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Anna Eckert

Respektabler Alltag. Eine Ethnographie von Erwerbslosigkeit

Berlin 2018, Panama, 287 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-938714-61-4
Rezensiert von Christoph Gille
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020

Spätestens seit der von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel 1933 veröffentlichten Marienthal-Studie stellen Analysen von Erwerbslosigkeit ein zentrales Thema sozialwissenschaftlicher Forschung dar. Und obwohl auch seit dieser Studie der Gewinn ethnografischer Methoden für die Erkundung des Themas unbestritten ist, findet man sie in der aktuellen Erwerbslosenforschung kaum. So ist Anna Eckerts Studie eine der wenigen der letzten zwei Jahrzehnte und in diesem Umfang wahrscheinlich die einzige, die sich Erwerbslosigkeit dezidiert ethnografisch nähert. Im Rahmen des BMBF-finanzierten Forschungsprojekts „Strategien alltäglicher Überlebenssicherung“ am Thünen-Institut für Regionalentwickelung verbringt die Soziologin in den Jahren 2007 und 2008 mehr als ein Jahr in Wittenberge. Eckert beobachtet das Leben in der Erwerbslosigkeit beim Einkaufen, auf Schulwegen, im öffentlichen Nahverkehr, im Kleingarten und bei privaten Zusammenkünften. Sie arbeitet an der Lebensmitteltafel mit, nimmt an einer Bildungsmaßnahme teil und führt zahlreiche Gespräche mit Expert*innen und erwerbslosen Männern und Frauen.

Die Ergebnisse ihrer Analysen stellt Eckert auf knapp 300 Seiten in der schön gestalteten Monografie „Respektabler Alltag. Eine Ethnographie von Erwerbslosigkeit“ vor. Im Zentrum steht die Erkundung der Frage, welche Praktiken und Subjektformen mit dem Phänomen der Erwerbslosigkeit zusammenhängen. Spezifischer möchte Eckert klären, „über welche individuellen Handlungsfähigkeiten Erwerbslose in ihrem räumlichen, historischen und kulturellen Kontext verfügen“ (41). Dabei versteht sie unter Handlungsfähigkeit mit Hanna Meißner die Fähigkeit, sich zu den Verhältnissen zu verhalten, diese also nicht nur zu reproduzieren, und legt damit ein relationales Verständnis von Subjekt und Struktur offen. Auch wenn das „Doing Unemployed“ im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht, gelingt es ihr gleichermaßen, wesentliche Charakteristika des gesellschaftlichen Raumes aufzuschließen, der Erwerblosen zur Verfügung steht und den sie koproduzieren.

Im ersten Kapitel führt Eckert dazu sehr komprimiert in zentrale wissenschaftliche Diskurse zur Erwerbslosigkeit ein, fasst empirische Erkenntnisse zusammen und benennt zentrale Bezugskonzepte. Methodologisch verortet sie die Studie in der Praxeologie, in der mit Bezug auf u. a. Utz Jeggle, Rolf Lindner, Stefan Hirschhauer und Andreas Reckwitz Kultur als Produktion verstanden wird, und greift im Weiteren insbesondere immer wieder auf Überlegungen von Erving Goffman und Pierre Bourdieu zurück.

Im zweiten Kapitel stellt die Autorin zunächst das spezifische Feld, die „depravierte Kleinstadt“ (47) Wittenberge, genauer vor. Hier tut sich eine weitere Parallele zur Marienthal-Studie auf: Wie die österreichische Kleinstadt in der Weltwirtschaftskrise verliert auch Wittenberge um 1992 innerhalb kürzester Zeit 7.500 industrielle Arbeitsplätze und damit einen Großteil der verfügbaren Erwerbsarbeit der Stadt. Diesen umfassenden Bruch beobachtet Eckert allerdings nicht während der Krise, sondern 15 Jahre später. Damit leistet sie einen Beitrag zum Verständnis der Langzeitfolgen eines Wandels, der auch noch nach anderthalb Jahrzehnten tief in den Alltag eingeschrieben ist. Im anschließenden methodischen Teil informiert sie über das Vorgehen bei der Erhebung, die Auswahl der Gesprächspartner*innen und die Auswertung des Materials. In einer Methodenreflexion gibt sie transparent Auskunft über Schwierigkeiten in einem Feld, das durch Stigmatisierungen und statussichernde Grenzziehungen geprägt ist – interessant für Wissenschaftler*innen, die planen selber zum Thema zu forschen.

