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Wilhelm Amann/Heinz Sieburg (Hg.)

Spiel-Werke. Perspektiven auf literarische Spiele und Games

Bielefeld 2020, transcript, 206 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5098-3
Rezensiert von Lena Möller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2020

Im Frühjahr 2020 erschien im transcript-Verlag ein Sammelband mit dem Titel ,,Spiel-Werke. Perspektiven auf literarische Spiele und Games“, der sich dem Spiel und Spielen in der Literatur widmet und dabei einen Bogen vom Analogen ins Digitale spannt. Die Wechselbeziehung ludologischer und narratologischer Elemente tritt hier sowohl auf einer formalen Ebene in Erscheinung, zum Beispiel in der Form sprachspielerischer Raffinessen, als auch auf inhaltlicher Ebene, etwa durch figurale Entwürfe wie den des Serienverbrechers als perfidem (Gegen-)Spieler. Der Blick auf die Vielfalt der zu Wort kommenden Autor*innen zeigt zwar eine dominierende Verankerung des Sammelbandes in  Literaturwissenschaft und Germanistik, täuscht aber schnell darüber hinweg, dass ,,Spiel-Werke“ einige Beiträge enthält, die durch ihre kulturhistorischen und populärkulturellen Ansätze interessante Anknüpfungspunkte für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzähl- und Spielkulturforschung bieten. Folgende übergeordnete Fragestellungen scheinen unter anderem darin auf: Welche Ausgestaltungen nehmen das Spiel und das Spielen zwischen literarischen und digitalen Spielformaten an? In welches Wechselverhältnis treten Spieler*in und Spiel dabei? Welcher spielerischer Praktiken wird sich bedient und auf welche Weise wirken historisch verankerte kulturtheoretische Diskurse in vergangene und gegenwärtige Spielformen und -debatten hinein?

Herausgegeben wurde der Sammelband von Wilhelm Amann und Heinz Sieburg vom Institut für deutsche Sprache, Literatur und Interkulturalität der Universität Luxemburg. Als Professor für Germanistik zeichnet sich Heinz Sieburg durch eine große Expertise im Bereich der Interkulturellen Mediävistik sowie der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters aus und forscht zudem sprachwissenschaftlich in den Bereichen der Plurizentrik, Wortbildung und Soziolinguistik. Die Forschungsschwerpunkte von Wilhelm Amann, der als Research Scientist am Institut tätig ist, konzentrieren sich hingegen auf die Literatur und Ästhetik um 1800 und die Gegenwartsliteratur. Der vorliegende Band beruht außerdem zum Teil auf einer von den Herausgebern an der Universität Luxemburg im Sommersemester 2016 veranstalteten Ringvorlesung mit dem Titel ,,Spiel-Räume. Das ‚Spiel‘ in Diskursen der Kultur und Wissenschaften“. Amann selbst betont in seiner Einleitung ,,Play or game. Zum Verhältnis literarischer und digitaler Spielkulturen“, dass mit den Spielen in der Literatur Spannungsmomente inszeniert werden. So geben sie ,,Auskunft über historische wie gegenwärtige, kollektive wie individuelle Befindlichkeiten und sie kommentieren fallweise den Stand kulturtheoretischer Diskussionen in eigene[r] Sache“ (12). Dabei lässt der Autor nicht unerwähnt, dass seitens der philosophischen Spieltheorie, in der mitunter kulturpessimistische Tendenzen sichtbar werden, auch eine Art Überlegenheitsgefühl gegenüber den alltäglichen Spielbedürfnissen und -formen zum Ausdruck kommt. Eine Erschließung der Spielvielfalt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beförderte aber Betrachtungsweisen, welche sich einer moralischen Voreingenommenheit entziehen (10 f.).

Im Folgenden werden drei Aufsätze aus den insgesamt neun Beiträgen herausgegriffen, die ihren Fokus nicht nur auf ästhetische und spielphilosophische Ansätze legen, sondern auch kulturhistorische Perspektivierungen vornehmen.

Monika Schmitz-Emans, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, widmet sich in ihrem Beitrag ,,Kombinatorische Spiele zwischen Zufall und Planung“ den Würfelbrett-, Rätsel- und Kartenspielen. Konkret geht es darum, wie sich spielerische Weisen auf die Form von Texten auswirken. Exemplarisch herausgegriffene Beispiele aus unterschiedlichen Epochen wie die ,,Almanachs-Lustspiele“ aus dem Jahr 1829 oder experimentelle Romane aus den 1960er Jahren regen durch das Erwürfeln oder Kombinieren von Textbausteinen zur zufallsgesteuerten Textproduktion an. Die Autorin reflektiert nicht nur das jeweils zugrunde liegende spielerische Konzept, sondern fragt auch unter dem Gesichtspunkt der zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen nach den Beweggründen der Autor*innen und danach, auf welche Weise eine Aneignung durch die Leserschaft erfolgt. Besonders aufschlussreich ist die genaue Betrachtung der Spielregeln und konkreten Spielpartien und welche Spieltypen und -semantiken damit verknüpft sind, womit Aspekte der Zufälligkeit und Schicksalshaftigkeit einhergehen. Das spielerische Verrätseln und Enträtseln von Texten führt die Autorin letztlich auf eine Suche nach dem verborgenen Sinn und damit verbunden auch nach einer Antwort auf die Frage, inwieweit die Lektüre wirklich den suggerierten oder ausformulierten Regeln unterliegen soll (87). Schmitz-Emans stellt also einen äußerst spannenden und bislang unzureichend erforschten Quellenfundus vor, der unter anderem auch für das verwandte Genre der Multi-Path-Games einschlägig ist. Bewusst belassene Leerstellen wie die Frage nach den Rahmenbedingungen literarischer Kommunikation oder geeigneten hermeneutischen Modellen für die Analyse solcher Texte laden zu anschließenden Betrachtungen ein, denen sich auch die Kulturwissenschaft nicht entziehen sollte.

