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Andreas Heege/Andreas Kistler
Keramik aus Langnau. Zur Geschichte der bedeutendsten Landhafnerei im Kanton Bern
(Schriften des Bernischen Historischen Museums 13), Bern 2017, Bernisches Historisches Museum, Bd. 1: Seite 1–514 mit Abbildungen 1–633, meist farbig, 2 ausklappbare Tafeln; Bd. 2: Kommentierter Katalog Seite 515–841 mit Farbabbildungen 634–831, Anhang mit Liste der Dekore, 1 CD, ISBN 978-3-9524783-0-1Rezensiert von Bärbel Kerkhoff-Hader
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020
Langnau im Kanton Bern ist in der Keramikliteratur und in Keramik affinen Kreisen keine unbekannte Größe. Die dort in der Blütezeit des Töpferhandwerks vom 17. bis zur 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hergestellte engobierte und bleiglasierte Irdenware, die mit Ritzdekor und farbiger Ausgestaltung ornamental reich verziert ist und erzählfreudig in Bildern spricht, gehört zu den europäischen Spitzenleistungen des traditionellen Töpferhandwerks. Seit Jahrzehnten steht im Regal der Rezensentin der schmale Band von Robert L. Wyss, dem ehemaligen Direktor des Bernischen Historischen Museums, über die „Berner Bauernkeramik“ (1966), in dem die Langnauer Irdenware aus dem Emmental bisher ihre Würdigung fand. Der Titel bezeugt die in den 1960er Jahren noch im Verbund mit „Volkskunst“ zu überwindende Zuweisung als „Bauernkeramik“, ohne der Lebenswirklichkeit ihrer Hersteller auf den Grund zu gehen. Als dann 1995 in Zürich das 28. Internationale Hafnerei-Symposium stattfand, gehörten zum Programm wie üblich auch Exkursionen „in ‚keramikhaltige‘, handwerkliche traditionsreiche Töpferorte“, so auch nach Langnau und Thun, wie im Bericht von Werner Endres (Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 99 [1996], S. 99–104, hier S. 103) nachzulesen ist. In Langnau stand neben aktiven Keramikwerkstätten das Heimatmuseum ‚Chüchlihaus‘ (heute Regionalmuseum) „mit reichen dekorativen Beständen Langnauer glasierter Irdenware; allerdings bisher noch ohne Einzeluntersuchungen zu den Werkstätten“ (W. Endres, s.o.) auf dem Programm. Diesem Desiderat wurde jetzt mit der Monografie von Andreas Heege und Andreas Kistler von Grund auf, detailreich und auf das Beste illustriert entsprochen. Der Publikation ging in den Jahren 2014–2017 ein breit angelegtes Forschungsprojekt voraus, das am Ende archäologische Funde und Befunde, archivalische Quellen, empirische Untersuchungen ehemaliger und heutiger Töpferanwesen und den Ertrag einer aufwändigen Objektrecherche und -analyse zusammenführte, so dass sich ein schier unerschöpfliches Informationspotential ergab, ergänzt durch die Auswertung eines Glasurrezeptbuches durch Wolf Matthes.