Die Ergebnisse werden im dritten Kapitel vorgestellt. Eckert beginnt mit einer Einführung in die Transformation des Sozialstaats, in der sich spätestens mit der Hartz-Gesetzgebung eine mikroökonomische Deutung von Arbeitslosigkeit durchsetzt, die „individuelles Verhalten in den Fokus“ (99) rücke. Danach folgen zwei Ortsporträts und die Darstellung der mit ihnen verbundenen Praktiken. Am ersten Ort, einer Lebensmitteltafel, in der Erwerbslose als Ein-Euro-Jobber*innen tätig sind, arbeitet sie Praktiken der Macht, der Arbeit, der Zeit, der Kommunikation und des Gebens heraus, die den Ort und die verfügbaren Subjektformen gleichermaßen charakterisieren. Die Lebensmittelausgabe wird als ein Raum erkennbar, in dem Erwerbslose diszipliniert werden und sich zahlreichen Machtmechanismen fügen. Gleichzeitig ergeben sich Handlungsspielräume im Umgang mit diesen Kontrollen, z. B. als Ablehnung, Ausweichung oder sekundäre Ausbeutung. Am zweiten Ort, einer sozialstaatlichen „Weiterbildungsmaßnahme“ für Menschen mit „gesundheitlichen Vermittlungshemmnissen“ – zumeist Alkoholabhängigkeit –, erscheinen die Paradoxien von Disziplinierung und Eigensinn noch stärker. In den beschriebenen Praktiken der Selbstpräsentation, Routinisierung, Anwesenheit und Kontrolle treten einerseits die kontinuierlichen Gefährdungen der Respektabilität der Erwerbslosen hervor, gegen die sie sich andererseits durch autonome Praktiken entziehen oder wehren, beispielsweise im „Doing Absence“. Ausgerechnet der heimliche Alkoholkonsum wird zum Zeichen eigensinniger Vergemeinschaftung und Ausdruck kollektiver Handlungsfähigkeit.

Im zweiten Abschnitt von Kapitel 3 untersucht Eckert Praktiken einzelner Erwerbsloser in ihrem biografischen und sozialen Kontext in fünf Einzelporträts. Die Auswahl folgt einer kontrastierenden Logik, die Personen unterscheiden sich unter anderem in ihrem Alter, ihrem Familien- und Bildungsstand sowie ihrem Vermögensstatus. Unter den Porträtierten findet sich ebenso die alleinerziehende 30-jährige Jenny Pawlik, die die Sorgearbeit für ihren fünfjährigen Sohn in einer unkonventionellen Familienkonstellation sicherstellt, wie der verheiratete 52-jährige Arne Krüger, der den Alltag im eigenen Haus am Stadtrand unter anderem durch umfangreiche Subsistenzwirtschaft strukturiert. Auch wenn Eckert darauf zielt, die dargestellten Menschen als „unvergleichliche Personen vertraut zu machen“ (164), zeigen sich in den zentralen Praktiken doch spezifische Typen des „Doing Unemployed“. Eckert bezeichnet sie als „Kontrolle und Sorgfalt“, „Kümmern und Bescheid wissen“, „Befreunden und Behaupten“, „Versorgen und Verteidigen“ und „Reduktion und Fürsorge“. Sie zeichnet detailliert die Handlungslogiken dieser Praktiken nach sowie die Kontexte, aus denen sie erwachsen. Einerseits sind sie Ausdruck der Souveränitätsverluste, Identitätsgefährdungen und materiellen Deprivationen, die mit der Erwerbslosigkeit einhergehen. Anderseits zeigen sie, wie die Porträtierten Handlungsfähigkeit in dieser Situation des Ausschlusses herstellen.

