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Harm-Peer Zimmermann (Hg.)

Kulturen der Sorge. Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann

Frankfurt am Main/New York 2018, Campus, 565 Seiten mit Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-593-50894-8
Rezensiert von Karin Lahoda
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020

Der von Harm-Peer Zimmermann herausgegebene Sammelband „Kulturen der Sorge. Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann“, der auf den zweiten Kongress kulturwissenschaftlicher Altersforschung am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich im November 2016 zurückgeht, versammelt 26 Beiträge internationaler und interdisziplinärer Provenienz rund um das Thema Sorge und Demenz. Das über 560 Seiten starke Werk, dessen Beiträge überwiegend auf Deutsch, teils auch auf Englisch verfasst sind, ist in vier Teilbereiche untergliedert: „Kulturen der Sorge“, „Lebensweltliche Arrangements bei Demenz“, „Mediale Repräsentationen von Demenz“ und „Gesellschaft und Zivilgesellschaft: Who cares?“. Der Band spielt eine der großen Stärken der Vergleichenden Kulturwissenschaft aus, indem er die Menschen selbst in den Blick nimmt und zu Wort kommen lässt. Hier handelt es sich um Demenzerkrankte. Dabei geht es den Autor*innen nicht allein um die Sichtbarmachung der Betroffenen, sondern – wie auf dem Buchrücken zu lesen ist – auch darum, die „Lebenslagen von Betroffenen, ihren Angehörigen und ihrer Umgebung zu verbessern“.

Vorweg lässt sich festhalten, dass alle Beiträge in dem Sammelband einen ähnlichen Grundtenor aufweisen und somit kein fundamentaler, kontroverser Meinungsaustausch zu erwarten ist: An zahlreichen Stellen wird die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas hervorgehoben und auf die Relevanz einer differenzierten, multiperspektivischen, situations-/personenbezogenen, nicht vorrangig defizitären Betrachtung der Thematik hingewiesen.

Ich beginne die Ausführungen zu den einzelnen Aufsätzen mit dem Beitrag von Eberhard Wolff, der sich mit dem Sorgebegriff aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auseinandersetzt. Demnach muss  „Sorge“ als ein in seiner Bedeutung vielfältiger Begriff gefasst werden, dessen Wertimplikationen in seiner Verwendung bewusst sein müssen. Da diese Wertzuschreibungen situativ unterschiedlich und interessengeleitet sind, gilt es, Sorge als kulturelles Phänomen zu betrachten und zu analysieren. Nicht weniger grundlegend, aber auf einen anderen Aspekt abzielend, widmet sich Andreas Kruse der „Sorge bei Demenz“. Als Gerontologe fragt er nach der Würde des Menschen, welche „die Möglichkeit zur Selbstgestaltung und Weltgestaltung“ (40) beinhaltet. Er schreibt über Herausforderungen, die letzte Lebensphase demenzkranker Menschen angemessen zu gestalten, denn: „Spezifische Anforderungen, die sich im Kontext der Sterbebegleitung stellen, zentrieren sich vor allem um die Frage der Schmerzerfassung, der Ernährung, der Kommunikation und der Selbstbestimmung.“ (60)

Christine Matter und Klaus R. Schroeter, beide aus dem Fachbereich Soziale Arbeit, setzen in ihren Beiträgen bei der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung von Altersbildern an. Während Matter u. a. die Begriffe Fremde beziehungsweise Fremdheit auf ihre Gangbarmachung in Bezug auf Alter beleuchtet, kommt Schroeter auf Formen des anderen Alterns zu sprechen, abseits „des erfolgreichen, aktiven und produktiven Alterns als Leitformel für ein gelingendes Leben im Alter“ (99). Auch bei Heinz Rüegger stellt die Ambivalenz vorhandener Altersbilder den Ausgangspunkt seiner Überlegungen dar. Er erarbeitet daraus sein Plädoyer für eine pro- statt anti-aging Haltung, welche auf der Grundhaltung fußt, dass Leben Altern heißt. Einen theologischen Zugang wählt Ralph Kunz, wenn er sich mit der Hiobsbotschaft auseinandersetzt, als welche die Diagnose Demenz erlebt werden kann, sowohl im übertragenen Sinne als auch in einer Auslegung der biblischen Geschichte, vor allem unter dem Aspekt der Schuldfrage beziehungsweise der Zuordnung von Glück und Pech. In „The Alzheimerization of Growing Old in America“ erläutert Renée L. Beard, dass die medizinische Diagnose „Alzheimer“ Fragen nach dem Umgang mit ihr aufwirft. Gesellschaftliche Stigmatisierung spielt dabei ebenso eine Rolle wie eine Einordnung der Erkrankung durch Betroffene, die ihre Prioritäten neu ausrichten und laut Beard v. a. nicht zu passiven Opfern werden. Er plädiert für einen menschlichen Umgang mit Vergesslichkeit.

