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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Norman Aselmeyer/Veronika Settele (Hg.)

Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne

(Historische Zeitschrift, Beiheft 73), Berlin/Boston 2018, De Gruyter, 353 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-11-057119-6
Rezensiert von Manuel Trummer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.09.2020

Zu einer Leitvokabel der spätmodernen Gesellschaften europäischer und nordamerikanischer Prägung ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Verzicht avanciert. Vor dem Hintergrund der drohenden Klimakatastrophe, den Auswüchsen einer weitgehend zügellos agierenden Fleischindustrie und dem wachsenden Bewusstsein nachhaltiger Lebensweisen gerät der Nicht-Konsum zu einem Lebensstil-Marker und einem politischen Statement. Vor allem der Bereich der Ernährung bildet dabei eine der zentralen Arenen, auf denen die Deutungskämpfe über ein ‚gutes Leben‘ und verantwortungsvolle Zukunftspraxen ausgefochten werden.

Die Bremer Historiker*innen Norman Aselmeyer und Veronika Settele haben so zweifellos ein zentrales und aktuelles Thema identifiziert, das viele offene Fragen umfasst. Die beiden Herausgeber*innen hatten bereits in der Vergangenheit in mehreren Publikationen, unter anderem zum Mensch-Tier-Verhältnis und zur Industrialisierung in der Viehwirtschaft sowie zu den Themen Gesundheit und Ernährung, verschiedene Aspekte des „Nicht-Essens“ gewinnbringend aufgegriffen und im Verlauf der Tagung „Du bist, was du nicht isst! Gesundheit und Ernährung seit 1850“ in Berlin 2016 im erweiterten Kreis diskutiert. Der vorliegende Band präsentiert nun im Wesentlichen die Beiträge dieser Tagung, indem er die Themen Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Zeit seit 1850 bis in die Gegenwart in den Blick nimmt. Diese Eingrenzung erscheint sinnvoll, bilden diese Jahre doch wesentlich den Beginn der modernen Ernährungsindustrie mit ihren massenhaften Produktionslogiken und globalen Vertriebswegen. Letztere nimmt der Band unter anderem mit Beiträgen zu japanischen, brasilianischen und US-amerikanischen Entwicklungslinien in den Blick. Als Ordnungskategorien für diese transnational fokussierte (Nicht-)Ernährungsgeschichte dienen die Aspekte „Selbstverantwortung“, „Steuerung“ und „Sinnsysteme“, wodurch sowohl kollektiv wirksame Politiken wie individuelle Wertvorstellungen und symbolische Systeme sichtbar werden. Dabei geht es den Herausgeber*innen vor allem auch darum, über die Ernährung hinaus auf breitere kulturelle Transformationsprozesse zu blicken. Verzicht und Verweigerung bilden für sie einen „Gradmesser sozialer Ordnung“ (10), wie sie in ihrer Einführung formulieren. Als Indikator und Leitvokabel des Bandes dient ihnen dafür die Praxis des „Nicht-Essens“. Als Akt der „Umkehr der elementarsten Notwendigkeit menschlichen Daseins“ (7) bilde es einen sozial bedeutungsvollen Akt, der weiterführende Analysen kultureller Prozesse und Systeme erlaube. Dabei fassen die Herausgeber*innen unter „Nicht-Essen“ sowohl freiwilligen als auch erzwungenen Verzicht – beides manifestiere sich existenziell in den unterbrochenen Routinen und Selbstverständlichkeiten der Nahrungsaufnahme. Im „Nicht-Essen“ tritt so ein Koordinatensystem zutage, das sich zwischen den Polen „freiwillig und erzwungen“, „gesundheitsfördernd und existenzgefährdend“ sowie „individuell bis kollektiv“ (9) spannt. Damit öffnet sich ein Analysespektrum, das vom politischen Hungerstreik bis zur Trend-Diät, vom religiösen Tabu bis zur kriegsbedingten Mangelversorgung reicht.

Das Kapitel „Selbstverantwortung“ eröffnet Maren Möhring mit einem Beitrag zum wachsenden Verständnis von Gesundheit und Ernährung in der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel der akribischen körperlichen Selbstvermessung des sächsischen FKK-Pioniers Richard Ungewitter (1869–1958) illustriert sie die zunehmende Subjektivierung der Ernährung, die nun einerseits ältere kulturelle und physiologische Vorstellungen, etwa des Fleischkonsums, in Frage stellte, das (Nicht-)Essen zugleich aber als Element moderner Lebensstile und individueller Optimierungspraxen etablierte. Möhring gelingt es so, quellennah ein Schlaglicht auf die Wurzeln aktueller Health- und Body-Politiken zu werfen.

