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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Thomas Spohn

Bauernhöfe im Nationalsozialismus. Die Neubauten der Reichsumsiedlungsgesellschaft (Ruges) in Norddeutschland

(Quellen und Studien zur Regionalgeschichte Niedersachsens 15), Cloppenburg 2019, Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum, 195 Seiten mit 219 Abbildungen, meist farbig, 10 Tabellen, ISBN 978-3-938061-43-5
Rezensiert von Thomas Naumann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2020

Erneut liegt mit dieser Publikation eine Untersuchung vor, die die Auswirkungen des nationalsozialistischen Terrorstaates auf die Landbevölkerung zum Thema hat, hier die Umsiedlung von Bauernfamilien im Zuge der Gewinnung von Flächen für hauptsächlich militärische Zwecke. Hierzu werden die Tätigkeiten der einschlägigen Organe des NS-Staates unter die Lupe genommen – und die Gründlichkeit, mit der der Autor Thomas Spohn, amtlicher Denkmalpfleger im Ruhestand und ausgewiesener Bauforscher der ländlichen Architektur, hierbei vorgeht, lässt nichts zu wünschen übrig.

Im Editorial wird darauf hingewiesen, dass es in einer Zeit, in der das Terrorsystem des „Dritten Reichs“ von einschlägigen rechten politischen und gesellschaftlichen Kreisen öffentlich relativiert, verharmlost und als abgeschlossen betrachtet wird, umso notwendiger erscheint darauf hinzuweisen, dass Spuren dieses menschenverachtend handelnden Staates bis in unsere Gegenwart führen und dass diese Spuren anhand von Archivalien auch sichtbar gemacht werden können. Im vorliegenden Fall geschieht dies auch einmal durch bauliche Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus auf dem Land. Dies ist insofern ein Novum, als bislang wenig beachtet und weitgehend unerforscht geblieben ist, dass das NS-Regime auch verantwortlich zeichnete für Privatbauten – insgesamt handelt es sich um fast 1 100 Neubauernhöfe, die, verstreut oder zusammengefasst in ganzen Ortsteilen und Ortschaften, bis heute bestehen. Wer hätte gewusst, dass insgesamt 32 000 Menschen aus 7 350 Haushalten zwangsumgesiedelt wurden, weil einzelne Bauernhöfe oder ganze Siedlungen als Teil der Kriegsvorbereitungen zusammen- bzw. niedergelegt werden mussten, um z. B. Platz zu schaffen für größere oder neue Truppenübungsplätze oder für den Bau von Industrieanlagen (u. a. VW in Fallingbostel, Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten „Hermann Göring“, Reichsautobahn, Westwall, Mittellandkanal usw.). Mit der Herausgabe der Monografie, so ebenfalls im Editorial, sei es auch ein Anliegen des Museumsdorfes Cloppenburg – selbst in der NS-Zeit als Freilichtmuseum ausgebaut und mit entsprechendem Erbe versehen und als Museum der hauptsächlich von Umsiedlungen betroffenen Region Niedersachsens – „die seinerzeitigen baukulturellen Aktivitäten und deren weltanschauliche Hintergründe transparent zu machen. Beides muss bekannt sein, um adäquat mit diesem Erbe in Gegenwart und Zukunft umgehen zu können.“ (9)

Verwaltungstechnisch im Mittelpunkt der Umsiedlung stand die Tätigkeit der „Reichsumsiedlungsgesellschaft“, kurz „Ruges“, einer Dienststelle der Wehrmacht in Berlin mit 50 Zweig- und Nebenstellen und 20 örtlichen Hoch- und Kulturbauleitungen und vielerlei Verwaltungszweigen, die der Hauptakteur im Enteignen und Niederlegen von Hofstellen und ganzen Dörfern und im Ausfindigmachen neuer Grundstücke für Neubauernhöfe der enteigneten Bauern war. Grundlage der Tätigkeit der Ruges war das „Gesetz über die Landbeschaffung für Zwecke der Wehrmacht“ vom 29. März 1935. Der Titel der Arbeit legt zwar nahe, dass sich das Untersuchungsgebiet auf Norddeutschland beschränkt, doch da die Tätigkeit der Ruges sich auf das ganze „Dritte Reich“ ausdehnte, werden folgerichtig auch mecklenburgisch-vorpommersche, sachsen-anhaltinische, bayerische, badische, württembergische und hessische Gebiete mit berücksichtigt, alle Regionen eben, in denen für militärische und militärisch-wirtschaftliche Zwecke benötigtes Gelände eingerichtet wurde.

