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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Ballenberg, Freilichtmuseum der Schweiz (Hg.)/Beatrice Tobler (Red.)

Ballenberg. Sichtweisen auf das Freilichtmuseum der Schweiz

Bern 2019, Haupt, 197 Seiten mit Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-258-08094-9
Rezensiert von Herbert May
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020

2018 feierte das Freilichtmuseum Ballenberg gleich in zweifacher Hinsicht Geburtstag: Vor einem halben Jahrhundert wurde die Stiftung für das erste Freilichtmuseum der Schweiz ins Leben gerufen und vor 40 Jahren, im Mai 1978, startete im Berner Oberland der Museumsbetrieb. Im Unterschied zur dezentralen Struktur der Freilichtmuseen in Deutschland hat das Freilichtmuseum Ballenberg den Charakter eines Nationalmuseums, das sich für die Vermittlung der ländlichen Kultur in der gesamten Schweiz zuständig fühlt. In den Jahrzehnten seines Bestehens hat sich „der Ballenberg“ zu einem Schwergewicht unter den europäischen Freilichtmuseen entwickelt – mit über 10 Millionen Besucher*innen seit 1978 und mittlerweile 109 wiederaufgebauten Gebäuden vom 14. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert auf dem 66 Hektar großen Museumsgelände.

Aus Anlass des Doppel-Jubiläums ist eine Festschrift ganz besonderer Art entstanden, die aus drei Teilen besteht. Im ersten Teil sind die beim Festakt am 26. Mai 2018 gehaltenen fünf Jubiläumsansprachen wiedergegeben, darunter die zweifellos originellste Ansprache des Schauspielers Hanspeter Müller-Drossaart, der in einer fiktiven Festrede zum 100-jährigen Jubiläum 2068 ironisierend der totalen Kommerzialisierung des Freilichtmuseums das Wort redet und Vollzug meldet mit dem erfolgreichen „Aufpimpen“ des „sentimentalen Geranium-Schindeldach-Holzhäuschen-Haufen[s] […] mit dem kitschigen Namen Ballenberg zum heutigen Swiss Ball Mountain Valley“, geprägt von bunten Sponsoring-Labels sowie Rolltreppen und Laufbändern, um der „vorwiegend asiatischen Kundschaft“ das „mühselige Laufen zwischen den Eventplätzen“ nicht zumuten zu müssen (27)!

