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Wolfgang Meighörner (Hg.)/Günther Moschig/Anna Engl (Red.)
Auf der Kippe. Eine Konfliktgeschichte des Tabaks. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum, 22.2.–10.11.2019
Innsbruck 2019, Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft mbH, 168 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-900083-80-9Rezensiert von Anke Lipinsky
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.09.2020
Das Phänomen des Rauchens von Tabakprodukten zählt sozial wie historisch zu den interessantesten Schmelztiegeln kultureller Praktiken. Der Frage danach, wie konfliktreich und politisch die Alltagspraxis des Tabakrauchens war und ist, widmete sich im Jahr 2019 die Ausstellung „Auf der Kippe“ des Tiroler Volkskunstmuseums. Der hier zu besprechende reichhaltig bebilderte Ausstellungsband trägt den Titelzusatz „Eine Konfliktgeschichte des Tabaks“ und folgt grob der inhaltlichen Gruppierung der Ausstellung in „neun Stationen“ (7), abgefasst in Schwerpunktartikeln und Objektbesprechungen auf 168 Seiten. Ergänzt werden die neun Schwerpunktbeiträge um 18 kurze Präsentationen weiterer Ausstellungsobjekte, das Vorwort des Herausgebers und Geschäftsführers der Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft Wolfgang Meighörner, einen Überblicksartikel des Ausstellungskurators Günther Moschig sowie eine knappe Skizzierung der räumlichen Konzeption der Ausstellung durch die verantwortliche Architektin Andrea Graser.
Die gezeigten und besprochenen Objekte stammen aus den Beständen der Tiroler Landesmuseen sowie aus der JTI Collection Vienna. Jedem Textbeitrag ist eine kurze Bibliografie angefügt, was interessierten Leser*innen eine Vertiefung des Themas ohne unnötiges Blättern erleichtert. Positiv ist auch hervorzuheben, dass alle Beiträge als Autor*innenbeiträge gekennzeichnet sind, so dass die Vielstimmigkeit der an diesem Band mitwirkenden akademischen Disziplinen deutlich wird.
Zum Einstieg in die ausgewählten Kontroversen rund um den Tabak und das Tabakrauchen versucht sich Günther Moschig in „Auf der Kippe“ (7 ff.) an einer Rahmung des Ausstellungsthemas. Er geht auf bekannte Sucht- und Genusseigenschaften von Tabak ein, auf verschiedene Darreichungsformen von Tabakprodukten, die Kulturalisierungen des Tabakrauchens in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Epochen und auch auf die Wirtschaftsfaktoren von Tabakanbau und ‑verarbeitung. Das Thema Tabak bietet unbestritten eine unüberschaubare Anzahl an Kontroversen, die eine Behandlung wert wären und deren Auswahl und dialoghafte Bezugnahme aufeinander dem Gesamtkonzept der Ausstellung hätten zugutekommen können. Das für die Materialaufbereitung gewählte „dialogisch-antagonistische Prinzip“ (8) greift – zumindest bei der textlichen Abfassung des Themas – etwas zu kurz, da eine Zusammenstellung von Endpunkten gegenläufiger Diskurse nicht zu einer gut umrissenen Geschichte beziehungsweise nachvollziehbaren „Konfliktgeschichte“ heranreifen kann, wodurch die Auswahl der Schwerpunkte mitunter unsystematisch wirken kann.
Durch einige der Schwerpunktartikel wird der Eindruck der Beliebigkeit und des fehlenden Ortsbezugs zu Tirol jedoch erfreulicherweise behoben. Ein Highlight des Bandes stellt in dieser Hinsicht der Beitrag „Pfeifenköpfe. Utensilien und Formen des Tabakkonsums in Tirol“ (37 ff.) von Anna Engl dar, der auf einen Beitrag zur allgemeinen Kulturgeschichte des Tabaks von Georg Thiel (29 ff.) folgt. Engl behandelt Zusammensetzung, Materialien und Motive der Pfeifenköpfe, die als „Tiroler Typen“ (37) Bekanntheit erreichten. Neben den Arbeits- und Jagdmotiven sind es insbesondere die Darstellungen von grimmigen Gesichtern, durch welche die Produkte der Tiroler Pfeifenschneider überregional Anklang fanden.