In Teil 1 (17–55) wird die Arbeit der Ruges in den Jahren 1935–1945 im Einzelnen dargelegt. Der Fokus ist zunächst auf die betroffenen, zur Absiedlung vorgesehenen Altsiedlungen, auf die dort bestehenden Altbauten und Standorte und deren meist alteingesessene Landwirte gerichtet, ehe die Planungen für die als Ersatz zu errichtenden neuen Gehöfte und Dörfer und deren Planer und Architekten in den Blick genommen werden. Hier wie auch im folgenden Kapitel werden zudem aufschlussreiche biografische Exkurse der Gestalter, die sich nicht selten als überzeugte Nationalsozialisten hervortaten, eingeschoben. Im Detail analysiert der Autor die entstehenden neuen Gehöfte bezüglich ihres Bautyps, der Baumaterialien, der Baugestalt und der technischen Ausstattung. Im zweiten Teil (57–110) werden die Maßnahmen der Ruges auch in den Rahmen der deutschen Siedlungstätigkeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gestellt. Damit wird besonders deutlich, dass Umsiedlungen aufgrund staatlichen Handelns und staatlicher Willkür keine Erfindung des „Dritten Reichs“ waren, sondern dass sie ihre oft auch schon unrühmliche Vorgeschichte hatten, nun aber auf die Spitze getrieben wurden. Zur Vorgeschichte wird die Binnensiedlung im „Altreich“ behandelt sowie die „West-Ost-Siedlung“ bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dann geht es aber auch in diesem Kapitel vorrangig um die Art der Umsiedlungen in Nazi-Deutschland, jetzt vorrangig unter dem Aspekt der Art des Bauens, um die „Gehöftplanungen im Spannungsfeld von Tradition und Moderne“. Hier rücken die Tätigkeiten der Siedlungsgesellschaften einzelner deutscher Länder von Baden bis Westfalen von 1933–1937 in den Blick und sodann die Siedlungen bzw. Aussiedlungen infolge der Truppenübungsplätze in Wildflecken, Hammelburg, Grafenwöhr und Hohenfels in der Zeit von 1935–1943. Die für Neubauernsiedlungen ausgeschriebenen Wettbewerbe, die von 1934–1941 stattfanden, charakterisieren das Bemühen, zu einer „Klärung der zukünftigen Konzeption von Bauernhöfen im Nationalsozialismus“ zu kommen (91), was aber nie wirklich gelang. Die besonders perfiden Planungen für den Osten, d. h. für die okkupierten Gebiete in Osteuropa, die 1939 sofort nach Beginn des Krieges begannen, unter dem Zeichen der „Germanisierung des Ostens“ standen und deren Ausführung alleine in die Zuständigkeit der SS fiel, schließen sich an. Der „Zusammenfassung“ genannte Abschnitt, der Teil 2 beendet, ist eher ein zum Nachdenken anregendes Fazit im Hinblick auf die Ruges und ihre 10-jährige Arbeit. Es ist ein Blick auf ihr Ende und auf die Folgen der „Absiedlungen“, ein Blick auf die „alte Heimat“ und die „neue Heimat“, und zwar auch aus der Sicht der gegenwärtigen Nachfolgegeneration der von Umsiedlung betroffenen Bewohner nach 1945. Auch werden hier nochmals Bezüge hergestellt zu früheren, bis in das 17. Jahrhundert (Festungsbau) zurückliegenden Zwangsumsiedlungen, zur Anlage von Talsperren seit dem späten 19. Jahrhundert und zu Umsiedlungsmaßnahmen nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Erweiterung von vorhandenen Truppenübungsplätzen, die von den US-Amerikanern und später teilweise von der Bundeswehr in Besitz genommen wurden. Ebenso werden der Autobahnbau und der Braunkohletagebau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtigerweise als Verursacher von Zwangsumsiedlungen und der Auflösung ganzer Dörfer aufgeführt. Bei all dieser Einordnung der Tätigkeit der Ruges in die Historie, so stellt der Autor klar, „verbietet sich doch eine Relativierung und Verharmlosung der bürokratischen Arbeitsabläufe der Ruges durch den Verweis auf andere Umsiedlungsmaßnahmen früherer oder späterer Zeit: Gründung und Tätigkeit der Ruges sind von der Planung und Vorbereitung des Eroberungs- und Vernichtungskrieges des faschistischen Deutschlands wie von der Judenvernichtung nicht zu trennen.“ (106)

