Aktuelle Rezensionen
Sabine Eggmann/Birgit Johler/Konrad J. Kuhn/Magdalena Puchberger (Hg.)
Orientieren & Positionieren, Anknüpfen & Weitermachen: Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft in Europa nach 1945
(culture [kylty:r], Schweizer Beiträge zur Kulturwissenschaft 9), Münster/Basel 2019, Waxmann/Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV), 453 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-908123-02-6Rezensiert von Jens Wietschorke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2020
Seit geraumer Zeit steht die volkskundliche Fachgeschichtsschreibung hoch im Kurs. Vor allem im Zusammenhang neuerer diskurs- und wissensgeschichtlicher Zugänge hat diese Thematik den etwas altmodischen ‚touch‘ verloren, für den sie früher vielleicht einmal bekannt war. So haben neue Perspektiven auf die Materialität und Sinnlichkeit der Wissensproduktion, Zirkulations- und Transferprozesse wissenschaftlichen Wissens oder Netzwerke aus Akteur*innen, Dingen und Texten dafür gesorgt, dass viele Studien zur Geschichte der Volkskunde auch als Studien zur Kulturanalyse komplexer Gesellschaften und epistemischer Praktiken zu lesen sind. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten seit Jahren die vier Kolleg*innen, die als Herausgeber*innen des vorliegenden Bandes fungieren. In verschiedenen Kontexten und herausragenden Einzelstudien, aber auch immer wieder in Kooperationen und gemeinsamen Forschungsprojekten haben Sabine Eggmann, Birgit Johler, Konrad J. Kuhn und Magdalena Puchberger speziell die Wissens- und Institutionengeschichte der Volkskunde in Österreich und der Schweiz durchleuchtet.
Im November 2017 hat dieses Viererteam in Wien eine Tagung unter dem Titel „Orientieren & Positionieren, Anknüpfen & Weitermachen. Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft in Europa nach 1945“ veranstaltet, der die Idee zugrunde lag, die Nachkriegsentwicklung des Faches in diesen beiden „kleinen Nationen“ (9) als Ausgangspunkt einer trans- und internationalen Geschichte der Volkskunde zu nutzen. In den Beiträgen dieser Tagung sollten „gesellschaftliche Dynamiken und die empirisch fassbaren Kooperationsbeziehungen innerhalb des Fachs nach 1945“ (9) in den Blick kommen, analytisch verknüpft durch eine Perspektive auf Fachgeschichte als „Beziehungsgeschichte […] zwischen Personen, Institutionen, Themen und Publikationen; eine Geschichte von Verbindungen und Netzen, kurz: von je soziohistorisch situierten Konstellationen“ (11). Dass diese „relationale Kulturanalyse“ von exemplarischen Ausschnitten des wissenschaftlichen Feldes explizit auch Zugänge der Emotionengeschichte mit einbezieht und die Materialität und Sinnlichkeit volkskundlicher Forschung stets mitdenkt, machte den Ansatz der Tagung zusätzlich innovativ und vielversprechend.
Mittlerweile liegen die Beiträge der Tagung vorbildlich ediert in einem rund 450 Seiten umfassenden Band vor, der von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde in Basel und dem Waxmann Verlag gemeinsam publiziert worden ist. Vorweg sei gesagt, dass der anspruchsvolle Untertitel, der – analog zum Tagungstitel – eine „Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft in Europa seit 1945“ annonciert, insofern vollkommen gerechtfertigt ist, als der Band nicht nur Abhandlungen zu ortsspezifischen Entwicklungen oder einzelnen Fachvertreter*innen bietet, sondern immer auch die übergreifenden Zusammenhänge im Blick behält. Das geschieht einerseits durch überblicksartige Beiträge wie den Text über „Internationalisierungsprozesse in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie nach 1945“ von Anita Bagus oder die Aufsätze von Marleen Metslaid, Ingrid Slavec Gradišnik und Jiří Woitsch zur Fachentwicklung in Estland, Slowenien und der Tschechoslowakei, andererseits durch drei ausführliche und kompetent vorgetragene Resümees von Leonore Scholze-Irrlitz, Friedemann Schmoll und Sophie Elpers, in denen die einzelnen Tagungsbeiträge nochmals in größere Kontexte eingeordnet werden. Die Mischung aus empirisch dichten und eher weit perspektivierten Beiträgen ist hier sehr gelungen und rechtfertigt den gewählten Titel – in der Tat liegt hier eine Publikation vor, die die Umrisse einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissensgeschichte in Europa nachzeichnet.