Im zweiten Teil des Sammelbandes finden sich verschiedene Beispiele zu lebensweltlichen Arrangements bei Demenz, wenngleich konkrete Forschungsbeispiele auch in Beiträge anderer Abschnitte einfließen. Annette Leibing kommt exemplarisch auf die Rolle der Enkelkinder in der Pflege ihrer von Alzheimer betroffenen Großeltern (meist Großmütter) in Brasilien zu sprechen. Sie versucht anhand des Konzeptes Hero/Held die mediale Darstellung der Aufopferung beziehungsweise Opferbereitschaft der pflegenden Enkelkinder zu lesen und beleuchtet das Konzept des Personhood movement. Sie schließt mit dem Hinweis, dass auch unerfreuliche und hilflose Momente zum Sorgen dazugehören und als Teil des Ganzen akzeptiert und etwa auch in den Medien sichtbar gemacht werden sollten. Anhand eines hessischen Modellprojektes untersucht Andrea Newerla, inwiefern kreative und individuelle Lösungen in Care-Praktiken einfließen können. Besonders durch die vermittelnde Rolle einer Netzwerkassistenz werden Lösungen für individuelle Wünsche und Bedürfnisse Demenzerkrankter wie Angehöriger gemeinsam, oft in einem kreativen Prozess, erarbeitet. So sollen soziale Teilhabe ermöglicht, Überforderungssituationen eingedämmt und eine caring community zur Unterstützung geschaffen werden. Dies soll zur Verminderung von Spannungen aufgrund unterschiedlicher Bedürfnislagen innerhalb einer Beziehungskonstellation Betroffener führen.

Heinrich Grebe geht in seinem Beitrag zur „guten Praxis“ von Pflege auf (gegenseitige) stereotype Vorstellungen über professionelle und häusliche Pflege ein. Er plädiert für ihre Überwindung, da sich die Realität u. a. mit fließenden Übergängen differenzierter gestaltet. Er kommt zu dem Schluss, dass vor „dem Hintergrund der hier aufgeführten Fallbeispiele [...] eine Beratung attraktiv [erscheint], die Sorgenden hilft, eine kritische Distanz zu den Empfehlungen und Verpflichtungen einzunehmen, die von verschiedener Seite auf sie einwirken“ (230 f.). Esther Gajek beleuchtet anschaulich den Alltag befragter Ehepaare, bei denen der*die Partner*in von Demenz betroffen ist und deren Strategien sich im Umgang damit unterschiedlich gestalten. Es zeigt sich, dass vor allem gewohnte Routinen den Alltag prägen und die Sorgethematik nicht stetig im Vordergrund steht. Bei der Alltagsbewältigung spielen z. B. Humor und Gelassenheit eine wichtige Rolle und das zeitweise Delegieren der Verantwortung an Dritte.

„Allein leben mit Alzheimer“ – dieser Artikeltitel verweist bereits auf den Fokus von Nina Wolf und Yelena Wysling, die anhand eines Beispiels detailliert familiäre und professionelle Figurationsanteile und deren Verzahnung rund um eine Alzheimererkrankte aufzeigen. Dabei gilt es, Autonomie gegen Sicherheit abzuwägen, um eine Balance zwischen dem Respektieren der Willensäußerungen der Demenzerkrankten und der notwendigen Unterstützung zu finden. Um Sorgen alleinlebender Frauen geht es im darauffolgenden Beitrag von Irene Götz und Petra Schweiger, die sich weniger auf einen Demenzschwerpunkt konzentrieren, sondern v. a. die Vorsorgestrategien älterer Frauen in prekärer sozialer Lage thematisieren. Die Aussage „Prekarität verstärkt Ängste und Sorgen“ (308) legen sie konkret anhand exemplarischer Fälle dar. Wie ein Gedächtnistraining als Vorsorgestrategie genutzt wird, um den eigenen Geist fit zu halten, beleuchtet dann Cordula Endtner in „Arbeit an der Grauzone – Sorgebeziehungen zwischen einem Gedächtnistraining und dessen Nutzer/innen“. Einen weiteren ganz konkreten Aspekt des Alltagslebens greift schließlich Mone Spindler auf, wenn sie sich den selektiven Türschließsystemen in Heimen mit Demenzerkrankten widmet und dabei die Herausforderungen herausarbeitet, die es für das Personal und die Bewohner*innen in der Praxis bedeutet.