Die zweibändige Publikation ist ein kongeniales Werk der beiden Wissenschaftler und zudem ein Schwergewicht, das mit rund 4,5 kg Eigenwicht die Tragefähigkeit zwar herausfordert, aber – nach Inhalt und Gestaltung bemessen – seinesgleichen sucht. Im Gesamtumfang von 841 Seiten und mit nahezu 1 000 Abbildungsnummern ausgestattet, die ein Vielfaches an Bildmaterial durch die Zusammenstellung von Gefäßansichten, Schnittzeichnungen oder Übersichten von Scherbengruppen und anderen Details wie Grifflappen auf Tableaus erschließen. Hinzu kommen topografische Karten der Töpferanwesen, die genealogisch/familiengeschichtlich untersucht wurden, eine Übersicht von 89 Langnauer Töpfern zwischen 1600 und 1950 in einer Zeittabelle mit Lebensdaten, Ehedaten, Arbeitsorten (Abwanderung in die Umgebung oder Auswanderung, in die USA z. B.) und auch eine genealogische Tafel einer Töpferfamilie über vier Jahrhunderte, von ca. 1650 bis um 1950, die mitsamt den Wohnplätzen erstellt werden konnte. Der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch bei der Produktion von Töpferwaren zwischen 1700 und 1850/60, der „klassischen“ Periode Langnauer Irdenware und auch von Kachelöfen (15). Die kritische Durchsicht und Zusammenschau aller Forschungsergebnisse, ihre Strukturierung und die Be- und Aufarbeitung des keramischen Materials lag bei Andreas Heege, der diese Arbeit 2017 abschloss. Der Dank an die Personen und Institutionen, die zum Ergebnis beitrugen, umfasst nicht weniger als drei DIN-A4-Seiten und gibt zumindest eine ungefähre Vorstellung vom Umfang notwendiger Kommunikation und Netzwerkarbeit, um ein so fundiertes und umfangreiches und vorbildhaft illustriertes Werk mit ausgezeichneten Fotografien, Zeichnungen, Karten etc. vorlegen zu können, das höchste Anerkennung verdient.
In Band 1 wird zunächst die Projektgeschichte, der Aufbau der Publikation und ihre Handhabung sowie die Sammlungsgeschichte Langnauer Waren aufgezeigt und eine Übersicht über Ortschaften der Keramikproduktion im Kanton Bern im 18. und 19. Jahrhundert gegeben (Kap. 1). Es folgen Ausführungen über die Berufsgruppe der Langnauer Töpfer insgesamt, über einzelne Töpferfamilien auf Grund der genealogischen Forschungsergebnisse sowie über wirtschaftliche Lebensgrundlagen (Kap. 2). Breiter Raum wird den sich verändernden Besitzverhältnissen von Häusern und dazugehörigen Werkstätten mit entsprechenden Katasteraufnahmen, Grabungsfunden und -befunden gewährt (Kap. 3). Techniken der Herstellung, einschließlich Werkstattgrundrissen, Arbeitsgerät, die Auswertung von Rezepturen für Farben und Glasuren sowie die in Gebrauch stehenden Brennöfen, zuweilen auf benachbarte Töpferorte zurückgreifend, ergeben differenzierte Vorstellungen vom Arbeiten mit den vor Ort anstehenden Tonen (Kap. 4). Es folgt die analytische Darstellung der als „typisch Langnau“ bekannten Waren im benannten Zeitraum (Kap. 5). Diese in ihren Formen und Stilmitteln zu bestimmen und mit einzelnen Werkstattstilen abzugleichen, ist eine der diese Arbeit auszeichnenden Leistungen. Sechs Werkstätten mit 25 ‚Handschriften‘ konnten herausgearbeitet werden. Ein gesonderter Abschnitt ist der reichen Bildersprache und den häufig umlaufenden Spruchbändern gewidmet, die einen intensiven Blick in das Alltagsleben und die Vorstellungswelten von Herstellern und Abnehmern gewähren (Kap. 6). Ermittlungen über Kachelöfen, Kontrapunkt zur Geschirrproduktion, schließen sich noch an (Kap. 7), bevor der Absatz der Langnauer Waren in seiner geografischen Reichweite, bei der Schriftlosigkeit von Händlern und Händlerinnen über Haus- und Hofinventare ermittelt und von mittlerer Reichweite, angesprochen und kartografisch veranschaulicht wird (Kap. 8). Eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse in deutscher, französischer und englischer Sprache schließt den ersten Band ab (Kap. 9).
