Aktuelle Rezensionen
Julia Paulus (Hg.)
,Bewegte Dörfer‘. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990
(Forschungen zur Regionalgeschichte 83), Paderborn 2018, Schöningh, 241 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-506-78804-7Rezensiert von Johannes Müske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2020
Vielleicht ist es kein Zufall, dass rund um die Themen „68“ und neue soziale Bewegungen, die in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Publikationen aufgegriffen wurden, auch die „Provinz“ wiederentdeckt wird. Verdienstvoll ist es in jedem Fall. Denn der genauere historisierende Blick auf diese – stets durch ihre geografische Abgelegenheit von Marginalisierungstendenzen bedrohten – Landschaften und ihre Akteur*innen ermöglicht es, emanzipatorische Potenziale zu entdecken, die den ländlichen Raum in ein helleres Licht tauchen, als gemeinhin angenommen wird. Dies ist der basso continuo des hier zu besprechenden Bandes „Bewegte Dörfer“, der regionalgeschichtliche Forschung aus der Perspektive neuer sozialer Bewegungen und ihrer emanzipatorischen Anliegen betrachtet. Provinz ist hier, wie die Herausgeberin Julia Paulus in ihrer Einleitung schreibt, nicht als rückständiger und abgehängter Landstrich oder als Verwaltungseinheit zu verstehen, sondern in der Selbstbeschreibung progressiver Kreise in der Provinz auch als selbstbewusst angeeigneter Kampfbegriff, der Deutungshoheiten aus den Metropolen infrage stellte. Zugleich richtet das Buch den Blick auch auf die engen Verflechtungen zwischen Provinz und Metropole (10–13).
Der Band geht auf eine Tagung im Jahr 2014 zurück und versammelt elf Beiträge aus dem disziplinären Kontext von Geschichte, Europäischer Ethnologie und Soziologie (mit einem europäisch-ethnologischen Schwerpunkt). Die historisch-ethnografischen Fallstudien werden rund um drei Themenbereiche gruppiert: „‚Provinz‘ als Sehnsuchtsort“, „Zwischen städtischer und ‚provinzieller‘ Milieuanbindung“ und „Das Ringen in der und um die ‚Provinz‘“. Zwar befanden sich die Hauptzentren der neuen sozialen Bewegungen, etwa die Hausbesetzungsszene, vor allem in den großstädtischen Zentren, doch gab es auch in vielen Klein- und Mittelstädten Proteste gegen Bauprojekte, gegen Spekulation und Leerstand oder andere Missstände, vor allem im Zusammenhang mit selbst verwalteten Jugendzentren. Nach der Lektüre der Beiträge wird man feststellen, dass der Blick auf die und aus den Metropolen die Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Initiativen in der Peripherie zu Unrecht verstellt hat.
In der Praxis zeigte sich das neue Provinzbewusstsein im Streben nach Freiräumen, etwa in der Jugendzentrumsbewegung und auch in Protesten gegen Infrastrukturprojekte, in denen die Provinz allenfalls als zu durchquerendes oder widerspruchslos zu nutzendes Land vorkam. Die ersten beiden Beiträge, von David Templin („Auf der Suche nach einer anderen Provinz“) und von Bertold Gießmann („Die Wiederentdeckung der Provinz“) gehen zunächst auf den Provinzbegriff und dessen Assoziierung mit Rückständigkeit ein – was die alternativen Bewegungen damals klar infrage stellten. Insbesondere seit den 1970er Jahren konsolidierten sich, wie Templin ausführt, viele selbstorganisierte Jugendprojekte und begannen sich im Gefolge der „Provinzarbeit“ selbstbewusst den Begriff anzueignen, wobei einzelne Akteure besonders diskursprägend waren. Themen in Zeitschriften wie „Traum-A-Land“ oder dem bundesweit erscheinenden „Provinz-Rundbrief“ waren Jugendzentren, Ökologie und Friedensbewegung, aber auch Regionalgeschichte, Ernährung, Drogen usw. Durch stetige Provinzarbeit sollte das Leben in kleinen Schritten verbessert und bunter werden, so das Ziel der Protagonist*innen. Wie Gießmann herausarbeitet, führten gerade die Jugendzentrumsbewegung und die ländlichen Anti-AKW-Proteste wie in Wyhl und Brokdorf dazu, dass die Redaktionen in den Metropolen die Provinz als politisch relevantes Feld entdeckten. Das „Kursbuch“ widmete 1975 eine ganze Ausgabe der Provinz – der Begriff wandelte sich zu einem Kampfbegriff gegen das Schimpfwort und zugleich gegen Technokratie und Zentralismus (49). Die Provinz wurde – zumindest in den alternativen Milieus – zum emanzipatorischen Labor umgedeutet, wobei romantische Ländlichkeitsphantasien sicher weiterhin wirksam waren, wie gerade die Landkommunenbewegung zeigt, die Eva Wonneberger am Beispiel des Allgäus behandelt. Die Härten des ländlichen Strukturwandels ermöglichten auch Freiräume, indem die aufgegebenen Höfe als günstige Bleibe entdeckt wurden, in denen alternative Lebensentwürfe erprobt werden konnten.