Der dritte Themenblock „Mediale Repräsentation von Demenz“ beschäftigt sich mit dem Demenznarrativ eines exemplarischen Romans innerhalb des Genres der „Care home novels“ (Ulla Kriebernegg), mit der Frage, wie anhand eines Erzählbandes Demenz erzählt wird (Susanne K. Christ), mit der Präsentation von Demenz in Spielfilmen (Mark Schweda), mit der Rolle von Demenz in biografischen Erinnerungen (Dirk H. Medebach) und schließlich mit der kulturwissenschaftlichen Betrachtung der „Reflexionen der Sorge“ in Tagebüchern sowie mit der Bedeutung des biografischen Schreibens anhand exemplarischer Dokumente aus dem Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen (Malte Völk).

Im letzten Teil „Gesellschaft und Zivilgesellschaft: Who cares?“ richtet sich der Blick etwas stärker auf die Makroperspektive und auf gesellschaftliche und politische Aspekte. So stellt Hans Rudolf Schelling Ergebnisse des Demenzbarometers Schweiz 2012 vor und spricht sich für „die Förderung eines realistischen und eher positiven Altersbildes“ aus, denn „selbst wenn dies eine mögliche Demenzerkrankung nicht zu verhindern mag, so unterstützt es doch eine gute Lebensqualität bis ins hohe Alter“ (477). Thomas Klie zeigt anhand eines Vier-Sektoren-Modells wie mögliche Vernetzungen beziehungsweise Interdependenzen zwischen informeller Hilfe, Organisationen, Staat und Markt rund um das Thema Care aussehen können. In „The Dementia-Friendly Community“ plädiert Reimer Gronemeyer für eine Wahrnehmung Demenzerkrankter nicht nur als Patient*innen, sondern vor allem als Bürger*innen einer Gesellschaft, die auch Rechte besitzen. Ebenfalls über den Umgang mit Demenzerkrankten innerhalb der Gesellschaft, und hier v. a. über die Frage nach wahrhaftiger, aufrichtiger Sorge, schreibt Peter Wißmann. Er argumentiert unter Bezugnahme auf weitere Kritiker an Scheinangeboten für Demenzbetroffene – wie beispielsweise Demenzdörfer, Bushaltestellen etc. –, dass durch vorgetäuschte künstliche Inszenierungen Betroffene u. a. aus der Normalität exkludiert werden und noch weniger am Alltag teilhaben können. Einen weiteren relevanten Aspekt innerhalb der Pflegediskurse schneidet Marianne Egger de Campo an, wenn sie die vertikale Dimension von Herrschaftsverhältnissen bei Pflege- und Betreuungsarrangements in den Blick nimmt. Der Band schließt mit dem Beitrag von Pia Kontos, Alisa Grigorovich, Alexis P. Kontos und Karen-Lee Miller, die „relational citizenship“ als neue Form der gesellschaftlichen Teilhabe sehen, welche Demenzbetroffene als aktive Partner*innen versteht und vor allem Aspekte des Körperlichen von „embodied self-expression“ und „body-world relations“ einbezieht. Am Beispiel des Clownings werden die Aspekte Kreativität, Kunst, Musik und Humor thematisiert.

Für wen ist dieses Buch am Ende geeignet beziehungsweise was lässt sich daraus als Quintessenz ziehen? Der Sammelband bietet einen weiteren wichtigen Baustein im Kreis wachsender Forschungen und Publikationen zur Gesundheitsforschung, zu Fragen von Fürsorge, gesellschaftlichen Entwicklungen und Ähnlichem, die stärker interdisziplinär ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden, wodurch die Komplexität der Sorge-Thematik sowie deren Perspektivenvielfalt deutlich wird. Die Bündelung verschiedener Forscher und Forscherinnen, in deren Beiträgen weitere Hin- und Verweise auf Studien, Literatur und Erkenntnisse geliefert werden, ermöglicht so eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema. Besonders konkrete Beispiele aus den Forschungen hinsichtlich der Alltagsgestaltung und den Einstellungen Betroffener brechen abstrakte Beschreibungen über Demenz aus Broschüren, Ratgebern etc. auf und lassen tatsächliche Herausforderungen und Chancen greifbar werden. Es bleibt zu hoffen, dass die deutliche Botschaft des Sammelbandes nicht nur im Fach Aufmerksamkeit findet, sondern auch innerhalb der Gesellschaft und besonders an Stellen in der Pflegepraxis, wo ein Umdenken zu tatsächlichen Veränderungen im Umgang mit Demenz und Sorgepraktiken führen kann.