Band 2 der Publikation ist ausschließlich den Produkten aus Langnauer Werkstätten zwischen 1700 und 1850 gewidmet (Kap. 10). Als kommentierter Katalog korrespondiert die systematische Darstellung der Objektgruppen mit ihrer thematischen Einbindung in übergreifende Fragestellungen in Band 1. Das Warenrepertoire der Blütezeit des Langnauer Töpferhandwerks wird in 44 alphabetisch geordneten Gefäßgruppen nach Form und Funktion nicht nur beschrieben und datiert, sondern es werden mit analytisch-vergleichendem Blick objektspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Entwicklungen, Einflüsse, Werkstätten, Funktionen etc. pp. abgehandelt. Neben den grundständigen Formtypen (Töpfe, Teller, Schüsseln, Kannen) enthält dieser Katalog eine bemerkenswert große Zahl an Sonderformen, die von Bügeleisen, Sonnenuhren, Orgelschmuck bis zu Zuckerstreuern reicht. An einfachem Gebrauchsgeschirr aus dieser Zeit ist verständlicher Weise wenig überliefert. Die eine oder andere Gruppierung von Gefäßtypen oder Gefäßbezeichnungen verdiente diskutiert zu werden, denn auch ein ‚Nidlenapf‘ (ein Gefäß für Rahm) ist formaltypisch eine (kleine) Schale mit (Pokal-)Fuß, bei der die regionale (Funktions-)Bezeichnung nachgeordnet stehen sollte, denn bilden nicht auch andere funktionale Spezifizierungen, z. B. die ‚Zuckerdose‘, typologisch wie alle andern Näpfe und der ‚Becher‘ auf Pokalfuß die formaltypische Gruppe ‚Schale‘ (auf Pokalfuß)? Ebenso ist es eine der sich stellenden Fragen, ob die vielen als ‚Dosen mit Deckel‘ bezeichneten Gefäße nicht dem Spezialtyp der (kleinen) Terrinen zuzuordnen wären. Daneben gibt es Dosen, die ohne Deckel-Typisierung auskommen, aber einen solchen besitzen und der kleinformatigen Terrinen-Gruppe zuzuordnen wären u. a. m. Auch Bildzeichen verdienten eine Überprüfung. Ist die „Küchlerin“ auf dem Einband von Band 1 die Wirtin vom „Sternen“ (Abb. 821)? Sicher nicht, ein Hexagramm war das weit verbreitete Zeichen für eine Brauerei und entsprechend für Wirtshäuser. Überlegungen zum Sprachgebrauch von „Hafner“ oder „Töpfer“ respektive Hafner- oder Töpferhandwerk könnten sich sinnvoll anschließen.
Den Abschluss von Band 2 bilden komplettierende Anhänge mit Dank, Endnoten, Literatur- und Abkürzungsverzeichnis sowie der Abbildungsnachweis (Kap. 11–15). Ohne Gliederungsnummer, aber keineswegs nachgeordnet in der Aussagekraft, ist eine systematisierte Liste der Dekore auf Außen- und Unterseiten von Gefäßen zwischen 1684 und 1901 mit Abbildungen angefügt, in der die Dekore in einer Kreuztabelle mehrfach nach Jahr, Häufigkeit des Vorkommens, datiert oder undatiert etc. ausgewertet sind. Zur Fülle von Informationen über das Gewerbe in seiner Kernzeit in den beiden Bänden kommt eine beigefügte CD mit der gesamten Datenbank, mit Dateien der datierten Stücke, zu Dekoren und Motiven, dem Rezeptbuch als Scan des Originals, Informationen zu den durchsuchten Sammlungen, zu Nachahmungen, Fälschungen sowie zu Thuner Majolika Langnauer Art, die zukünftig zu untersuchen wären. Dass Ideen und Perspektiven für eine Untersuchung Langnauer Keramik und ihre Schöpfer*innen bis in die Gegenwart mit den impliziten Fragen der Modernisierung des Töpferhandwerks nach 1850 fehlen, sei der Vollständigkeit wegen erwähnt, ebenso der Hinweis auf die digitale Bilddatenbank „CERAMICA CH“ (https://ceramica-ch.ch/katalog/), wo sich weitere Dimensionen schweizerischer Keramik erschließen lassen.