In Teil 3 (111–175), der nicht ganz nachvollziehbar mit „Katalog“ betitelt wird, wendet sich Spohn intensiv vor allem den umfangreichsten Maßnahmen der Ruges zu: den infolge der Anlage und Erweiterung von (heute noch bestehenden) Truppenübungsplätzen, Schießplätzen und der durch die „Reichswerke Hermann Göring“ Verdrängten und sodann den hierfür beschafften Ersatzgrundstücken und erstellten Neubauernhöfen. Für diese militärischen Großanlagen wurden gewaltige Flächen requiriert, die zu den umfangreichsten Zwangsumsiedlungen führten. Es sind dies der Truppenübungsplatz Bergen (Landkreis Celle) – hierfür wurden 25 000 ha zusammengefasst und für 150 Millionen RM gekauft; 4 000 Personen auf 500 Höfen wurden verdrängt; der Schießplatz Wahn der Firma Krupp (Landkreis Emsland), dessen Erweiterung ab 1936 das gesamte Dorf Wahn mit über 1 000 Einwohner*innen zum Opfer fiel. Die 199 Familien wurden in diesem Fall in 58 verschiedene Orte zerstreut. Sodann wird das 147 qkm umfassende Gelände für die „Reichswerke Hermann Göring“ (Erzabbau) aufgeführt, auf dem 20 000 Menschen auf fruchtbarem Boden lebten, und schließlich die Erweiterung des seit 1892 bestehenden Truppenübungsplatzes Senne (Landkreise Gütersloh, Lippe, Paderborn), dem 1939 zunächst das gesamte Dorf Haustenbeck mit 222 Häusern weichen musste, später folgten nochmals Teile anderer Dörfer. Die weiteren Kapitel des 3. Teils gehen sehr gründlich und detailliert auf die Neusiedlungen ein, die auch mittels enteigneter Rittergüter und durch Inbesitznahme von Domänen zustande kamen, und hier vor allem auch auf die errichteten Bautypen. Zahlreiche Lage- und Baupläne und besonders auch aussagekräftige Fotos des heutigen Erscheinungsbildes der Neubauernhöfe ergeben ein umfassendes Bild des Geschehens. Teil 4 (177–195) besteht aus vier Anhängen: Abkürzungsverzeichnis, Tabellennachweis, Literatur und Abbildungsnachweise.

Das Buch bringt sowohl für Zeithistoriker*innen, in diesem Fall für die Geschichte des Nationalsozialismus auf dem Land, als auch für die Hausforschung neue Erkenntnisse, da eine Vielzahl von bis dahin noch nicht beachteten und nicht einfach ausfindig zu machenden Quellen zusammengebracht und wissenschaftlich einwandfrei ausgewertet wurden, und der Autor viele der besprochenen Alt- und Neusiedlungen und einzelne Bauernhöfe persönlich aufgesucht und im Buch fotografisch in aller Ausführlichkeit dokumentiert hat. Eine immense Arbeit! Wie im Einzelnen vorgegangen wurde, um für neue oder schon bestehende und zu erweiternde Truppenübungsplätze im Zuge der Kriegsaufrüstung Gelände zu requirieren, wie vorgegangen wurde, um mit möglichst geringem Aufsehen davon abzulenken, dass man, in der Nazisprache formuliert, ‚mit der Scholle verbundene‘ Bauern, die seit vielen Generationen ihren ererbten Hof bewirtschaften, von eben dieser Scholle mit mehr oder weniger Gewalt entfernt und damit der „Blut- und Boden“-Ideologie diametral entgegengesetzt handelte, dies wird ausführlich in vielen Details anhand des gesichteten Materials und auch durch Kontaktaufnahme mit den heutigen Erben der Gebäude geschildert, und gerade hierbei kommt die Verlogenheit des Regimes an die Oberfläche. Aufschlussreich ist dabei auch, wie die betroffenen Bauern im Einzelnen reagiert haben: Sie berufen sich zwar da und dort – stets im Rahmen der völkischen Ideologie argumentierend – auf ihre angestammte „Scholle“, verweisen „auf diese Diskrepanz zwischen den Blut- und Boden-Parolen und der Verdrängung vom angestammten Boden“ (106), leisten, insbesondere wenn es sich um einflussreiche Bauern handelt, hin und wieder auch mal lauthals Widerstand, aber: „Von darüber hinausgehendem, grundlegendem Protest ist nichts bekannt: Die Enteignung als solche war nicht umstritten, wenn sie denn nur die landbesitzenden Juden betroffen hätte.“ (106) Von Erfolg gekrönt war jedenfalls die ideologiekonforme Widerrede nicht, und letztlich gaben sich alle mehr oder minder zufrieden. Die große Mehrzahl ließ sich ziemlich widerspruchslos entwurzeln und bekam hierfür eine im Einzelnen recht kompliziert erscheinende Entschädigung in Gestalt eines neuen Hofes, dessen Grundstücksbeschaffung und Aufbau nach festgesetzten Maßstäben Aufgabe der Ruges war. Und diese Maßstäbe ermöglichten eben Höfe, die, unter dem Gesichtspunkt verbesserter Infrastruktur gesehen, den alten Höfen, die man verlassen musste, überlegen waren.