Ernsthafter geht es dann in den Beiträgen des zweiten Teils zu, in dem „Außenansichten“ von Autor*innen außerhalb des Ballenberg auf das Freilichtmuseum der Schweiz festgehalten sind. In allen sieben Beiträgen dieses Teils spielt die Baukultur, die ländliche Architektur und damit das Kerngeschäft eines jeden Freilichtmuseums die zentrale Rolle – bei beachtlicher Bandbreite der Perspektiven. Der Blick geht einerseits zurück auf die historische Baukultur, bleibt andererseits aber auch im Hier und Jetzt und richtet sich in die Zukunft. Benno Furrer betrachtet zwei bautypologische „Geschwister“ von Gebäuden (ein Wohnhaus und eine Sennhütte), die zum Ballenberg transloziert worden sind, und ordnet sie bauhistorisch ein. Patrick Schoeck thematisiert ein Dilemma, das Freilichtmuseen schnell einholen kann: zur Entsorgungsstation ungeliebter historischer Gebäude zu werden. Dabei führt er das prominente Beispiel des ältesten Holzhauses Europas an, das 1176 erbaute Haus Nideröst, welches der Kanton Schwyz dem Museum anbot und das dort nicht angenommen wurde, weil bereits ein bautypologisch ähnlicher Blockbau auf dem Museumsgelände steht. Martina Schretzenmayr beschäftigt die Frage, wie es denn um die ehemaligen Standorte der ins Freilichtmuseum translozierten Gebäude steht, was dort nach dem Umzug des alten Gebäudes entstanden ist. Die Ergebnisse sind in baukultureller Hinsicht überwiegend wenig erfreulich. Teilweise kann man die alten Standorte der Gebäude aber auch gar nicht mehr exakt verorten, wenn es dort zum Bau von Schnellstraßen und Eisenbahntrassen kam. Erstaunlich und nicht ganz nachvollziehbar, dass an zwei Orten weitgehende Kopien der translozierten Gebäude errichtet wurden. Man fragt sich etwas fassungslos, warum die Originale denn dann überhaupt verschwinden mussten. Mit großer Achtsamkeit vor dem Standort und den vorgefundenen Gebäuden hat der Architekt Gion A. Caminada 2009/2010 ein neues Verwaltungsgebäude am Ballenberg errichtet. Im Beitrag beschreibt er den Prozess des Hinfindens zur gebauten Wirklichkeit, zu dem aus vorgefertigten hochisolierenden Holzelementen errichteten und mit regionalen Fichtenholzbrettern verkleideten Neubau. Ein wegweisendes, zukunftsgerichtetes Projekt ist Thema des Beitrags von Jens Scheller. Es geht um die Frage nach den grundsätzlichen Aufgaben eines Freilichtmuseums. Und hier hat man am Ballenberg in der Denkmalvermittlung als erstes europäisches Freilichtmuseum bereits 2007 gänzlich neue Wege beschritten, indem das aus dem 16. Jahrhundert stammende und schon länger auf dem Museumsgelände wiederaufgebaute Haus Matten mit dem Wohnkomfort des 21. Jahrhunderts ausgestattet wurde (inkl. moderner Einbauküche). Die Botschaft ist eindeutig: In einem alten Wohnhaus lässt sich gut, komfortabel und mit zeitgemäßem Wohnstandard leben. Scheller vergleicht das Haus Matten mit einem ähnlichen, bald fertiggestellten Projekt („Muster“-Haus aus Radheim) im Freilichtmuseum Hessenpark, dessen Leiter er ist. Der denkmalpflegerische und denkmalpädagogische Ansatz ist eine der vordringlichsten Aufgaben der Freilichtmuseen. Damit wirken die Freilichtmuseen in die Gesellschaft hinein: Es ist ein Signal, nicht nur Reservat bedrohter Häuser sein zu wollen, sondern sich offensiv und produktiv dafür einzusetzen, Gebäude am alten Standort zu erhalten.

Einen ganz anderen, unterhaltsamen Charakter hat der „Gangwärch über den Ballenberg“: Köbi Gantenbein nimmt Hans Weiss mit auf den Weg durch das Freilichtmuseum und sie reden über den Vater und Hausforscher Richard Weiss (1907–1962), was dieser, der die Museumsgründung nicht mehr erleben durfte, heute über das Museum und seine Häuser denken und fühlen würde.

Im dritten Teil des Bandes stehen „Auseinandersetzungen im Jubiläumsjahr“ im Mittelpunkt. Es sind zehn Beiträge zu Veranstaltungen, Happenings, Kunstaktionen etc., die 2018 aus Anlass des doppelten Jubiläums stattgefunden haben. Die Aktionen lassen an Einfallsreichtum nichts zu wünschen übrig. So ist beispielsweise Annette Marti dem „Ballenberg-Klang auf der Spur“ und berichtet über den Berner Schlagzeuger Julian Sartorius, den die Frage beschäftigt, wie eine Landschaft tönt. Er trommelt an Türen verschiedener Museumshäuser auf dem Ballenberg, schafft ein Zusammenspiel von Trommeln und Quietschen der Türen und lässt auf diese Weise das Gesamtkunstwerk einer tönenden Landschaft entstehen. Dem Rezensenten und Museumsmann kommen bei dem Gedanken einer „angetrommelten“ originalen Tür gleich konservatorische Bedenken, die aber in Anbetracht der auf diese Weise geschaffenen Klangwelten einfach mal hintenan zu stellen sind. Natürlich dürfen auch die Ballenberg-Tiere nicht fehlen, die wiederum von Annette Marti porträtiert werden. Den Erhalt bedrohter Nutztierrassen hat sich das Freilichtmuseum Ballenberg in besonderem Maße auf die Fahnen geschrieben. Mehr als 250 Tiere verbringen den Sommer im Museum, darunter eben auch alte und bedrohte Haustierrassen wie die Evolèner Rinderrasse, die noch in den 1990er Jahren kurz vor dem Aussterben war.