Dabei ist klar, dass in einem solchen Band nicht alle nationalen Kontexte gleichermaßen beleuchtet werden können. Der Schwerpunkt liegt neben dem deutschsprachigen Raum vor allem auf mittel- und osteuropäischen Ländern; über die Folkloristik in Frankreich, Italien oder Spanien oder die Entwicklungen in Großbritannien oder Skandinavien erfährt man nur am Rande – hier bieten der Aufsatz von Bagus sowie die Schlusskommentare von Scholze-Irrlitz, Schmoll und Elpers zumindest einige gute Anhaltspunkte. Mittel- und Osteuropa ist dagegen mit mehreren gewichtigen Einzelbeiträgen vertreten: Neben den bereits erwähnten Abhandlungen von Metslaid, Slavec Gradišnik und Woitsch ist hier noch Christian Marchettis Aufsatz zur Entwicklung „kleiner südostdeutscher Volkskunden“ (123) vor und nach 1945 zu nennen. Mehrere Texte behandeln selbstverständlich Stationen der österreichischen und Schweizer Wissenschaftsgeschichte, so der biografische Beitrag von Christine Burckhardt-Seebass über den Volkskundler und Museumspraktiker Robert Wildhaber, der neben seiner Tätigkeit in der Abteilung Europa des Basler Völkerkundemuseums auch in viele andere volkskundliche Aktivitäten involviert war. Helmut Eberhart und Reinhard Bodner bieten in ihren Beiträgen hochinteressante Einblicke in Aushandlungsfelder von „Volkskultur“ in Österreich nach 1945. Während Eberharts Miniatur zur Wiedereinführung des Sternsingens in Wien zwei unterschiedliche, von den Antagonisten Viktor Geramb und Leopold Schmidt markierte Positionen zur Volkskunde als einer „angewandten Wissenschaft“ exemplarisch herausarbeitet, analysiert Bodner die Wirkungs-, Diskurs- und Skandalgeschichte von Gertrud Pesendorfers 1966 erschienenem, klar in NS-Kontinuitätslinien stehenden Buch „Lebendige Tracht in Tirol“. Dieser – wie immer bei den Arbeiten Reinhard Bodners – ungeheuer materialreiche Aufsatz schließt mit sehr differenzierten und kontextsensiblen Überlegungen zur Praxis der Trachtenliebe – unter anderem mit dem klugen Satz: „Gerade weil ‚Tracht‘ immer mit ‚Ideologie‘ zusammenhängt, lässt sie sich nie darauf reduzieren.“ (203)
Ein Glanzstück des Bandes, das sich allerdings weder auf Österreich noch die Schweiz bezieht, sondern zwei prominente deutsche Volkskundler in den Mittelpunkt stellt, ist der Beitrag von Elisabeth Timm „In Wahrheit und im Wahren, vor und nach 1945. ‚Kultur‘ und ‚Quellenforschung‘ bei Hans Moser und Bruno Schier“. Timm zeigt, ausgehend von einem archivalischen Fundstück der Sonderklasse, wie sich volkskundliche Ansätze und Wissensbestände aus einer foucaultianisch-diskursanalytischen Perspektive als Produkte ständiger „Umstellung, Verschiebung, Akzentuierung“ (30) darstellen. Jenseits der simplen fachhistorischen Interpretamente von „Kontinuität“ oder „Neuanfang“ wird so deutlich, „dass die Geschichte des Wissens diskontinuierlich ist“ (58). Nebenbei wird hier das Wissensformat „Vorlesungsmanuskript“ behandelt, und zwar am Beispiel eines Manuskriptexemplars zu „Sitte und Brauch“, das Bruno Schier von 1934/35 bis 1966 durchgehend verwendet hatte. Ergänzungen, Überklebungen und Einlagen machen das sichtbar, was Elisabeth Timm sehr schön als „track changes“ bezeichnet (50); die inhaltlichen Linien blieben dabei gleich, Sprache und Terminologie wurden den neuen politischen Rahmenbedingungen behutsam angepasst, um die eigene Arbeit am Gegenstand wieder ins zeitspezifische „Wahre“ zu rücken.