Ebenfalls am Beispiel einer Pioniergestalt der sozialen Reformen des 19. Jahrhunderts, in diesem Fall die Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin Hedwig Heyl (1850–1934), lenkt Christa Spreizer die Aufmerksamkeit auf die hochinteressante Intersektionalität von weiblichen Identitäten und nationalen Werten. Besonders an der Figur der Haushälterin durchkreuzen sich hier im „Nicht-Essen“ Vorstellungen bürgerlicher Moral mit dem aufklärerischen Gestus einer Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Ernährung und einem emanzipatorischen Streben, die wichtige patriotische Rolle deutscher Frauen „endlich vom Staat politisch anerkannt“ (88) zu bekommen, auf komplexe Weise.

Im dritten Beitrag der Sektion lenkt Cornelia Reiher den Blick nach Japan, wo zwischen 1960 und 1980 die reflexiven Nebenfolgen der modernen Nahrungsproduktion in wachsenden Gesundheitsrisiken durch Pestizide augenfällig wurden. Während die Produktionsmengen der japanischen Landwirtschaft in diesen Jahren merklich gesteigert werden konnten, wuchs seitens der Bevölkerung die Skepsis gegenüber den landwirtschaftlichen Methoden. Das „Nicht-Essen“ in Folge von Nahrungsmittelknappheit wich so einem „Nicht-Essen“ als Vermeidungsstrategie. Sie manifestierte sich unter anderem in der Gründung verschiedener zivilgesellschaftlicher Initiativen, die Regulierungslücken offenlegten und Wissen für alternative Produktions- und Distributionsformen bereitstellten. Das Porträt dieser zunächst meist lokal agierenden Initiativen erlaubt zahlreiche Vergleiche zum deutschsprachigen Raum, etwa was solidarische Landwirtschaft oder Öko-Landbau betrifft. Anders als in Europa entwickelte sich keine breite politische Bewegung hieraus, etwa die Gründung einer grünen Partei, was Reiher mit der Stoßrichtung der Initiativen erklärt. So ging es weniger um den Anspruch, Gesellschaft auf breiter Ebene durch die Vermeidung kontaminierter Lebensmittel zu verändern, sondern vielmehr darum, sich aus als negativ wahrgenommenen Entwicklungen zurückzuziehen und Alternativen zu schaffen.

Die Sektion „Steuerung“ eröffnet Lutz Häfner mit einer Einschätzung des Verbraucherschutzes im russischen Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg. Aufgrund der hohen Selbstversorgerquote der Bevölkerung, so Häfner, bildeten Lebensmittelfälschungen und -verunreinigungen in erster Linie ein Problem der städtischen Unterschichten. Auf der Basis eines breiten archivalischen Quellenbestands legt der Beitrag offen, wie sich ein politisches Bewusstsein der damit verbundenen Gefahren nur unter dem öffentlichen Druck einer neuen Presselandschaft etablierte und wie unterschiedliche institutionelle Akteure mit ihren eigenen Interessen auf die neu entstehenden Regulierungspolitiken einwirkten.

Die Rolle der Mediatisierung greift im Folgenden auch Maximilian Buschmann auf. Seine Überlegungen zur „politischen Taktik“ (156) des Hungerstreiks macht er beispielhaft an der Person der amerikanischen Anarchistin Rebecca Edelsohn (1892–1973) fest. An ihrem Hungerstreik im Jahr 1914, dem ersten der US-Geschichte, zeichnet Buschmann nach, wie eine kulturelle Neubewertung des „Nicht-Essens“ weg vom nur pathologischen einerseits und das medial vermittelte Vorbild politischer Gefangener im Zarenreich andererseits essentiell für die Etablierung von Hungerstreiks als Instrument von Protest und Dissens waren.

Hin zu politischen Steuerungen lenkt Sören Brinkmann den Blick in Richtung Brasilien zur Zeit der Vargas-Ära (1930–1945). Es wird deutlich, wie hier der Nahrungsmittelmangel zum Anreiz einer umfassenden Modernisierungskampagne avancierte, in deren Kern die Milchproduktion stand und die von Fragen des nationalen Selbstbewusstseins, der Gesundheit der Bevölkerung, aber auch des Aufbaus eines modernen Sozialstaates geleitet war. Der Nährstoff Jod steht im Mittelpunkt von Uwe Spiekermanns Aufsatz. Er stellt die Frage, warum Deutschland erst in den 1990er Jahren politische Steuerungsmaßnahmen einleitete, um auf durch Jodmangel ausgelöste Krankheiten zu reagieren – in zahlreichen anderen Staaten Europas war dies bereits in den 1930er Jahren der Fall. Auf einer beeindruckend dichten Materialbasis, die von medizinhistorischen Quellen bis zu Werbeannoncen reicht, arbeitet Spiekermann mit außerordentlicher Detailkenntnis vor allem die Geschichte eines gemeinsamen Scheiterns von medizinischer Forschungskultur und staatlich-politischer Lenkung heraus, die auch kritische Fragen für die aktuelle Gesundheitspolitik aufwirft.