Diese Souveränitätsbehauptungen sind es auch, denen Eckert im zusammenfassenden und abschließenden Kapitel besondere Aufmerksamkeit widmet. Individualisierende Zuschreibungen haben sich in die Subjektivierungen der Erwerbslosen eingeschrieben. Dem drohenden Verlust von Respektabilität stellen sie Praktiken der Selbstversorgung, Gesundheit, des Konsums, der Informiertheit, Fürsorge und der Geselligkeit gegenüber. Damit gelingt Eckert, was sie als zentrales Anliegen formuliert hat: Formen des „Doing Unemployed“ als relationale Handlungsfähigkeiten im spezifischen Kontext herauszuarbeiten. Mit Bezug auf Luc Boltanski schließt Eckert mit einer normativen, internen und emischen Kritik an den sozialstaatlichen Maßnahmen, die nicht Gleichheit sondern Differenz produzieren, die Teilnehmende entgegen ihres programmatischen Auftrags nicht als eigenverantwortliche Subjekte anrufen, keine Posterwerbsfähigkeiten vermitteln und so einzig erlauben, in der Abgrenzung Sinn zu finden.

Eckerts Analyse der Subjektivierung von Erwerbslosigkeit bestätigt Erkenntnisse, die auch an anderen Stellen in der Erwerbslosenforschung in den letzten Jahren erarbeitet wurden. Gleichzeitig leistet sie eine einzigartige Erweiterung: Durch den ethnografischen Ansatz legt Eckert das Leben in der Erwerbslosigkeit mit Blick auf den gesamten Alltag frei und das ohne einer sozialpolitischen Programmatik zu folgen, wie sie den zahlreichen Evaluationen der Arbeitsmarktpolitik innewohnt. Durch die Ethnografie können überraschende Einsichten in das Leben in der Erwerbslosigkeit gewonnen werden, die sich in den Routinen und Interaktionen des Alltags zeigen. Dazu gehören die Extensivierung von Arbeit in der Beschäftigungsmaßnahme, der komplizenhafte Tausch von Toleranz von Regelverletzungen gegen Kooperation in der Weiterbildungsmaßnahme, die Kontrollpraktiken eines stark begrenzten Konsums bei Andrea Jahn, die moralische Distinktion über Spendenpraktiken bei Ralf Berger und vieles andere. In dichten Beschreibungen zeigt Eckert die Widersprüche einer Arbeitsgesellschaft auf, die eben nicht für alle Arbeit bereithält und deren sozialstaatliche Institutionen Ungleichheiten fortschreiben. Es sind die Erwerbslosen selbst, die in der Gestaltung ihres Alltags Antworten auf diese Dilemmata finden müssen. Wenn auch ohne expliziten Bezug setzt Eckert so auch die Tradition einer Wohlfahrtsstaatenforschung von unten fort, wie sie unter anderem bei Heinz Steinert, Arno Pilgram, Helga Cremer-Schäfer oder Ellen Bareis entwickelt wurde. Dass nicht alle methodologischen Überlegungen – etwa zur Praxeologie, Biografietheorie oder beim gleichzeitigen Rückgriff auf sehr unterschiedliche relationale Konzepte von z. B. Pierre Bourdieu, Erving Goffman und Michel Foucault – schlüssig und widerspruchsfrei ausgearbeitet sind, tritt dabei in den Hintergrund. Einen besonderen Verdienst erwirbt Anna Eckert auch dadurch, dass sie das Leben von Menschen erkundet, die bereits sehr lange Zeit erwerbslos sind, im Fall der Porträtierten meist mehr als zehn Jahre. Die Erkenntnisse über mögliche Subjektpositionen und Praktiken von Personen, die ihre Erwerbslosigkeit nicht mehr als einen temporären Zustand erleben, sind im Angesicht eines auch in der Gegenwart tief gespaltenen Arbeitsmarktes hoch relevant.