Interessante Aufschlüsse für Hausforscher*innen liefert Spohn bei der Analyse des Bauens der Neubauernhöfe. Sogenannte „hauslandschaftliche“ Bezüge, „landschaftsgebundenes Bauen“ stand lange im Vordergrund; die völkische Ideologie war zunächst ohne die traditionell definierte Landschaftsbezogenheit nicht zu denken und die so bezeichneten „hässlichen städtischen Einflüsse“ (84) sollten zurückgedrängt werden. Unterstützt wurde das „hauslandschaftliche“ Bauen von damaligen Volkskundlern und den verschiedenen „Heimatbewegungen“. Auf den ersten Blick sind die heute noch vielfach erhaltenen Bauernhäuser nicht als Häuser zu erkennen, die in den 1930er Jahren entstanden sind. In Bayern, wie etwa in Wolfskofen, Oberpfalz, wo Umsiedlungen wegen des 1936 angelegten Truppenübungsplatzes Grafenwöhr erfolgten, wurde zum Beispiel das Wohn-Wirtschaftshaus als Streckhof favorisiert. Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich dann aber im späteren Kriegsverlauf, insbesondere bei Bauvorhaben im besetzten Osten, dessen Bautraditionen man sowieso als „charakterlos“ bezeichnete, aber auch im Rahmen der ideologischen „Erzeugungsschlacht“, allmählich Stimmen durchsetzen, die das landschaftsgebundene Bauen umdefinierten und die vor allem die strikte Orientierung an historischen Vorbildern weitgehend zurückgesetzt wissen wollten zugunsten von funktionalen, praktischen, „biologischen“ (102) Lösungen, die rationalisierten Haustypen, auch Mischformen aus bisher verschiedenen Landschaften zugeordneten Haustypen, das Wort reden. Die „Grundrissorganisation“ (92) stand dabei im Vordergrund. Die Mechanisierung der Landwirtschaft, betriebswirtschaftliche Erwägungen und auch die Knappheit der Ressourcen und der Mangel an im Krieg befindlichen Arbeitskräften, so wurde vielfach argumentiert, erlaube es nicht mehr, auf volkskundliche Belange und lieb gewordene Bautraditionen Rücksicht zu nehmen. Diese seien sowieso zu hinterfragen, argumentierte der für den „Generalplan Ost“ zuständige Ruges-Architekt Herbert Frank: Fragwürdig sei es, „Beziehungen zwischen Siedlungsformen und äußeren Formen der Landschaft […] zu finden – etwa Parallelen zwischen Dachwinkel der Gebäude und Neigungswinkel der Berghänge festzustellen […] viel besser wäre es, zu untersuchen, welchen Einfluß die biologischen Gegebenheiten der Landschaft auf die Siedlungsformen haben können“ (102). Nicht formalistische Dinge wie Fachwerk, Vorlaube und Krüppelwalm machten das „bäuerliche Wesen“ aus: „Dem richtigen Bauern ist eine solid gebaute Düngerstätte weitaus wichtiger […] als Vorlaube oder Krüppelwalm.“ (102) Im Zuge dieser Überlegungen wurden sogar die bis dahin postulierten zigfachen „Hauslandschaften“ insgesamt in Frage gestellt (ein durchaus moderner Ansatz unserer Zeit, wenn auch aus anderen Gründen) und aus praktischen Erwägungen auf nur noch vier „Hauslandschaften“ in vier Reichsteilen vermindert. Die neu errichteten Höfe brachten einen „Modernisierungsschub“ (108). Sie wurden generell vielfach mit einer Infrastruktur ausgestattet, die Arbeitserleichterungen ermöglichte, welche in den alten Bauernhöfen der Enteigneten nicht denkbar gewesen wären – und so sieht der Autor auch hier einen Grund, warum sich in den neuen Höfen seitens der Bewohner*innen kaum Kritik regte, zumal man auch auf Sonderwünsche gegen Aufpreis einging. Auch die grundsätzliche Abkehr vom landschaftsgebundenen Bauen im bisherigen Sinne zu Beginn der 1940er Jahre („die Tradition muss sich dem Zweckmäßigen anpassen“, 108) hat die Umgesiedelten wohl kaum gestört. Spohn reflektiert in diesem Zusammenhang berechtigterweise über die Mentalität des Bauernstandes allgemein: Vielleicht treffe es ja zu, was Walter Wickop im Jahr 1939 mutmaßte: „Der praktische Landwirt […] liebt den Fortschritt [...] Er schüttelt den Kopf, wenn ihm der Heimatkenner das Alte lobt.“ (107) Hier kann man ergänzen: Der Landwirt neigte in der Tat noch nie zu romantischen Betrachtungen früherer Zeiten, schon gar nicht aus heimatkundlicher Rücksichtnahme, sondern er hat zu allen Zeiten nachvollziehbarer Weise gerne Arbeitserleichterungen angenommen, ganz ohne Rücksicht darauf, ob dadurch Traditionen aufgegeben wurden. Von hier aus war also kein Widerstand zu erwarten. Schon eher gab es Schwierigkeiten, wenn sich die Umsiedler*innen nicht an die neue Umgebung, die oft hunderte Kilometer von der angestammten Heimat entfernt lag, gewöhnen konnten und aus diesem Grunde zurückstrebten.

