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Aktuelle Rezensionen


Csilla Schell/Michael Prosser-Schell/Bertalan Pusztai (Hg.)

Re-Invention of Tradition in Ostmitteleuropa nach 1990. Neue, „gefundene“ und revitalisierte Feste mit Schwerpunkt auf Ungarn

(Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde de Deutschen des östlichen Europas 19), Münster/New York 2018, Waxmann, 257 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-3843-9
Rezensiert von Balázs Borsos
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2020

Das Paradoxon der Traditionsstiftung: Es war einmal oder niemals eine Tradition.

Dieser äußerst interessante Band ist das Resultat einer Kooperation, die sich zwischen dem Freiburger Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa und dem Lehrstuhl für Kommunikation- und Medienwissenschaften der Universität Szeged in den letzten Jahren entfaltet hat. Die Beiträge gehen zum einen auf die Tagung „Gefundene und erfundene lokale Feste und Festivals nach der Wende – zwischen ‚Ethnobusiness‘ und Selbstvergewisserung“ 2015 in Freiburg zurück, zum anderen versammelt der Band die Ergebnisse einer Studienexkursion der beiden Einrichtungen zum „Stifolder-Fesztivál“ in der ungarndeutschen Gemeinde Feked (Komitat Baranya) im Jahr 2016. Das Ziel der Publikation ist einerseits, die im Titel formulierte Problematik durch weitere Aspekte zu ergänzen und andererseits, die im deutschsprachigen Raum bisher weniger bekannten Phänomene vorzustellen. In Anlehnung an das von Eric Hobsbawm und Terence Ranger formulierte Konzept der „Invention of Tradition“ analysieren die Beiträge „neue Feste“ der deutschen Minderheit in ungarischen Gemeinden ebenso wie die „‚Wiederauffindung‘ und Revitalisierung“ einst vorhandener Traditionen, wobei in beiden Fällen vollkommen neuartige Ereignisse kreiert werden. Nach zwei einleitenden, umfassenderen Studien enthält der Band Fallanalysen.

Csilla Schell unternimmt den Versuch, in ihrem „Impulsbeitrag“ den globalen theoretischen und methodischen Rahmen des Bandes zusammenzufassen. Unter dem informativen Titel „‚Lasst uns eine Tradition machen!‘ Verdichtete Beobachtungen zur Wandlung des Festwesens und zum Phänomen der ‚Re-Invention of Tradition‘ nach der Wende in Ungarn“ geht es allerdings nicht nur um ungarnbezogene Fallbeispiele. Schell betont die Offenheit der einzelnen Beiträge auch für Ergebnisse aus Nachbardisziplinen, vor allem der Wirtschaftsanthropologie, da im Hintergrund der behandelten kulturellen Phänomene der Selbstvergewisserung und Identitätsstärkung oft ökonomische Überlegungen auszumachen seien. Der andere einleitende Beitrag des Mitherausgebers Bertalan Pusztai behandelt die im Band geschilderten Phänomene aus der Perspektive der Medienanthropologie. Bereits der Titel „Das Schicksal der Kultur und des Lokalen in der postmodernen Image-Produktion“ weist darauf hin, dass es dem Autor um das „‚Lokale‘ als differentia spezifika im definitorischen Verhältnis zur globalisierten (medialen) Kultur“ geht, wie Schell es zusammenfasst (15).

Den zentralen Teil des Bandes bilden vier Studien, die die Ergebnisse von Feldforschungen in ungarischen Gemeinden darstellen. Zwei von ihnen sind ungarndeutsche Minderheitendörfer, die zumindest in der ungarischen Volkskunde gut bekannt sind: Feked (Komitat Baranya) und Hajós (Komitat Bács-Kiskun). Die beiden anderen Arbeiten haben die Gemeinde Nagyszakácsi (Komitat Somogy) beziehungsweise mehrere Dörfer in der Region Szatmár als Forschungsfeld gewählt. Beide Aufsätze zu den ungarndeutschen Fallbeispielen, die mit jeweils nahezu vierzig Seiten die längsten des Bandes sind, stammen vom Mitherausgeber Michael Prosser zusammen mit Kolleg*innen. Bei der Analyse des Hajóser Weinfestes sind die beiden Szegeder Ethnografen László Mód und András Simon, ausgezeichnete Kenner der ungarischen Weinkultur, beteiligt. Bei der volkskundlich-anthropologischen Bearbeitung des um die lokale Wurstsorte „Stifolder“ organisierten Festivals in Feked begleiteten Prosser sieben Studierende (Julia August, Uwe Baumann, Nicole Nicklas, Rahma Osman Ali, Saskia Pably, David Priedemann und Ruth Weiand). Das entlang der Weinkeller in Hajós organisierte Weinfest ist schon seit längerer Zeit ein wichtiges Element der lokalen kulturellen Identität und die Studie zeichnet seinen Wandel nach, von den staatssozialistischen Jahrzehnten über die Kapitalisierungstendenzen nach 1990 bis zur Eingliederung des Festivals in breitere europäische und globale Kontexte. Die Hajóser und ähnliche ungarische Wein- oder Sankt Urban/Orban-Feste sind mittlerweile aus zahlreichen Forschungen bekannt – der deutschsprachigen Leserschaft sind u. a. die Arbeiten von László Lukács (Objekte, Lebensformen, Volksbräuche. Thematische volkskundliche Abhandlungen. Székesfehérvár 2016) zu empfehlen. Im Falle des „Stifolder“-Festivals in Feked 2016 ging es in erster Linie um die Dokumentation des Ereignisses, doch der ethnografische Bericht ist mit Kommentaren ergänzt und wird abschließend von einer wissenschaftlichen Interpretation abgerundet.

