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Uwe Albrecht
Bilder aus dem Tierleben. Philipp Leopold Martin (1815–1885) und die Popularisierung der Naturkunde im 19. Jahrhundert
(Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Geschichtswissenschaft 34), Baden-Baden 2018, Tectum, XXCI, 554 Seiten mit 111 Abbildungen, teils farbig, 4 Tabellen, ISBN 978-3-8288-4039-3Rezensiert von Michael Markert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020
Aus Perspektive der Kulturwissenschaften ist das Naturkundemuseum ein reizvoller Untersuchungsgegenstand: In ihm materialisieren sich sowohl die Praktiken der Lebenswissenschaften und ihrer Vermittlungsbestrebungen als auch der bürgerlichen (Amateur-)Wissenschaft und Wissenschaftsrezeption. Zugleich ist es ein wichtiger außerschulischer Lernort, in dem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Naturverständnisse breiter Bevölkerungsschichten geprägt und ausdefiniert werden. Bis heute spielt dafür dessen ganz eigene Medialität eine wesentliche Rolle, die in der Dermoplastik und dem Diorama ihren Ausdruck findet.
Erstaunlich wenig war bisher über den umtriebigen Entwickler und Popularisierer dieser beiden zentralen Medien bekannt, den Autodidakten Philipp Leopold Martin (1815–1885), unter anderem Präparator am Zoologischen Museum Berlin und am Königlichen Naturalienkabinett Stuttgart. Zwar wird Martin in zahlreichen Schlüsselarbeiten zur Geschichte der naturkundlichen Bildung in Deutschland – insbesondere Lynn K. Nyharts „Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany“ (Chicago 2009) – umfassend gewürdigt. Eine geschlossene Darstellung zu Martin und seinem Werk existierte bislang jedoch nicht.
Mit der von Uwe Albrecht vorgelegten Dissertation hat sich dies nun in grundlegender Weise geändert. Nicht nur liefert Albrecht eine erschöpfende Biografie, Werkschau und zeitgenössische Kontextualisierung, sondern er thematisiert auch Martins extrem breite und lange Wirkungsgeschichte. Gerade dieser letzte Teil der mit 461 eng bedruckten Seiten sehr umfangreichen Monografie wirft zahlreiche neue Fragen auf, was die Arbeit zu einem idealen Ausgangspunkt für neue Forschungs- oder gar Dissertationsprojekte macht. Ganz freiwillig dürfte diese Offenheit jedoch nicht sein, denn – dies sei vorweggenommen – der Verfasser wählt als Darstellungsmodus einen problematischen Klassiker: die Biografie und Werkanalyse des missverstandenen, isolierten Genies. Albrecht verschenkt damit eine Reihe durchaus relevanter und sich geradezu aufdrängender Blickachsen; Stichworte wären hier neben Kollektiv- und Objektbiografie insbesondere Bildungs- und Mediengeschichte.
Albrechts Werk ist in vier große Teile gegliedert, denen als erstes Kapitel eine Einleitung vorausgeht, die hauptsächlich in aller Kürze Forschungsstand und Quellenlage referiert. Methodische Ansätze werden zwar benannt, nicht aber für einen eigenen Zugang fruchtbar gemacht, was sich in der unreflektierten Wahl der Erzählform spiegelt. Im zweiten Kapitel stellt Albrecht auf knapp 100 Seiten die Biografie Philipp Leopold Martins dar, in vertrauter Manier von Geburt bis Tod, lückenlos mit vorrangig institutionell begründeten Stationen. Der heuristische Wert solcher biografischen Darstellungen sei dahingestellt, zumal werkrelevante Aspekte später erneut aufgegriffen werden und damit zahlreiche Redundanzen entstehen.
Martins Werk selbst wird anschließend in einem zugänglich gegliederten Großkapitel von knapp 130 Seiten gewürdigt: Der Einstieg erfolgt mit Themen, die aus der Sekundärliteratur bekannt sind, hier aber besonders dicht ausgeführt werden: Martins Kritik an der zeitgenössischen Taxidermie, sein Verfahren der Dermoplastik als Gegenmodell sowie das Konzept der Tiergruppen und Dioramen als seinerzeit innovativer und immer noch aktueller Inszenierungsform.