Da sich der Autor in vielen Fällen und mittels sicherlich mühseliger Reisen selbst vor Ort zu den Neubauernhöfen begab, konnte er nebenbei die Entdeckung machen und dankenswerterweise in mehreren Varianten bildlich dokumentieren, dass nicht selten an diesen Höfen erschreckenderweise noch, ohne dass daran offensichtlich Anstoß genommen wird, Schrifttafeln prangen, die von der Nazi-Ideologie in ihrer stupidesten Form zeugen: So führt Spohn etwa ein Beispiel aus Ebstorf (Niedersachsen) auf, wo an einer Hofstelle im Jahr 2013 eine Schrifttafel von 1936 nach wie vor angebracht ist: „Das Erbe der Väter, wir gaben es her – zum Schutze der Heimat, für Deutschlands Wehr – Auf dieser Scholle mit fester Kraft – der Bauer neues Erbgut schafft.“ (107) Nun hat solches als historisches Dokument sicherlich seinen Wert, bedürfte in der Gegenwart aber einer historischen Einordnung auf einer zusätzlichen Tafel, denn es ist eben nicht, wie es der Autor sehr zurückhaltend formuliert, bloß eine „eherne Tafel mit markigem Spruch“ (107). Das würde zeigen, dass die Nachkommen ihr schwieriges Erbe eindeutig einzuordnen wissen, was so leider nicht zu erkennen ist. Ob Spohn die heutigen Eigentümer auf diese groteske und bedenkliche Schieflage angesprochen hat, ist nicht ersichtlich. Auch aus den Beschreibungen der seit Jahrzehnten organisierten gemeinschaftlichen Fahrten der Nachfahren in die „alte Heimat“, etwa zu den Truppenübungsplätzen Baumholder, Hammelburg oder Münsingen, wo z. T. noch Ruinen der alten Gebäude, dienend zum militärischen Häuserkampf, erhalten sind und in denen Gedenkveranstaltungen (in Hammelburg am Erntedanksonntag!) abgehalten werden, geht nicht hervor, zu was die „Erinnerungsarbeit“ (109) der zweiten und oftmals schon dritten Nachfahr-Generation denn eigentlich dient – ob sie über nostalgische Gefühle hinausgeht und zu einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Zeit führt. An „das Schicksal der ehemaligen Bewohner“ (110) will immerhin der Landkreis Emsland erinnern, indem dort die Dorfstelle Wahn freigelegt wurde und auf Infotafeln die ehemaligen Hofstellen dokumentiert und die ehemaligen Eigentümer erwähnt werden. Ob solche Gedenkpraktik über das berechtigte Mitleid mit den von der Enteignung Betroffenen hinausgeht und die Zwangsumsiedlungen angemessen in die Geschichte der Nazi-Verbrechen eingeordnet werden, darf aufgrund von Spohns Schilderungen des heutigen Umgangs mit dieser Vergangenheit bezweifelt werden. Zu diesem Eindruck trägt auch ein abgebildeter Gedenkstein in Moorlage (Nordrhein-Westfalen) bei (109), auf dem lediglich unter einem eingeritzten Lageplan zu lesen ist: „50 Jahre Moorlage, 1939/1989. Zur Erinnerung an die Umsiedlung von Haustenbeck.“ Kein Hinweis darauf, dass dies im Rahmen der nationalsozialistischen Kriegsmaßnahmen geschehen ist – als habe es sich um eine ganz normale, zivil bedingte Umsiedlung gehandelt. Eine eigentümliche Verharmlosung. Was hindert die Verantwortlichen daran, an solch wichtigen Orten die Wahrheit zu benennen? An dieser Stelle, aber nur an dieser im gesamten Buch, vermisst man eine klare Stellungnahme des Autors, nämlich eine Problematisierung dieser in weiten Teilen offen zu Tage tretenden ungenügenden und unpassenden Gedenkarbeit, die gerade heutzutage wieder einmal umso wichtiger wäre. Spohn spekuliert mit Verweis auf Ulrich Tolksdorf indessen darüber, ob die Fahrten der Nachfolgegenerationen der Zwangsumgesiedelten nicht zu „Korrekturen am alten Heimatbild“ (110) führen könnten, ähnlich wie bei den Nachfahren der Nachkriegsflüchtlinge, deren Fahrten in die osteuropäische Heimat als „Nostalgie- und Heimwehfahrten“ (110, Anm. 571) begannen und mit der Zeit zu ebensolchen „Korrekturen“ geführt hätten, indem „das verklärte Bild der Heimat mit der Wirklichkeit“ (110) verglichen wurde. Mit Verlaub: Mit der Wirklichkeit der nun vorhandenen Ruinen auf Truppenübungsplätzen? Dies bei den Nachfahren der Zwangsumsiedelten allein als Ergebnis dieser Reisetätigkeiten und Gedenkveranstaltungen konstatieren zu müssen, ist doch sehr wenig.

