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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Edith Hessenberger/Klaus Beitl (Hg.)

Das Tschaggunser Mirakelbuch. Wallfahrt und Wunderglaube im 18. Jahrhundert

(Montafoner Schriftenreihe 29), Schruns 2018, Heimatschutzverein Montafon, 206 Seiten mit Farbabbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-902225-78-8
Rezensiert von Walter Pötzl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2020

Mirakelbücher gelten als wichtige Quellen nicht nur für die Frömmigkeitsgeschichte, sondern auch für den gefährdeten Alltag der gesamten Bevölkerung, auch wenn manche, wenn sie das Wort Wunder hören, in Skepsis und Ablehnung verfallen. Dabei ist Denken in historischen Kategorien gefragt: Historisches Faktum ist für Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft und Volkskunde nicht das Wunder, das wir nicht fassen können, sondern der Glaube der Menschen, dass ihnen in einer bedrohten Situation durch das Eingreifen einer höheren Macht geholfen wurde. Mirakelbücher werden vermehrt seit den 1960er Jahren ediert und ausgewertet [1]. Der Begriff Wunder erscheint nicht so oft in den deutschen Titeln. Auch das Tschaggunser Mirakelbuch reiht sich hier ein. Es geht um „Kraft und Würkung“, die von Maria ausgehen, es ist eine „Aufrichtige Erzehlung unterschiedlicher Gutthaten“ (Titelblatt). Das Dettelbacher Mirakelbuch gebraucht, wie andere auch, den Begriff Beneficia, was dann (nicht korrekt) mit Wunderzeichen übersetzt wurde. In Amorbach werden Miracula mit Beneficia synonym gesetzt. Von „tzeychen“ ist auch bei Heilig Blut in Rothenburg die Rede, von „wunderzeychen“ bei der hl. Achahildis von Wendelstein und in Vierzehnheiligen. In Marienweiher werden die Beneficia miraculosa von 1624 einige Jahre später mit „Wunder Wurdige Wolthaten“ übersetzt, das Mirakelbuch von 1747 gilt dann den „vornehmsten und Denckwürdigsten Wohltaten“ [2]. Das lateinische miraculum und seine deutsche Entsprechung Mirakel entfernen sich von Konnotationen, die sich beim Begriff Wunder allein einstellen können. In der Sensationspresse der Frühen Neuzeit, in den Neuen Zeitungen, wird z. B. die Geburt von Fünflingen in Emersacker (1565) und von Vierlingen in Augsburg (1683) als „Wundergeburt“ bezeichnet, ebenso wie die Niederkunft einer Augsburgerin (1531), die drei seltsame, unnatürliche und ganz ungewöhnliche Wesen auf die Welt gebracht hat. „Furchtbare Wunderzeichen“ zeigten sich 1561 am Himmel zwischen Eisleben und Mansfeld, „erschröckliche Wunderzeichen“ erschienen 1621 am Himmel über Augsburg. Ein „erschröckliches Wunderzeichen“ ereignete sich 1562 zu Lipburg, als sich ein Berg auftat. Ein „Wunderwesen“ entstieg 1564 in Brasilien dem Meer, eine „wundersame Missgeburt“ kam 1565 in Bernhardsweiler auf die Welt, als „wunderbarliches Begebnis“ wird ein Erdbeben 1567 in Altsassen bezeichnet, ein „wundersamer Korn- und Blutregen“ fiel 1570 auf Zwispalen nieder, ein „wunderseltsames Reh“ wurde 1580 in Memmingen bestaunt, „wunderliche Vögel“ wurden 1644 in Ratibor gesichtet, „Wundermehl“ wuchs 1684 unweit von Schlettau aus der Erde [3]. In diese Beispiele, die noch beträchtlich erweitert werden könnten, reiht sich das Wort „Wunderglaube“ im Untertitel zum publizierten Tschaggunser Mirakelbuch nicht ein. Ein Bezug zu den von Notsituationen betroffenen Menschen ist nicht gegeben, wogegen der Titel des Buches der historischen Wirklichkeit entspricht. In anderen Mirakelbüchern – im Tschaggunser kaum – wird öfter als Topos auf die Unwirksamkeit weltlicher Mittel hingewiesen, doch gibt es auch hinreichend Fälle, in denen die Form des Topos überschritten wird, indem medizinische Heilungsversuche geschildert werden, die man durchaus bei medizingeschichtlichen Quellen einordnen kann. In unserer Zeit kann die Medizin in vielen Fällen helfen und Versicherungen federn auch darüber hinaus finanzielle Risiken ab. Die Menschen, die uns in den Mirakelbüchern begegnen, waren den Gefährdungen des Alltags in ganz anderer Weise ausgesetzt, als wir es heute sind. In ihrer tiefen Religiosität konnte ihnen ihr Glaube helfen und sie suchten, oft in ausweglosen Situationen, Hilfe beim Kultobjekt einer Wallfahrt. Eine neuere medizinische Richtung, die Psychoneuroimmunologie, vermag hier Verstehensbrücken zu bauen [4]. Studierenden der Geschichte wird in der Regel bereits in den Anfangssemestern nahegelegt, vergangene Jahrhunderte unter den Bedingungen der jeweiligen Zeit und nicht von den heutigen Gegebenheiten aus zu sehen. Bei Mirakeln taucht seit der Aufklärung die besondere Schwierigkeit auf, sie als Phantastereien zu werten, statt sie als Glaubenszeugnisse der jeweiligen Epoche zu begreifen. Die Einstellung der Aufklärung wurde bestärkt durch die Konfessionspolemik, die zum Teil noch anhält und sei es auch nur in der Form des Unverständnisses; doch mit diesen Einstellungen wird man den Mirakelbüchern nicht gerecht.