Anschließend tauchen Aspekte auf, die zumindest dem Rezensenten bisher nicht bekannt waren und Martins Status des herausragenden Museumsinnovators weiter verfestigen. So schuf Martin einflussreiche Nachbildungen „urweltlicher Tiere“ – etwa des Mammuts – und entwickelte als Museumstheoretiker neuartige Sammlungs- und Ausstellungskonzepte, die mit dem nie realisierten „Centralgarten für Natur- und Völkerkunde“ in einem eigenen Museumsentwurf mündeten. Als allumfassende Repräsentation der Naturgeschichte verweist sein Entwurf dabei zugleich in die Anfänge dieses Fachs in der frühen Neuzeit und zu moderneren Umwelt-Konzepten – nicht zufällig war Martin auch ein Vordenker der Naturschutzbewegung im deutschsprachigen Raum.
Im vierten Kapitel schließlich werden die vielfältigen Leistungen Martins auf wiederum knapp 100 Seiten zeitgenössisch kontextualisiert. Es erscheint jedoch fragwürdig, darin andere Akteure vor allem anhand ihrer Nützlichkeit für Martin als „Helfer“ und „Gegner“ zu klassifizieren und Martins manchmal polemischen Einlassungen als „Beweggründe[n]“ ein eigenes Unterkapitel zu geben, statt sie als Teil der museumskonzeptionellen Arbeit auszuwerten. Gerade das letzte Unterkapitel zur „Einordnung“ hätte zudem besser am Anfang der Arbeit Platz gefunden, werden hier doch gesellschaftliche, bildungs- und disziplinenhistorische Rahmenbedingungen angedeutet, die für Leser*innen ohne umfassendes Vorwissen zur Geschichte der naturkundlichen Bildung ausgesprochen hilfreich gewesen wären. Vielleicht sollte man bei der Lektüre also gleich mit diesem Kapitel 4.5 beginnen und sich dann ausgehend von der darin überzeugend vorgeführten Relevanz des Martinschen Werks im abschließenden fünften Kapitel zu den „Nachwirkungen“ bis ins 20. und 21. Jahrhundert tragen lassen. Von dort aus lässt sich problemlos zurück in die biografischen und werkanalytischen Teile springen, um interessierende Aspekte im Detail nachzufassen.
Das Schlusskapitel zur auf knapp 40 Seiten skizzierten Wirkungsgeschichte ist in seiner Kürze geradezu enttäuschend. Zweifellos verfügt Albrecht über umfassende Kenntnisse zur weiteren Entwicklung der vielen von ihm detailliert dargestellten Aspekte aus Martins Werk, konkretisiert werden diese jedoch kaum. An den vielen Diskurssträngen könnte man jedoch hervorragend ansetzen und daraus – dies wurde zu Beginn der Rezension angedeutet – je eigene Forschungsthemen oder gar ein zweites Buch entwickeln. Die Verbindung zwischen Martins Werk und dem zeitgenössischen wie späteren Naturkundeunterricht scheint für Albrecht gar so selbstverständlich gewesen zu sein, dass das Thema eigentlich nur in Fußnoten im ersten Kapitel stattfindet. Mit der Schulsammlung als (Naturkunde-)Museum en miniature, der Dermoplastik als zentralem naturkundlichem Lehrmittel ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert sowie nicht zuletzt der von Nyhart nachgezeichneten konzeptionellen Wechselwirkung zwischen Naturkundemuseum und -unterricht gäbe es zweifellos mehr als genug Ansatzpunkte für eine entsprechende Analyse.
Auch für solche Anschlussüberlegungen liefert Albrechts Untersuchung als hochdichte Charakterisierung des vielleicht bedeutendsten Innovators in der Globalgeschichte des Naturkundemuseums wesentliches Material. Sie bietet einen umfassenden Einblick in Martins weitreichendes Werk in höchstem Detaillierungsgrad. Einsichten von allgemeinerer kultur- wie wissenschaftshistorischer Bedeutung gehen jedoch in der Materialflut unter oder bleiben schlicht vorausgegangenen sowie folgenden, methodisch anders aufgestellten Arbeiten vorbehalten.