Es steht exemplarisch für den wissensgeschichtlichen Ansatz des Bandes, dass hier auch die berufliche Korrespondenz unter volkskundlichen Fachkollegen als Wissensformat behandelt wird. Michael J. Greger geht den Verwicklungen der Volkskunde in Österreich und der Schweiz anhand dieser Textsorte nach und beleuchtet, wie sich die Österreicher Viktor Geramb und Richard Wolfram über die Jahrzehnte hinweg kleine Schweizer Netzwerke aufbauten, von denen sie nach 1945 – Wolfram mehr, Geramb weniger – durchaus profitierten. Überhaupt nimmt das, was die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung als „Argumentieren mit der Schweiz“ bezeichnen, im Band einen wichtigen Stellenwert ein: Für viele in den Nationalsozialismus verwickelte deutsche und österreichische Volkskundler*innen boten die Schweizer Netzwerke und insbesondere Richard Weissʼ 1946 erschienene „Volkskunde der Schweiz“ die Chance, sich gleich nach dem Krieg demonstrativ an einer „unbelasteten Volkskunde“ zu orientieren; die Schweiz avancierte „zum persönlichen Sehnsuchtsort, zum Beleg gesellschaftlicher Entlastung und zum karrierefördernden Netzwerk“ (13). So schreibt Greger sehr treffend über den expliziten Nationalsozialisten Richard Wolfram, dieser habe nach 1945 alle Register seiner „Schweizer Orgel“ gezogen, um sich vor langfristigen Sanktionen zu schützen (311).
Mit der Rezension nimmt sich Herbert Nikitsch in seinem Beitrag ein weiteres Wissensformat vor, das bisher nur selten systematisch thematisiert wurde. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht der Volkskundler und langjährige Direktor des Österreichischen Volkskundemuseums in der Laudongasse Leopold Schmidt, der den Rezensionsteil der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde über weite Strecken nahezu im Alleingang verfasste. Nikitsch legt anhand der zeitgenössischen Rezensionspraxis die groben und feinen Unterschiede innerhalb des volkskundlichen Feldes offen – feine Zuordnungen, Loyalitäten und Abgrenzungen fachlicher wie ganz persönlicher Art. Auf diese Weise kann er zeigen, wie sich im Medium der Rezension als einer „Schreibhandlung“ (291) die Strukturen einer ganzen Wissenschaftslandschaft spiegeln.
Im Rahmen der vorliegenden Rezension ist es nicht möglich, jeden einzelnen Beitrag dieses inhaltsreichen Bandes ausführlich zu würdigen, obwohl das angesichts des Niveaus der Texte gerechtfertigt wäre. Der Vollständigkeit halber sei noch verwiesen auf die Abhandlungen von Helmut Groschwitz zur Wissensgeschichte des Atlas der deutschen Volkskunde, von Benno Furrer zum „Schweizerischen Bauernhaus“ als Wissensobjekt sowie von Meret Fehlmann und Mischa Gallati zur Entwicklung des Volkskundlichen Seminars der Universität Zürich zwischen 1967 und 1983. Unter dem Titel „Nebenschauplatz Hamburg?“ enthält der Band darüber hinaus ein knapp 50 Seiten starkes Dossier über Walter Hävernick und die Hamburger Schule nach 1945. Die sechs Kapitel, durch grau hinterlegtes Druckpapier als Einheit innerhalb des Bandes gekennzeichnet, sind von Hamburger Studierenden unter der Leitung von Sabine Kienitz erarbeitet worden und stellen die ausführliche schriftliche Fassung einer im Rahmen der Wiener Tagung gezeigten Posterpräsentation dar. Hävernick, der von 1946/47 bis 1973 Ordinarius am Hamburger Seminar für Deutsche Altertums- und Volkskunde war, erweist sich hier als eine schillernde Figur, die innovative Perspektiven – etwa im Hinblick auf die damals im Fach kaum betriebene Großstadtforschung – und überaus konservative Argumentationsmuster – so im Fall der berüchtigten Studie über „Schläge als Strafe“ von 1964 – miteinander verband.
„Orientieren & Positionieren, Anknüpfen & Weitermachen“ ist ein rundum gelungener Band, der die vorliegende fachgeschichtliche Literatur um zahlreiche neue Aspekte erweitert und die bislang eher unterbelichtete internationale Nachkriegsgeschichte der Volkskunde angemessen darstellt. Man wird von den vier Herausgeber*innen in dieser Hinsicht noch viele weitere Impulse erwarten dürfen.