In der Edition des Tschaggunser Mirakelbuches entwirft Michael Kasper einleitend (33–44) ein Bild des Montafon um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Zum Gesundheitswesen scheint es keine speziellen Quellen zu geben, doch taucht der Schrunser Barbier und Wundarzt Wenzeslaus Juen zweimal als Votant im Mirakelbuch auf (Teil II, 17 u. 104). Nachdem er selbst bei seiner Frau, die neun Wochen lang an einem strengen Fieber litt, verschiedene Mittel angewendet hatte, habe er einen wohlerfahrenen Leibarzt und schließlich Dr. med. Joseph Lang, den Stadtphysicus zu Bludenz, zu Rate gezogen. Dieser Fall geht wohl über den Topos von der vergeblichen weltlichen Hilfe hinaus.

Nach ihrer quantitativen Inhaltsanalyse (45–56) wertet Edith Hessenberger das Mirakelbuch auch als „alltagsgeschichtliche Quelle“ aus und zeigt darin das „Leben und Leiden der Wallfahrenden“ (57–92). Dabei interessieren über die allgemeinen Krankheiten hinaus besonders Unfälle in der bäuerlichen Arbeitswelt und bei der Arbeitsmigration (Krautschneider bzw. Schwabenkinder) sowie bei Lawinenabgängen und Überschwemmungen, außerdem Tierkrankheiten. Auch bei dieser Auswertung wird deutlich, dass Mirakelbücher eine außergewöhnliche Quelle für den gefährdeten Alltag der Menschen sind und dass man sie nicht bei Seite schieben sollte, weil man nicht an Wunder glaubt.