Auch beim Museumstheater gingen die Ballenberger voran: Seit 1991 inszeniert man hier ein großes, im Beitrag von Christian Sidler gewürdigtes Freilichttheater – 13 Jahre, bevor das Freilandtheater im Fränkischen Freilandmuseum Bad Windsheim, inspiriert vom Ballenberg, sein erstes Stück spielte. Die weiteren Beiträge des dritten Teils zeugen ebenfalls von einer unbändigen Lust und Kreativität, „den Ballenberg“ zu gestalten und zu „bespielen“, sei es durch die Präsentation des umfangreichen Programms im 1996 gegründeten Kurszentrum (Beitrag Adrian Knüsel), durch die Darstellung einer besucherorientierten Zusammenarbeit mit Menschen aus drei Schweizer Gemeinden (Susanne Kudorfer) oder durch den beachtenswerten Selbstversuch von Beatrice Tobler, wissenschaftliche Leiterin und stellvertretende Betriebsdirektorin am Ballenberg, die an einigen Tagen die Rolle tauschte und sich als – in der Produktion recht erfolgreiche – Vorführhandwerkerin an der „Museumsfront“ (179) den Besucher*innen stellte.

Eine außergewöhnliche Festschrift eines außergewöhnlichen Freilichtmuseums ist entstanden und man kann den ehemaligen und derzeitigen Macher*innen des Museums nur mit Nachdruck zu den Jubiläen gratulieren. Auch gestalterisch ist das Werk gelungen – mit einer Melange aus Zeichnungen von Roland Ryser und vielen, teils großformatigen Abbildungen, selbst die Haptik des verwendeten Papiers ist eine Wohltat. Einzig das Titelbild kommt behäbig und langweilig daher: Hier wird freilichtmuseale Idylle pur vermittelt, statt die vielen kreativen und visionären Potentiale des Buches nach außen zu spiegeln, da hätte es genügend Stoff gegeben. Der Buchrücken stimmt zumindest versöhnlich: Hier trommelt Julian Sartorius gegen eine schöne alte Rahmenfüllungstür.

Ein schaler Geschmack bleibt dennoch zurück, denn immer wieder liest man zwischen den Zeilen oder auch durchaus im Klartext, dass der Ballenberg offenbar ein Problem mit der Wertschätzung seitens der Politik hat, man spürt einen gewissen Rechtfertigungsdruck. So schreibt Köbi Gantenbein, dass der Ballenberg „keineswegs der erstarrte Ort [ist], wie ihn gerne jene Politiker, Besserwisserinnen und Wirtschaftschefs verhöhnen, die nie da waren“ (79). Und für den Stiftungsratspräsidenten und Politiker Peter Flück stimmt die Besucher*innenquote am Ballenberg nicht: Er erwartet „am liebsten 20 bis 30000 [Besucher] mehr als in den vergangenen zwei Jahren“ (17). Nun muss man wissen, dass sich das Freilichtmuseum Ballenberg – im Gegensatz zu den meisten anderen großen europäischen Freilichtmuseen – weitgehend aus eigenen Erträgen finanzieren muss, was die Erfolgsgeschichte umso beachtlicher macht. Und was allemal die Frage aufwirft, warum das so ist, warum ein derart ambitioniertes Freilichtmuseum, das die ländliche Kultur eines ganzen Landes vermittelt und damit ja gewissermaßen ein Landesmuseum ist, keinen stärkeren, sich auch finanziell niederschlagenden Rückhalt in der Politik des Landes hat. Die Hoffnung bleibt, dass diese Probleme in der nächsten Festschrift des Ballenberg kein Thema mehr sind.