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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Jan Borgmann/Monika Kania-Schütz (Hg.)

Eine neue Zeit. Die „Goldenen Zwanziger“ in Oberbayern

München 2019, Volk, 204 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-86222-307-7
Rezensiert von Wolfgang Jahn
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020

Die 1920er Jahre, die sogenannten „Goldenen Zwanziger“ als Phänomen der Großstädte, erleben derzeit eine Hochkonjunktur, sei es in aufwendigen Inszenierungen wie der TV-Produktion „Babylon Berlin“ oder in mehr oder weniger gequälten Vergleichen zu den beginnenden 2020ern. Umso erfreulicher ist es, dass der Band „Eine neue Zeit. Die ‚Goldenen Zwanziger‘ in Oberbayern“ des Freilichtmuseums Glentleiten den ländlichen Raum in den Blick nimmt. Der von Jan Borgmann und Monika Kania-Schütz herausgegebene Aufsatzband begleitet die höchst sehenswerte gleichnamige Ausstellung des Freilichtmuseums, zu der es, wie der ausstellungsaffine Rezensent bedauernd anmerkt, leider keinen Katalog gibt. Umso notwendiger ist der Begleitband, dessen Beiträge den Brüchen und Kontinuitäten dieses „langen Jahrzehnts“ nachspüren, an dessen Beginn 1918 ein verlorener Weltkrieg und eine Revolution standen und an dessen Ende die Heilsversprechen des Nationalsozialismus einen Weg aus der Krise vorgaukelten. Dieses Spannungsverhältnis beleuchtet der Beitrag von Martin Hille, der den Aufstieg des Nationalsozialismus im ländlichen Raum nachzeichnet. Als Folge des verlorenen Kriegs war eine zunehmende Radikalisierung auch der ländlichen Bevölkerung festzustellen. Der latent vorhandene Antisemitismus wurde in den Presseorganen, wie durch den Leitartikler Ludwig Thoma im „Miesbacher Anzeiger“, kräftig bestärkt. Trotz Antisemitismus, Antikapitalismus und Antisozialismus war die Anziehungskraft der NS-Bewegung im ländlich-katholischen Oberbayern in den ersten Jahren zunächst noch gering. Erst ein Strategiewechsel der Nationalsozialisten, verbunden mit einer Schwerpunktverlagerung der Propaganda auf das Land und dem Verzicht auf den „Radauantisemitismus“ in Verbindung mit der Agrar- und Wirtschaftskrise, brachte nach 1929 massiv ansteigende Wählerstimmen. Während die ältere Generation noch mit dem Bauernbund oder der Bayerischen Volkspartei sympathisierte, war die NS-Propagandaoffensive zielgruppenorientiert auf die Gewinnung der Stimmen der bäuerlichen Söhne, Dienstboten und Knechte gerichtet, wenn Adolf Hitler als „Jungbauer“ bezeichnet wurde. Mit dem Einsatz des neuen Mediums Rundfunk war auch eine große Reichweite auf dem Land garantiert. Aber auch in der nach dem Reichstagsbrand abgehaltenen Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte die NSDAP mit 43,9 % nicht die absolute Mehrheit.

Die Rolle der Einwohnerwehren, die vor allem in der Region Oberbayen aktiv waren, beleuchtet der Beitrag von Ulrike Claudia Hofmann. Ursprünglich zur Niederschlagung der Räterepublik aufgestellt, erreichten sie aufgrund staatlicher Förderung und Finanzierung, parteipolitischer Unterstützung und illegaler Bewaffnung durch die Reichswehr bis zu ihrer von den Alliierten 1921 erzwungenen Auflösung eine bedeutende Machtposition. Damit verbunden war auch eine Reihe von Verbrechen rechtsextremer Gruppen, die im zeitgenössischen Sprachgebrauch als „Fememorde“ bezeichnet wurden. Damit wurde die kaltblütige Ermordung von vermeintlichen Verrätern sprachlich beschönigt. Der Femeausschuss des Reichstags führt 1926 für Bayern sechs Morde bzw. Mordversuche auf, unter anderem an einem 19-jährigen Dienstmädchen, an einem ehemaligen Soldaten, einem Kellner, einem Studenten und an dem Landtagsabgeordneten der USPD Karl Gareis. Der bloße Verdacht, dass Informationen über die illegalen Waffenbestände der Einwohnerwehren an die Alliierten weitergegeben werden könnten, genügte für den Mordauftrag. Die Täter, geschützt durch ein Netzwerk aus Reichswehr, Einwohnerwehr und Polizei trafen auf Verständnis in Politik, Verwaltung und Justiz und in weiten Kreisen der Bevölkerung.