Von Klaus Beitl folgt dann die Transkription des Mirakelbuches. Pfarrer Jakob Lenz, der Herausgeber des Mirakelbuches (1757), zählte bis zu diesem Zeitpunkt 2 567 hl. Messen (und 106 Ämter), in den Jahren 1752 bis 1756 teilte man 60 000 Kommunionen aus und insgesamt gab es 378 Votivtafeln (einschließlich derer, die vor 1752 aufgehängt wurden), über die er in einem Schlusskapitel berichtete. Solche quantitativen Angaben vermitteln eine Vorstellung von der Mächtigkeit eines Wallfahrtsortes. Man darf dabei aber nicht außer Acht lassen, dass die Votanten nur einen Bruchteil der Besucher ausmachten. Die Zahl der auf dem Gnadenaltar gestifteten Messen entspricht in etwa der Zahl der Wallfahrer, von denen bei weitem nicht alle im Mirakelbuch auftauchen, weil viele auch in einer bestimmten Intention eine hl. Messe lesen ließen, ohne von einer Krankheit oder einem Unfall betroffen zu sein (oder weil sie die Guttat nicht anzeigten). Die Zahl der Kommunionen liegt in etwa um 20 Mal höher als die Zahl der gestifteten Messen. Pfarrer Lenz fügte noch für den ersten und für den zweiten Teil ein Register der „Gutthaten“ an, wobei die mit Abstand am häufigsten gebrauchte Formulierung „Hilf in…“ ist. Dadurch wird auch deutlich, dass der Akzent nicht auf dem „Wunderglauben“, sondern auf der erfahrenen Hilfe liegt.

Im Anhang der Edition (175–194) ist ein Register der Familiennamen der Votantinnen und Votanten und ein Register ihrer Herkunftsorte zu finden, womit der Einzugsbereich der Wallfahrt abgesteckt wird. Für diejenigen, die das Montafon nicht kennen, wäre hier auch eine Karte nützlich gewesen. Derartige Register sind nicht nur für die Familienforschung wichtig, wenn in Stammbäume dadurch mehr Leben kommt, sondern weil deutlich wird, dass es nicht um fiktive Personen geht, sondern um ganz konkrete Menschen, die auch in den Pfarrmatrikeln belegt sind [5]. Für die Ortsgeschichte erscheint noch manches, sonst nicht eruierbare Detail auf.

Nicht erklärt wird, warum das gedruckte (!) Buch transkribiert wird. Den Begriff „Transkription“ kennt man eigentlich nur bei nicht allgemein lesbaren handschriftlichen Dokumenten. Die beiden Abbildungen (14 u. 115) zeigen ein gut lesbares Schriftbild und eine Faksimilewiedergabe hätte einen unmittelbaren Eindruck erweckt. Das Mirakelbuch von Rankweil hätte als Vorbild dienen können. Für die volkskundliche Forschung ist (fast) jedes edierte und ausgewertete Mirakelbuch ein Gewinn. Für die Montafoner öffnet der vorliegende Band die Tür zu den Lebensverhältnissen um die Mitte des 18. Jahrhunderts.

Anmerkungen

[1] Ulla Rinkes: Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit – psychische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. phil. Eichstätt 2017, S. 584–594 mit einer Liste von Mirakelbüchern in Altbayern [https://doi.org/10.17904/ku.opus-595].

[2] Dieter Harmening: Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur historischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 28 (1966), S. 25–240, hier S. 27–47, dazu S. 47–49 (Begriff Mirakel).

[3] Nicoline Hortzitz: Von den unmenschlichen Taten des Totengräbers Heinrich Krahle zu Frankenstein und andere wahrhaftige „Neue Zeitungen“ aus der Frühzeit der Sensationspresse. Frankfurt am Main 1997, S. 13, 22, 25, 27, 30, 32, 41, 52, 90, 111, 123, 133; Michaela Schwegler: „Erschröckliches Wunderzeichen“ oder „natürliches Phänomenon“ ? Frühneuzeitliche Wunderzeichenberichte aus der Sicht der Wissenschaft (Bayerische Schiften zur Volkskunde 7). München 2002.

[4] Michaela Ott u. a.: Psychoneuroimmunologie – kann Glaube heilen? In: zaenmagazin 10 (2018), H. 1, S. 26–35.

[5] Walter Pötzl: Lebensbilder zu Bildern aus dem Leben (Beiträge zur Heimatkunde des Landkreises Augsburg 11). Augsburg 1991, S. 165–212; Rinkes (wie Anm. 1) S. 218–413.