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Andrea Züger

Leben schreiben. Eine qualitative Studie zu Praktiken des autobiografischen Schreibens

(Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 24), Zürich 2019, Chronos, 93 Seiten, ISBN 978-3-0340-1521-9
Rezensiert von Luca Hönick
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020

Das autobiografische Schreiben von Laien und unbekannten Personen habe in den letzten zehn Jahren zugenommen, schreibt Andrea Züger, Absolventin der Germanistik, Volkskunde und Sozialpädagogik der Universität Zürich, in ihrer kulturwissenschaftlichen Lizentiatsarbeit, aber in der gegenwärtigen Forschung fehlten entsprechende Untersuchungen. Besonders die Auseinandersetzung mit den Autobiograf*innen selbst, „mit dem Prozess des autobiografischen Schreibens und der Herstellung von Bedeutung durch die Biografen“ (22), finde bislang kaum Beachtung.

Ziel der Autorin ist es, nicht die geschriebenen Autobiografien ins Zentrum der Untersuchung zu stellen, sondern das „Erleben und Tun der Autobiografen und ihre Deutungen“ während des gesamten Vorgangs des „Werdens und Schaffens […] von der Idee bis zum fertigen Werk“ (9). Dazu hat die Autorin leitfadenorientierte Interviews mit vier Frauen im Alter zwischen 60 und 70 Jahren geführt, die alle zum Zeitpunkt der Untersuchung entweder an einem sogenannten Biografiekurs teilnahmen oder die zuvor teilgenommen hatten. Das empirische Material analysiert Züger aus drei Perspektiven, welche sie als „konkretes Machen“, „biografisches Machen“ und „kulturanalytisches Machen“ beschreibt (10).

Im ersten, gegenüber den beiden folgenden umfangreichsten Abschnitt widmet sich Züger vor allem den Erinnerungspraktiken sowie dem Aufbau und der Auswahl der autobiografischen Erzählung. Dabei diskutiert sie überwiegend die Herstellung von Erinnerungen, die Verhandlung ihres Wahrheitsgehalts sowie auch den Einfluss, den die Adressat*innenwahl, der soziale und literarische Rahmen und Atmosphäre und Stimmung auf die Erinnerungen haben. Besonders im erstgenannten Punkt sieht Züger eine wesentliche Erkenntnis ihrer Arbeit: dass nämlich die von ihr untersuchten vier Interviewpartnerinnen, anders als von ihr erhofft, über das Zustandekommen ihrer Erinnerungen nicht reflektieren würden. So würden sich die Frauen über die in der Forschung „viel verwendeten Begriffe ‚Konstruiertheit‘, ‚Fragilität‘ und ‚Wandelbarkeit‘ der Erinnerungen“ (83) keine Gedanken machen: „Das Herstellen von Erinnerungen wird im Alltag nicht dargestellt und rekonstruiert. Eine Reflexion über Erinnerungspraktiken erfolgt nicht. Was bleibt, ist ein ,Es ist dann einfach so gekommen‘ [...] oder ein Feststellen, dass die Erinnerungen einfach schon da sind.“ (25)

Der zweite Abschnitt erläutert den Einfluss des autobiografischen Schreibens auf die Autobiografinnen und ihre Lebensführung. Anschließend folgt der letzte und kürzeste der drei Teile. Darin thematisiert Züger das „kulturanalytische Machen“, wobei sie vor allem der Frage nach den jeweiligen Bedeutungszuschreibungen nachgeht. Hierbei reflektiert sie auch knapp die „Kulturtechnik des Vergleichs“ als „identitätsformendes Mittel“ (79), durch welches dem Schreiben der eigenen Autobiografie Sinn gegeben werde.

Nach Abschluss der Lektüre muss vor allem Andrea Zügers vielversprechende Fragestellung positiv hervorgehoben werden, welche die gegenwärtige Forschung durchaus um wichtige Perspektiven ergänzen könnte. Der Autorin ist es überdies gelungen, eine spannende Auswahl an Interviewpartnerinnen zu präsentieren und auf Basis der geführten Gespräche erste Ansätze für weiterführende Untersuchungen zu ermöglichen. Insgesamt bleiben jedoch viele Fragen ungeklärt. So hätte man einen intensiveren Einblick in das empirische Material erwarten können, welches in der Publikation nicht deutlich genug in den Vordergrund tritt. Wenigstens Auszüge aus den Interviewtranskripten im Anhang wären dem*der interessierten Leser*in sehr entgegen gekommen. Ebenso wäre eine nachvollziehbarere theoretische Fundierung der zentralen Begriffe und Überlegungen der allgemeinen Kohärenz sowie dem damit eng verbundenen Erkenntniswert des Werks dienlich gewesen. Die doch sehr hohen, in den Kapitelüberschriften formulierten Ansprüche können den geweckten Erwartungen nicht ganz gerecht werden. Insofern gelingt es Andrea Züger in erster Linie, wichtige Fragen zu stellen und erste Möglichkeiten aufzuzeigen, wie diesen zukünftig tiefgreifender nachgegangen werden könnte.