In der dritten Sektion, betitelt mit „Sinnsysteme“, stehen die symbolischen Praxen des „Nicht-Essens“ im Mittelpunkt. Den Auftakt macht Diana M. Natermann mit einem Beitrag zu den Ernährungsgewohnheiten europäischer Kolonialsiedler*innen im Kongofreistaat und in Deutsch-Ostafrika (1884–1914). Auf der Grundlage von Autobiografien und Briefen arbeitet sie heraus, wie das „Nicht-Essen“ und die Ablehnung lokaler Ernährung hier Machtsysteme etablierte, die zur Distinktion gegenüber der indigenen Bevölkerung und zu ihrer Exklusion dienten – methodisch und in der Fragestellung ein Höhepunkt des Bandes. In eine ähnliche Richtung – Verzicht als Identität stiftendes Statement – weist Julia Hausers Abhandlung, in der sie den europäischen Vegetarismus der Kolonialzeit (1850–1914) mit seiner indischen Ausprägung vergleicht. Die dafür angewandte Methode der Verflechtungsgeschichte bleibt zwar etwas unscharf, doch gelingt es ihr überzeugend nachzuweisen, wie stark sich der europäische und der indische Vegetarismus in dieser Phase gegenseitig beeinflussen und sich in ihrer ethischen, identitätsstiftenden und gesundheitlichen Fundierung verändern. Dabei wird klar, dass vereinfachende Vorstellungen eines europäischen Vegetarismus einerseits und eines indischen Vegetarismus andererseits deutlich zu kurz greifen. Womöglich wäre Nina Mackerts hier folgender Beitrag zur Bedeutung der Einheit Kalorie in unserem Ernährungssystem besser in der zweiten Sektion platziert gewesen, untersucht sie doch die steuernde und prägende Wirkung des „Kalorienzählens“ in unseren Ess-Alltagen. Doch gelingt es der Autorin zugleich die symbolische Macht der Maßeinheit herauszuarbeiten. Am Beispiel der US-Ernährungspolitik der 1880er Jahre diskutiert Mackert das besondere Potential der Maßeinheit Kalorie in biopolitischen Machtkonstellationen Foucault’scher Prägung, beinhaltete sie doch das „Versprechen, Nahrung quantifizierbar – und mithin regierbar – zu machen“ (298). Kalorien-Regime etablierten sich so zunächst als soziale Ordnungskategorien, die „Klassengrenzen zog[en] und Vorstellungen von Klasse stabilisierte[n]“ (320), rasch aber auch Maßstäbe für individuelle und exklusive Körperpolitiken wurden.

Resümierend weist Paul Nolte in seiner abschließenden Zusammenschau auf Chancen und Leerstellen des Konzeptes „Nicht-Essen“ hin. Trotz der thematischen Breite und unterschiedlichen Auslegung der etwas sperrigen Negationsformel des „Nicht-Essens“ erlaubt es doch Einblicke in sozialen Ordnungen, wie von den Herausgeber*innen angestrebt, vor allem dort, wo es als performative Praxis konturiert und reflektiert auftritt.

Ein Tagungsband wie der vorliegende ist freilich nie vollständig, und es öffnen sich immer Leerstellen, was aber in erster Linie den Interessen der jeweiligen Rezensenten geschuldet ist. So fällt hier vor allem das Fehlen von Beiträgen zum „Nicht-Trinken“ auf, etwa in Bezug auf Alkoholkonsum oder die Problematik der Wasserpolitiken und -versorgung in vielen Teilen der Welt. Ebenso überrascht, dass kein Beitrag aktuelle Verzichtdebatten, etwa die Konflikte in Bezug auf Veganismus, oder andere Nachhaltigkeitsdebatten um Ernährung aufgreift. Aber gerade mit diesen Leerstellen inspiriert der Band, der sich explizit als ersten Aufschlag zu einem neuen Forschungsfeld versteht, auch, weiter zu forschen. Die qualitativ durchweg starken Beiträge, die hier bereits versammelt sind, belegen, dass es sich lohnt, das Thema weiter in den Blick zu nehmen.