Der Beitrag von Márta Kiss basiert auf ihrer Dissertation (A „turisztikai táj“ kollektív megteremtése és fenntartása [Deutsch etwa: Die kollektive Erschaffung und Erhaltung der „touristischen Landschaft“]; verteidigt 2014, Corvinus-Universität Budapest). Anhand ihrer Feldforschungen in der Region an der oberen Theiß (Tisza, vor allem in Panyola, Szatmárcseke, Tiszacsécse und Túristvándi) stellt sie Rolle und Bedeutung des jährlich stattfindenden regionalen „Sathmarer Festivals“ im Zusammenhang mit dem lokalen kulturellen und wirtschaftlichen Leben sowie mit den Bemühungen um die Erhaltung der touristischen Anziehungskraft der Region dar. Der Aufsatz ist in erster Linie der Tourismusforschung verpflichtet, doch arbeitet die Autorin auch mit wirtschaftsanthropologischen und -soziologischen Methoden. Bedauerlich kurz ist der Beitrag von Jenő Bódi, Mitarbeiter der Universität Pécs, der die Geschichte und die Kontexte des gastronomischen Festivals in Nagyszakácsi (Komitat Somogy) unter die Lupe nimmt, das 20 Jahre lang, von 1993 bis 2013, jährlich stattgefunden hat. Titel und Thema des Festivals war übersetzt etwa „Auf den Spuren königlicher Köche“ und geht auf eine traditionsstiftende Anspielung auf den Namen der Ortschaft zurück (szakács = Koch). Bódi schildert, welche Widersprüche und Spannungen die Kommerzialisierung der lokalen Kultur mit sich brachte, was letztendlich zum Aus für das Festival führte. Der Rezensent möchte hier darauf hinweisen, dass das Festival jüngst wiederbelebt wurde – wenn der online Programmkalender (https://kaposvariprogramok.hu/nagyszakacsi [8.12.2019] glaubwürdig ist – und dass es sich vielleicht lohnen würde, den wissenschaftlichen Faden wieder aufzunehmen.

Die nächsten beiden Beiträge führen nach Tschechien und auf die Halbinsel Krim. Hana Dvořáková, Direktorin des Mährischen Landesmuseum Brno und Leiterin des dortigen Ethnografischen Instituts, stellt eine Gruppe der kroatischen Minderheit in Mähren vor, deren Existenz sowohl in der deutschsprachigen, als auch in der ungarischen Fachöffentlichkeit relativ unbekannt ist: die seit dem 16. Jahrhundert vor der Expansion des Osmanischen Reiches bis Mähren geflüchteten Kroaten, ein Zweig der sogenannten „gradišćanski Hrvati“. Von ihnen sind diejenigen, die in einer mehrheitlich slawischen Umgebung lebten, assimiliert worden, aber diejenigen, die in deutschen Dörfern angesiedelt worden sind, konnten ihre Sprache, Tracht und andere Elemente ihrer Kultur bis in die 1920er Jahre erhalten. Trotz ihrer slawischen Herkunft wurden sie im „Dritten Reich“ als Deutsche verstanden und deshalb dann nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegern als „Kollaborateure“ angesehen und kollektiv damit bestraft, dass die übrig gebliebenen kroatischen Familien umgesiedelt und auf 118 Ortschaften verteilt wurden. Die Angehörigen der so zerstreuten Gruppe durften später nur zum Allerseelentag in ihre Heimatdörfer zurückkehren, um die Gräber ihrer Ahnen zu pflegen. Erst nach der Wende 1989 wurden die Beziehungen wieder offener. Die Kirchweih in Jevišovka am Fest Mariä Geburt (8. September) ist dafür ein integrierender und identitätsbewahrender Anlass. Während es 1991 lediglich 600 Personen in Tschechien gab, die sich als Kroat*innen bekannten, lag deren Zahl zehn Jahre später bereits bei 1.585.

