen.

Im Stadtkapitel, das mich visuell am wenigsten eingenommen hat, haben die ortskundigen Studierenden jedoch medienspezifisch auf Pietschs Stadtansichten reagiert. Sie setzten vereinzelt zu den Stadtbildern von Pietsch ihre eigenen gegenwärtigen Fotos dazu. Eine Vorher-Nachher-Dokumentation würde zwar aus kulturwissenschaftlicher Sicht eine (selbst-)reflexive Einbettung des Vorgehens brauchen; sie reagiert aber mit einem nichtsprachlichen Interpretationsangebot. Ein solches haben Studierende auch in einem früheren Praxisprojekt von Ulrich Hägele über die Fotografien von Botho Walldorf (Alltag auf der Alb. Stuttgart 2018) erprobt. Hägele weist in der Einleitung zu Pietsch explizit auf die alltagskulturell vergleichbaren Bilder der beiden Fotografen hin (13). Mir erscheint gerade ein vertiefter Vergleich zur Verortung der kulturwissenschaftlich wenig erforschten Sammlung von Pietsch erkenntnisgewinnend. So sticht die subjektive Nachverfolgung des Alltags aus Pietschs Leben heraus, sein „poetischer Zugang“ zu seiner Lebenswelt, seine stille Lebensfreude, die sich mir in den Abbildungen zeigt. Pietschs sehr subjektiven Zugang und damit seinen Wunsch, der Welt etwas zeigen zu wollen oder auch zu müssen, zu analysieren, scheint mir äußerst ergiebig und bietet spannende Anschlüsse zu einer fotoethnografischen Forschung aus heutiger Sicht.

Ulrich Hägele praktiziert mit dem Projekt eine kulturhistorische Bildforschung für die breite Öffentlichkeit. Im Katalog wird ein Teil des analogen Fotoarchivs dem Publikum im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses der materiellen Kultur und des bürgerlichen Lebens der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit gezeigt. Das ästhetisch gelungene Bilderbuch, das man sehr gerne in der Hand hat und auch verschenkt, lädt dazu ein, mit den Bildern still für sich in eine nahe und doch schon vergangene Zeit und Lebenswelt genüsslich zu versinken. Im Unterschied zu den damalig vorherrschenden (Spiel-)filmen ermöglicht der Katalog am einzelnen Bild hängen zu bleiben und es ausgiebig zu erforschen. Die Ausstellung dazu wurde im Sommer 2019 im Tübinger Landratsamt gezeigt und es bleibt zu hoffen, dass sie noch weitere Orte bespielen wird. Das Gesamtsetting, zu dem auch der Katalog gehört, erhält vor dem Hintergrund einer praxisorientierten Lehrveranstaltung sehr große Anerkennung und sollte anregen, dass im Glücksfund der Sammlung Pietsch oder weiteren Fotobeständen vermehrt geforscht und visuelle Alltagskultur Interessierten zugänglich gemacht wird. Ich freue mich auf weitere Fotoethnografien, welche die Öffentlichkeit auch methodisch und methodologisch für die visuelle Alltagskultur sensibilisieren und sie forschend mitnehmen.