Die fehlende Problematisierung der verfehlten Erinnerungsarbeit an den Gedenkorten schmälert aber den Wert des Gesamtwerks in keiner Weise. Es liegt ein wissenschaftlich einwandfreies Werk mit Einbettung aller relevanten Forschungsliteratur und akribischen Quellenrecherchen vor, eine gerade in unserer Zeit enorm wichtige Arbeit, in der wir es wieder mit geschichtsrevisionistischen Angriffen von rechts zu tun haben; es liefert neue Erkenntnisse über den Nationalsozialismus und bestätigt die bekannten; es unterstreicht die Menschenverachtung des Regimes und insbesondere seine ideologische Verlogenheit am Beispiel des Umgangs mit der bäuerlichen Bevölkerung und deren Eigentum, nämlich den rücksichtslosen Umgang auch mit einem von der Ideologie her über alles geschätzten Berufsstand, von dem aus ja im Sinne des Nazi-Rassismus die Grundlagen des neuen „Germanentums“ entstehen sollten. Alles tiefster Unsinn: Wenn es um die verbrecherischen Kriegsvorbereitungen ging, blieb niemand verschont. Nicht zuletzt werden für die Hausforschung des 20. Jahrhunderts durch die exakte bauhistorische Beschreibung der „Neubauernhöfe“ wichtige Erkenntnisse möglich. Und es ist ein eloquent geschriebenes und sehr lesbares, durch die vielen erstmals in dieser Weise erstellten Fotos aufgelockertes, anschauliches Buch, das auch den interessierten Laien ansprechen wird und damit die Chance hat, über engere Wissenschaftskreise hinaus zu wirken.