Verschiedene regionale alternative Protest- und Kulturprojekte im „Dazwischen“ von Land und Stadt stellen die folgenden drei Beiträge ins Zentrum. Hans-Gerd Schmidt untersucht in seinem Beitrag zur Region Lippe, wie sich das 68er-Lebensgefühl in der Provinz zeigte, wobei insbesondere die Populärkultur – etwa Beat- und Rockmusik –, aber auch die Teilnahme an Protesten, an denen sich Städter*innen und Provinzler*innen gemeinsam beteiligten, zur „räumlichen und mentalen Entprovinzialisierung“ (85) beitrugen. Ein Studierendenprojekt der Universität Tübingen unter der Leitung von Gesa Ingendahl thematisiert die Protestkultur in der Universitäts- und Mittelstadt Tübingen. Gerade Universitätsstädte waren Zentren der neuen sozialen Bewegungen. Sie waren zugleich groß und klein, es trafen Provinzialismus und Weltbezug zusammen, wie es Walter Jens formulierte (90); auch wurde durch die hohe Zahl an Studierenden (in Tübingen etwa 20.000 von 70.000 Einwohner*innen) bei Protesten leicht eine gewisse „kritische Masse“ erreicht, was sich im Stadtbild widerspiegelte. Geradezu vorbildhaft manifestierten sich in Tübingen im Kleinen die alternativen Medien und Proteste, die in Deutschland (aber auch weltweit) die Welt in Atem hielten: Anti-Atomproteste (hier gegen ein Atomwaffenlager, Izabella Demirchyan, Marlene Hofmann), Proteste gegen Infrastrukturprojekte (hier gegen eine Stadtautobahn, Lukas Feilen), Herstellung einer medialen Gegenöffentlichkeit, um die eigenen Anliegen auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln (alternatives Stadtmagazin TÜTE, Inga Wilke). Wie die alternativen Proteste auch immer in ein bestimmtes kulturelles Milieu und eben auch alternative Kulturarbeit („Alternativ-“ und „Soziokultur“) eingebunden waren, stellt in einem weiteren Beitrag zur Universitäts- und Mittelstadt Münster Cordula Obergassel dar.
Der dritte Themenabschnitt behandelt verschiedene soziale Bewegungen und ihr „Ringen“, darunter die neue Frauenbewegung in der katholischen Provinz (Christine Bald), die Jugendzentren (Gunter Mahlerwein), die Studentenbewegung im Ruhrgebiet (Ulf Teichmann) sowie Umwelt- und Anti-AKW-Aktivismus in der Rhein-Main-Region (Matthias Lieb). Gerade Balds Beitrag zur neuen Frauenbewegung in Trier, Hunsrück und Eifel zeigt einmal mehr, wie mannigfaltig die Verbindungen zwischen städtischen und ländlichen aktivistischen Zentren waren und wie auch lokale Themen und die Einbindung in lokale Strukturen die Verbreitung der eigenen Ideen förderte – katholische Frauenvereine koexistierten nicht nur weiter friedlich nebenher, sondern nahmen auch Themen und Praxen der neuen Frauenbewegungen auf. In der Folge wurden die ursprünglich innovativen Bewegungen mit der allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung insgesamt unsichtbarer – was freilich für alle neuen sozialen Bewegungen gilt; hier werden die neuesten Entwicklungen (Fridays for Future und Co.) mit Spannung zu verfolgen sein.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das „Decentering“ der Forschung zu neuen sozialen Bewegungen selbst von den Rändern der historischen bzw. historisch arbeitenden Disziplinen wie Regionalgeschichte und Europäische Ethnologie/Volkskunde ausgeht. Tübingen dürfte hier die besterforschte Mittelstadt sein [1]. Während die Probleme, gegen die jeweils gekämpft wurde, regional sehr unterschiedlich waren, zeigen sich doch überregional gewisse Parallelitäten – gerade bei Protesten gegen Atom- oder Infrastrukturprojekte konnten die langwierigen Konflikte nur durch die Verwurzelung in der Region (informelle [Infra-]Strukturen, direkter Bezug der Einwohner*innen) überhaupt durchgestanden werden. Erfrischend ist, dass im Band bisher unbekannte Themen und Regionen auftauchen; nicht enthalten sind bekanntere Auseinandersetzungen (z. B. Wyhl, Gorleben), zu denen man leicht anderweitig fündig wird. Der Band widerlegt die angebliche Verschnarchtheit der Provinz und belegt, dass erstens auch abseits der Großstädte neue gesellschaftliche Strömungen entstanden und betont zweitens, dass kreative Potenziale gerade durch den Austausch von „Provinz“ und „Metropole“ entstanden. Vieles, was damals angelegt wurde – und heute verstärkt unter Rechtfertigungsdruck steht, etwa städtische Jugendarbeit, Freie Theater- und Kulturszene, aber auch das überaus erfolgreiche regionalisierte Produktmarketing – ist damals, teils gegen große Widerstände, entstanden. Der Band ist als Einführung zu historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungsthemen und -zugängen rund um die neuen sozialen Bewegungen in der Provinz als Lektüre sehr zu empfehlen.
Anmerkung
[1] Zum Beispiel im Fach: Bernd Jürgen Warneken: Mein 68 begann 65. Eine Tübinger Retrospektive. Tübingen 2018; Gesa Ingendahl u. Wiebke Ratzeburg (Hg.): Protest! Stricken, Besetzen, Blockieren in den 1970/80er Jahren. Eine Interventionsausstellung im Stadtmuseum Tübingen. Tübingen 2015.