Ebenso beeindruckend gelingt die Verortung des Tabaks im Beitrag über die „Tabakfabrik Schwaz“ (49 ff.) von Angelika Willis. „[D]er kleinste Betrieb im Reigen der Produktionsstätten der Austria Tabak“ (49) wird darin einerseits hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Bedeutung in der Region über fast zwei Jahrhunderte hinweg eingeordnet, andererseits werden die Arbeitsbedingungen der Tabakarbeiter*innen besprochen und das Erleben des Arbeitsalltags anhand von Erzählungen von Zeitzeug*innen geschildert. Dabei wird deutlich, wie sehr die Tabakproduktion in Schwaz bis zum Jahr 2005 zur sozialen Stratifizierung der ortsansässigen Gesellschaft beitrug.
Kulturhistorisch interessant, wenn auch nicht regional verbunden mit Tirol, ist die Aufarbeitung von stereotypisierenden Darstellungen des Orients im Artikel „Das Konstrukt ‚Orient‘. Der Beitrag der Zigarette zur Verankerung von Stereotypen in der Alltagskultur“ (103 ff.) von Joachim Hainzl. Er zeichnet darin die Exotisierung von Tabakprodukten anhand von Werbebildern für Zigaretten und der Dekorierung von Zigarettendosen nach, denn bereits Ende des 19. Jahrhunderts schuf die Tabakindustrie sexualisierte Sinnzeichen und Images für ihre importierten Kolonialwaren – damals noch ganz frei von Warnhinweisen und Bildern tabakgeschädigter Körperteile.
Die Fokussierung auf die – werberische wie künstlerische – Darstellungsvielfalt von Tabak und Tabakrauchen setzt sich im Ausstellungsband in weiteren Beiträgen fort. Sabine Fellner bespricht beispielsweise in ihrem Beitrag „Tabak in der Kunst“ (123 ff.) bildnerische Darstellungen von Pfeifen, Zigarren und Zigaretten sowie Darstellungen des Tabakschnupfens. Hans Platzgumer diskutiert in „Der rauchende Gitarrist“ (133 ff.) den Sinngehalt von Abbildungen rauchender Musiker und Robert Pfaller widmet sich in „Der ferne Hauch glücklicher, mondäner und freiheitsliebender Zeiten“ (139 ff.) dem männlich-erotisierten Blick auf sexualisierte Zigarettenwerbung und dem Freiheitsthema anhand von Objekten der JTI Collection Vienna.
Der Ausstellungsband beinhaltet viel mehr als eine schlichte Besprechung von Ausstellungsobjekten. Er zeigt deutlich, wie sehr Tabak mit seinen verschiedenen Konsumformaten und ‑techniken zum Resonanzkörper für medizinische, werbegestalterische, bildnerische, lyrische, wirtschaftliche oder fotografische Auseinandersetzungen wurde. Nur zum Teil nehmen die Schwerpunktbeiträge regionalen Bezug auf Tirol beziehungsweise die Situation in Österreich. Dort wo lokale Bezüge im Vordergrund stehen, beispielsweise bei der Besprechung der „Tiroler Typen“-Pfeifenköpfe oder der Tabakfabrik Schwaz, glänzt der Ausstellungsband dadurch, dass die Beiträge lokale Besonderheiten herausarbeiten und beeindruckende Einblicke in den Alltag, beispielsweise von Fabrikarbeiter*innen, liefern.
Der Band überzeugt vor allem durch seine reichhaltige Bebilderung und die Beiträge, die sich der Tabakproduktion und dem Tabakrauchen und den korrespondierenden kulturellen und sozialen Auswirkungen in Tirol widmen. Einigen der kulturgeschichtlichen Beiträge fehlt es allerdings an inhaltlicher Fokussierung, die den Lesenden und Ausstellungsbesucher*innen einen Einstieg in das Thema hätte erleichtern können.