Neill Martin, Universitätsdozent in Edinburgh, weicht mit seinem Beitrag über das „Kosakentum auf der Krim“ vor allem wegen seines Untersuchungsgebiets von der Konzeption des Bandes ab. Seine Untersuchung basiert auf einer (wegen der russischen Okkupation unterbrochenen) Feldforschung auf der Halbinsel Krim (2012–2013) und analysiert, wie und warum sich die Bevölkerung um die Hafenstadt Kertsch eine früher nichtexistierende kosakische Gruppenidentität aufbaut.

Einer der – für den Rezensenten – interessantesten Beiträge stammt aus der Feder der jüngsten Autorin des Bandes. Édua Csörsz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Szeged, beschäftigt sich mit dem „Nagy Kurultáj“, einem Festival, das nach seiner eigenen Definition die „Große Stammesversammlung“ der „hunnischen und türkischen Stämme und Völker“ ist und der „Feier und Erhaltung“ der – vermeintlichen – „Urtraditionen“ gilt. Die Veranstaltung intendiert also eine Zusammenfassung aller (einst und angeblich) mit den Hunnen und Türken verwandten Völker vom Norden Zyperns bis Jakutien (Sacha). Der Initiator und Hauptorganisator des Festivals behauptet, durch eigene genetische Forschungen bewiesen zu haben, dass die Ungarn (Magyaren) und die Madjar-Gruppe in Kasachstan verwandt sind. Aus dem ersten Treffen von „Magyaren“ und „Madjaren“ (2007) hat sich die heute groß angelegte Veranstaltung entwickelt. Diese Thesen werden von Fachwissenschaftler*innen mehrheitlich nicht geteilt und Édua Csörsz geht es nicht darum, dazu Stellung zu nehmen. Sie interessiert sich für das Instrumentarium dieser Traditionsstiftung riesigen Ausmaßes, für die Formulierung und Instrumentalisierung der dahinterstehenden Mythologie. Ein interessanter weiterführender Aspekt eröffnet sich – wenn der Rezensent eine Anregung zur Sprache bringen darf – im Zusammenhang mit der wachsenden politischen Unterstützung des Festivals und dass in diesem Zusammenhang die bewiesene Tatsache der magyarisch-finnougrischen Verwandtschaft in Frage gestellt wird. Dieser Gedanke korrespondiert mit aktuellen politischen Zielsetzungen der heutigen Regierung (z. B. türkische Beziehungen, Ostpolitik im Zeichen der Öffnung „keleti nyitás“) oder, wie es der Vize-Präsident des ungarischen Parlaments ausdrückte: „Im Festival leben die teils durch die Mythologie, teils durch die Wissenschaft bewiesenen historischen Tatsachen friedlich beieinander.“ Gerade hier stecken die Gefahren, wenn die Grenzen zwischen Phantasie und wissenschaftlich belegbaren Fakten verschwimmen. Im Jahr 2018 wurde diese Ideologie durch die Gründung eines Instituts zur Erforschung des Ungarntums (Magyarságkutató Intézet) institutionalisiert, das von der Regierung politisch und finanziell favorisiert wird (aber bisher nur sehr spärlich eine wissenschaftliche Tätigkeit zeigt) und das als Gegenpol zu den humanwissenschaftlichen Instituten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) dient.

Im Band helfen zahlreiche informative Bilder den Leser*innen, sich in die „Welt der Identitätsstifter“ einzufühlen. Am Ende des Buches steht ein gemeinsames Literaturverzeichnis für alle Beiträge – eine Lösung wohl aus Platzmangel. Die Reihenfolge der Literatureinträge, beginnend jeweils mit den neuesten Publikationen der Autor*innen, halte ich persönlich weder für logisch, noch für praktisch. Die Herausgeber*innen haben in das umfangreiche Verzeichnis nicht nur deutsch- und englischsprachige Werke aufgenommen, sondern auch ungarische und tschechische Titel, für die bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Lukács 2012, Muskovics 2011) auch deutsche Übersetzungen angegeben sind. Das sind jedoch letztendlich unwichtige Details – die Hauptsache ist, dass wir der Freiburger Werkstatt wieder einen anspruchsvollen Band verdanken, dessen interessante Beiträge für Vertreter*innen mehrerer Fachrichtungen inspirierende Einsichten liefern.