Johann Kirchinger beschreibt die zunehmende Intensivierung der Landwirtschaft nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die vor allem eine Steigerung der Familienarbeitskraft bedeutet habe, da die Mechanisierung und der propagierte Einsatz von Düngemitteln noch nicht flächendeckend vertreten gewesen seien. Diese Intensivierung der Produktion war politisch beabsichtigt, da die Versorgung der einheimischen Bevölkerung im Sinne der Autarkie sichergestellt werden sollte. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise führte dann die Überproduktion aufgrund der sinkenden Kaufkraft zu niedrigeren Preisen, die, letztlich vergeblich, mit gesteigerter Produktion aufgefangen werden sollten. Diese krisenhafte Situation führte zu einer Radikalisierung der bäuerlichen Bevölkerung, die sich in zunehmenden Stimmenzahlen für die NSDAP niederschlug. Hier stellt sich dem Rezensenten die Frage, wie stark der Einfluss der Agrarkrise, die ja in Verbindung mit der Weltwirtschaftskrise ein weit über Europa hinausgehendes Phänomen war, tatsächlich auf diesen Radikalisierungsprozess war. Länder wie Frankreich, Großbritannien oder die USA bewältigten die Krisenzeit ohne vergleichbare Hinwendung der ländlichen Bevölkerung zu rechtsextremistischen Parteien.

Mit Kleidung und Mode beschäftigt sich Gerlinde Bartenschlager, die am Beispiel der „taillenlosen und wadenlangen“ Kleidung der weiblichen ländlichen Bevölkerung zeigt, wie die Mode der 1920er Jahre den Frauen Selbstbewusstsein verliehen und die Emanzipation gefördert habe. Die propagierte Mode des neuen Frauentyps, jugendlich, sportlich und schlank, verzichtete auf ausladende Hüften, aufgebauschte Oberteile, eingeschnürte Taillen und hervorgehobene Busen. Inge Weid führt diesen Ansatz mit ihrer höchst lesenswerten Fallstudie zum Modebewusstsein in „einfachen Verhältnissen“ fort. Anhand eines Fotobestands aus dem Archiv des Freilichtmuseums Glentleiten rekonstruiert sie das Kleidungsverhalten von zwei Schwestern aus dem Rupertiwinkel, die zu Beginn der 1920er Jahre als Mägde auf Bauernhöfen beschäftigt waren. Trotz wahrscheinlich geringster finanzieller Mittel hätten sich die Mädchen von den typischen Kleidungsstücken der Region gelöst. Das Streben war auf die Übernahme der städtischen Mode gerichtet, die „zum Signet für die Neuerungen innerhalb der Gesellschaft“ geworden sei. Im Gegensatz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als die Kleidung auf den ersten Blick eine soziale Einordnung ermöglichte, beförderte eine schichtenübergreifende Mode den Demokratisierungsprozess. Niklas Hertwig erzählt die Geschichte des Pioniers von Schulfilmvorführungen Max von Allweyer und zeigt dabei, wie der Kinofilm als eines der modernsten Medien des Jahrzehnts als Unterrichtsmittel nur mühsam Zugang zu den ländlichen Volksschulen fand. Richard Winkler konstatiert in seinem Beitrag über Industrie und Gewerbe im ländlichen Oberbayern ein agrarisch geprägtes Wirtschaftsleben mit einem wachsenden Dienstleistungssektor und industriellen „Inseln“. Den mehr als neunzig Prozent Klein- und Kleinstunternehmen mit weniger als sechs Beschäftigten standen 1925 ganze sechs „Riesenbetriebe“ mit mehr als tausend Arbeitern gegenüber. Für die weitere wirtschaftliche Entwicklung wurde die Verfügbarkeit von Elektrizität immer wichtiger, wobei Oberbayern in diesem Jahrzehnt als führend galt. Davon hing auch der Einsatz von Elektromotoren in den bäuerlichen Betrieben ab, wie Corinna Schattauer in ihrem Aufsatz über die Motorisierung in der Landwirtschaft unterstreicht. Vor allem aus der Anschaffung der kostspieligen und reparaturanfälligen Schlepper ergab sich für die Bauern der Konflikt, auf Pferde verzichten zu sollen, um Kosten zu sparen. Dazu waren allerdings die wenigsten bereit, denn trotz aller Motorisierung war das soziale Prestige der Pferdehaltung ungebrochen hoch.

Grundlagenarbeit leistet der Beitrag von Jan Borgmann über das Bauen im ländlichen Oberbayern. Hier wird, wie in den anderen Beiträgen auch, deutlich, dass Vieles schon länger Vorhandene, wie Beton im Baustoffbereich, sich jetzt in den 1920er Jahren flächendeckend durchsetzte. Prägend wurde der „Heimatstil“ bzw. „Heimatschutzstil“, der alpenländische Architekturelemente und moderne Bauweise unter Verwendung von Naturstein und Holz miteinander kombinierte.

Besonders zu erwähnen ist die qualitätsvolle Bebilderung der einzelnen Beiträge. Der lesenswerte Band gibt einen facettenreichen Überblick über das ländliche Oberbayern der 1920er Jahre, die keine „goldenen Jahre“ waren, sondern vielfach noch von Handarbeit geprägt mit der Perspektive auf Unterstützung durch Maschinen. Für bleibend Innovatives war das lange 1920er Jahrzehnt dann doch zu kurz.