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Torsten Cress

Sakrotope – Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken

(Kulturen der Gesellschaft 23), Bielefeld 2019, transcript, 235 Seiten mit 19 Abbildungen, meist farbig ISBN 978-3-8376-3599-7
Rezensiert von Antje Mickan
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.09.2020

Mit seiner Studie „Sakrotope“ gelingt Torsten Cress die Anbindung des theoretischen Diskurses um die Bedeutung und wissenschaftliche Beschreibung sozialer – hier religiöser – Praktiken an empirische Wirklichkeit in ihrer vorfindlichen Komplexität. Es handelt sich dabei um eine überarbeitete, durchgängig gut lesbare und übersichtlich gestaltete Fassung seiner 2015 eingereichten sozialwissenschaftlichen Dissertation. Auf der Basis eines an Theodore Schatzki orientierten Forschungsansatzes erprobt der Autor Möglichkeiten, über ethnografische Methoden zu empirischen Forschungsergebnissen zu gelangen, die den „Reichtum einer konkreten Vollzugssituation“ (22) in guter Annäherung erfassen. In den Fokus seiner Fragestellung hinsichtlich religiöser Praktiken in privaten sowie in Pilger-Kontexten kommen daher nicht nur Beziehungen zwischen materiellen Entitäten und strukturiertem menschlichen Tun, sondern auch die mentale Dimension des Geschehens findet eine Berücksichtigung.

Die Arbeit bietet zudem einen Anschluss an den Forschungsbereich der ‚Material Culture of Religion‘. Torsten Cress begibt sich zur Umsetzung seines Vorhabens ins Feld katholischer devotionaler Religionskultur, in dem die von ihm anvisierten Dimensionen sozialer Praktiken in elaborierter Weise vorzufinden sind. So kann er sein analytisches Begriffsinstrumentarium in den empirischen Kapiteln weit ausspielen, riskiert aber teils gewisse Längen, wenn schnell offensichtliche Einzelbeziehungen detailliert ergründet werden.

„Sakrotope“ gliedert sich in eine „Einleitung“ (9–28), den ersten theoretischen Hauptteil „Grundlagen und Vorüberlegungen“ (29–76), den zweiten empirischen Hauptteil „Praktikentheoretische Studien“ (77–205) sowie eine „Schlussbetrachtung“ (207–215). Die Einleitung beginnt mit der Einführung des für die Studie zentralen Begriffs „Sakrotop“ über ein Interviewzitat. Das spiegelt bereits hier den verflochtenen Entstehungsprozess der Studie wider und bringt die Leserschaft unmittelbar mit dem empirischen Feld in Beziehung. Als „Sakrotop“ versteht Cress einen „religiös konnotierten Kontext, der von bestimmten Aktivitäten getragen wird und durch eine bestimmte Stimmung gekennzeichnet ist, in den man ‚eintreten‘ kann, aber auch ‚hineinfinden‘ muss, und in dem Möglichkeiten zu bestimmten Erfahrungen angelegt sind“ (10). Dieser ansprechende Einstieg verbunden mit dem Buchtitel hat das Potential, auf Seite der Rezipierenden Erwartungen zu wecken, die auf Ergebnisse und deren Diskussion im Rahmen einer Neuerschließung des religiösen Feldes gerichtet sind. Eben das entspricht aber, wie Cress explizit zum Ausdruck bringt (24, 213), nicht seinem Forschungsziel, sondern ihm geht es darum, „einzelne Praktiken, ihre Organisation und ihre materiellen Verflechtungen im Detail zu rekonstruieren“ (213), was durchgehend überzeugend erreicht wird.

Der kompakte und mit Einbezug neuerer Publikationen aktualisierte Forschungsüberblick zu „Materialität und Praxistheorien“ (12–19) im Einleitungsteil stellt eine instruktive Einführung in den wissenschaftlichen Diskursrahmen der Studie dar, die Cress sodann mit kurzen Abschnitten zu zentralen Aspekten seines Forschungsansatzes ergänzt. Mit einer Darstellung wesentlicher Grundgedanken des Ansatzes von Theodore Schatzki beginnt dann sein „Entwurf einer materialitätsorientierten Praktikenforschung“ (31–76). Sie sind von ausschlaggebender Bedeutung für die gesamte Studie und daher hier knapp vorzustellen:

Ausgangspunkt ist Theodore Schatzkis Auffassung vom Sozialen als „dynamische[m] Gewebe menschlicher, im Medium von Praktiken geordneter Aktivität“ (31). Die Struktur, welche einzelne Handlungen aufeinander bezieht und Praktiken „als raum-zeitliche Entitäten“ (33) verbindet, wird im Sinne einer „teleologischen Hierarchie“ (33) verstanden. Sie steht in Spannung zum konkreten Vollzug, in dem Praktiken sich als temporäre und individuelle Ausdrucksform, also als Performanz ereignen. Das sich daraus ergebende Wechselverhältnis zwischen einerseits normativem Anspruch an Praktiken und andererseits ihrer Varianz in individueller Aneignung und aktualer Ausführung begründet in der Arbeit von Torsten Cress eine Beobachtungs- und Frageperspektive, die dann im zweiten empirischen Teil zu aufschlussreichen Ergebnissen führt.