Im Mittelpunkt des Beitrags ,,Der Serienverbrecher als Spieler. Zu einer literarischen Genrefigur um 1900“ von Oliver Kohns, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Luxemburg, steht hingegen eine figurale Analyse. Interpretiert werden drei Kriminelle aus der populären Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ,,einerseits als Motiv einer seriell verfassten Literatur, andererseits als Reflexionsfigur der zeitgenössischen Kriminalanthropologie“ (49). Es handelt sich um Professor Moriarty aus Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes-Erzählungen, Dr. Fu-Manchu aus Sax Rohmers Roman-Reihe sowie Norbert Jacquesʼ Figur des Dr. Mabuse. Laut Kohns begegnete den Rezipient*innen im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Figur des Moriarty eine neue Genrefigur in der Form des Verbrechergenies, das ,,selbst kaum oder nur selten kriminell agiert, sondern vielmehr als Strippenzieher des Bösen handelt, um Macht und Reichtum anzuhäufen“ (49). Der Autor zieht dabei zahlreiche zeitgeschichtliche Parallelen, etwa zur historischen Person Napoleon Bonapartes oder zu den physiognomischen Stereotypen der Kriminalanthropologie, welche sich im beschriebenen Erscheinungsbild der dargestellten Figuren widerspiegeln. Hervorgehoben wird ebenfalls, dass sich zwischen den Antagonisten eine Art Spiel entwickelt, in dessen Rahmen ein herausragendes Verbrechen auch eine künstlerische Aufwertung erfährt. Im Kontrast dazu steht die monströs angelegte Figur des Dr. Fu-Manchu, der ganz im Sinne des seriellen Erzählens weniger durch ein intellektuelles Kräftemessen mit dem Gegner, als vielmehr durch ständig neu ersonnene Mordmethoden und Fluchtwege die Handlung spielerisch vorantreibt. Die psychoanalytisch vielschichtig konzipierte Figur des Dr. Mabuse spielt zudem mit Identitäten, indem Verkleidungen und Masken genutzt werden, um den eigenen Machenschaften nachzugehen (54 ff.). Geschickt gelingt es Kohns, die Verbindung zwischen dem Narrativ des Verbrechergenies mit dem Spielerischen durch eine hermeneutisch-semiotische Herangehensweise aufzuzeigen, indem die auftretenden Figuren- und Handlungsmotive entschlüsselt und entsprechend zeitgeschichtlich kontextualisiert werden.

Zuletzt sei noch ein Beitrag herausgegriffen, der sich dem Medium des Hörspiels widmet und einen besonderen Forschungsgegenstand ins Auge fasst: Schachsendungen im öffentlichen Rundfunk, bei welchen das Spielgeschehen nicht dargestellt, sondern erzählt wird. In ,,Schach, Spiel. Wolfgang Kohlhaases Hörspiel ‚Die Grünstein-Variante‘ vor dem Hintergrund des Shoah-Verständnisses der DDR“ skizziert Leonard Olschner, emeritierter Professor im Department of Comparative Literature an der Queen Mary University of London, zunächst anhand populärer literarischer Vertreter motivgeschichtliche Schlaglichter auf das Schachspiel als metaphorisch aufgeladenes Denk- und Schicksalsspiel. Olschner perspektiviert Schach dabei ,,als Austragungsort anderer Belange, die verdichtet metaphorischer Rede bedürfen“ (132). Anschließend führt er anhand des 1976 vom Rundfunk der DDR erstmals gesendeten Hörspiels ,,Die Grünstein-Variante“ aus, wie mithilfe der Schachspiel-Metaphorik Aspekte der Vergangenheitsbewältigung und des Shoah-Verständnisses der DDR anhand einer Partie des polnischen Juden Frajwl Grünstein mit dem deutschen Seekapitän Lodek ausgehandelt werden.

In direkter Bezugnahme auf den letztgenannten Beitrag soll an dieser Stelle noch eine Schlussbemerkung folgen. Das Beispiel des Schachspiels führt besonders eindrücklich vor Augen, dass sich literarische Spiele nicht nur mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse der zugrunde liegenden Erzählstruktur und den damit einhergehenden Motivwelten und Figurenkonstellationen fassen lassen. Vielmehr ist es auch der spielerische Charakter der Literatur selbst, welcher zum Beispiel durch die spezifische (Erscheinungs-)form, sprachliche Zeichen oder ein Regelwerk, das den Rahmen des Spiels vorgibt, zum Analysegegenstand wird. Dies zeigt sich etwa dort anschaulich, wo sich ein Spiel nicht innerhalb einer Erzählung bändigen lässt, sondern erst durch das serielle Erscheinen einer ganzen Reihe vollends zur Entfaltung findet oder wo die Lust am Spiel erst durch das partizipative Mitgestalten eines Plotverlaufs entfacht wird.