Cress schließt eine Vertiefung und Weiterführung an diese Grundlegung an. Besonders wertvoll erscheint hierbei die Integration der mentalen Perspektive in den Forschungsansatz und damit verbunden eine Berücksichtigung der „Lebenszustände“ (41–44) der Teilnehmenden. Ebenso instruktiv gelingt dann im Abschnitt „Zur materiellen Dimension sozialer Praktiken“ (48–58) die Einführung der analytischen Begriffe „materielles Arrangement“ (50–53), „Konstitution“ (53), Präfiguration (53 f.) und Intelligibilität (54), die eine differenzierte Beschreibung der gefragten Materialitäten-Praktiken-Relationen ermöglicht. Als Übergang zum empirischen Teil umreißt Torsten Cress seinen Zugang zu religiösen Praktiken und betont hierbei besonders ihre Bedeutung für die emotionale Befindlichkeit der Teilnehmenden.

Die zum Abschluss des Theorieteils dargestellten ethnografischen Forschungsmethoden der Teilnehmenden Beobachtung, Videografie und Leitfadeninterviews mit an Gottesdiensten und Pilgerfahrten Teilnehmenden entsprechen durchweg üblicher Kunst des Vorgehens. Methodologisch orientiert sich Torsten Cress an der Grounded Theory.

Der empirische Teil der Studie beginnt mit der Untersuchung von zwei Praktiken Einzelner, und zwar des freien Gebets im materiellen Arrangement eines Kirchenraums sowie der auf ein Artefakt bezogenen Rosenkranzandacht. Die hier – wie auch später – verwendeten Interviewsequenzen sind von hoher Aussagekraft und bestätigen die eingesetzte Perspektive, welche vom reflektierten Sachverstand der Teilnehmenden in Bezug auf ihre Praktiken ausgeht. Die Analyse erfolgt unter Anwendung der im ersten Teil erarbeiteten praktikentheoretischen Begriffe. So werden Unterschiede der beiden Praktiken in Bezug auf die Funktion der beteiligten Artefakte, in Bezug auf ihren individuell gewählten Einsatz zum Erreichen gewünschter Erfahrungen und auch in Bezug auf die Bedeutung religiöser Tradition deutlich. Kapitel drei und vier wenden sich öffentlichen Pilgerpraktiken im französischen Wallfahrtsort Lourdes zu. Hier kommt nun auch die Videografie zum Einsatz. Bei der Untersuchung zum „Besuch der Massabielle-Grotte“ (117–149) konzentriert sich die Forschungsfrage einerseits auf die Organisation dieser kontinuierlich und mit immer neuen Teilnehmenden vollzogenen Praktik, andererseits auf Prozesse der Intelligibilisierung des Arrangements. Positiv hervorzuheben ist, wie Torsten Cress mittels der eingesetzten ethnografischen Methoden und praktikentheoretischen Fragestellungen differenziert erkennen lässt, durch welche Vollzüge die Grotte als ein Speicher religiösen Gedächtnisses in ihrem Bestand erhalten und gleichzeitig fortlaufend aktualisiert wird. „Die Lichtprozession in Lourdes“ (151–170) bietet sodann ein Fallbeispiel, das die Bedeutung von ephemeren Phänomenen als materiellen Entitäten und ihre Organisierbarkeit innerhalb eines Arrangements erkennen lässt. Auf der Basis des systematischen Aufbaus seiner Studie gelingt es Torsten Cress besonders in diesem Kapitel sehr gut die Komplexität der untersuchten Praktik und ihre mehrdimensionale Organisation nachvollziehbar aufzuzeigen.

Das letzte empirische Kapitel zu „Pilgerpraktiken in Jerusalem“ (171–205) befasst sich mit Zusammenhängen, die – aufgrund historischer Entwicklungen – durch different strukturierte Gruppen der Teilnehmenden und ebenso different strukturierte Traditionen, auf die Bezug genommen wird, ein größeres Potential dafür bergen, dass Praktiken scheitern. Unter diesen Bedingungen erscheint die konstitutive Bedeutung der lokalen Vollzugstätte als zentrale Herausforderung der Organisation. Erneut kann Cress die Dynamik der Praktik in ihrer Spannung zwischen materieller Bedingtheit, individueller Aneignung und Handlung, institutioneller Normierung und schließlich auch sich historisch wandelnden Kontexten herausarbeiten.

Die Schlussbetrachtung rekapituliert den Entstehungsprozess der Studie, fasst die zentralen Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick auf Einsatzmöglichkeiten in anderen Forschungsfeldern. Dass Cress auch hier keinen Versuch unternimmt, seine Ergebnisse in ihrem Ertrag für die Erschließung des Feldes katholischer devotionaler Religionskultur zu diskutieren, ist eine angemessene Konsequenz seines Forschungsansatzes. Gleichwohl besitzen das gewonnene Konzept der „Sakrotope“ und die erörterte Forschungsperspektive die Kapazität auch auf den Gebieten der Religionswissenschaft und Praktischen Theologie neue wissenschaftliche Impulse zu bewirken.