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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Jochen Haberstroh/Irmtraut Heitmeier (Hg.)

Gründerzeit. Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und frühem Mittelalter

(Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 3), St. Ottilien 2019, EOS, 958 Seiten


Rezensiert von Stephan Freund
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 01.10.2020

Mit dem Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter verbindet sich „eine der größten Regressionen, die die Menschheitsgeschichte überhaupt kennt“ (Jacques LeGoff, in: Lexikon des Mittelalters 1 [1980], Sp. 871) – ein zahlreiche Aspekte des Lebens umfassender, tiefgreifender und zeitlich langgestreckter Transformationsprozess, an dessen Ende die europäische Welt des nunmehrigen Mittelalters ein anderes Aussehen besaß. Die sich damals vollziehenden Veränderungen prägen das Aussehen Bayerns in Teilen (Siedlungsverteilung, Ortsnamen) bis in die Gegenwart. Der hier anzuzeigende, aus einer im Oktober 2015 in Benediktbeuern abgehaltenen, internationalen Tagung hervorgegangene Band setzt sich in interdisziplinärem Zugriff ([Siedlungs-]Archäologen, [Rechts-]Historiker, Denkmalpfleger, Sprachwissenschaftler) mit diesen Veränderungen auseinander, nimmt gegenüber älteren, sehr stark die Gräberbefunde analysierenden Forschungen aber einen konsequenten, methodisch und inhaltlich gleichermaßen vielversprechenden Perspektivwechsel hin zu den Siedlungen und deren Voraussetzungen vor. Mit dem Untersuchungs(zeit-)raum wird zudem ein seit langem kontrovers diskutiertes Thema berührt, haben sich die Vorstellungen über die Ethnogenese der Bajuwaren doch in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig verändert. An die Stelle der älteren Vorstellungen einer Landnahme durch ein von auswärts gekommenes Volk, die Baio-arii, das sich in einem von den Römern leer zurückgelassenen Raum niedergelassen habe, ist die Erkenntnis getreten, dass es sich bei der Entstehung der Bayern um einen allmählichen, sehr komplex verlaufenden Akkulturationsprozess handelte, bei dem unterschiedliche Gruppierungen – nicht zuletzt romanisch-sprachige – zueinander gefunden und eine neue, nunmehr deutschsprachige Gemeinsamkeit entwickelt haben.

Die zahlreichen Ergebnisse im Einzelnen zu würdigen, ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, weshalb stattdessen eine knappe Kommentierung der Einzelbeiträge geboten sei.

Jochen Haberstroh/Irmtraut Heitmeier, Zeit – Raum – Ort: Einleitung (S. XIII-XVIII), bieten eine konzise, den Band als Ganzes erschließende, in seiner Fragestellung und Disposition erläuternde und zugleich die wichtigsten Ergebnisse prägnant zusammenfassende Hinführung (die auch in englischer Sprache enthalten ist, was der internationalen Rezeption des Bandes sicherlich dienen wird). Die einzelnen Aufsätze sind in mehrere thematische Blöcke gegliedert, die um die Trias „Zeit – Raum – Ort“ angeordnet sind und durch einen stärker theoretisch-abstrakten Abschnitt „Vorstellungen“ eingeleitet werden. An dessen Beginn steht der vergleichende Beitrag von Bernd Pfäffgen, Von der römischen Villa zum frühmittelalterlichen Dorf? Archäologische Befunde und Deutungsansätze aus dem Rheinland und aus Bayern (S. 3-75). – Martin Ott, Siedlungsgeschichte in der landeshistorischen Frühmittelalterforschung (S. 77-86), bettet die bayerischen Entwicklungen in den größeren forschungsgeschichtlichen Kontext ein. – Beispielhaft erläutert Hans-Peter Volpert, Hof. Weiler. Dorf. Frühmittelalterliche Siedlungsformen in der Münchener Schotterebene (S. 87-124), und zeigt Forschungslücken auf. – Hans-Georg Herrmann, Deskriptiver Reflex und normativer Anspruch von raumordnenden Elementen in der Lex Baiwariorum (S. 125-186), fragt nach den rechtlichen Hintergründen der raumbezogenen Vorgänge, die aufgrund der strategisch-militärisch bedeutsamen Lage Bayerns an der Grenze zweier großer Herrschaftsbereiche wohl schon sehr früh herrschaftlich gesteuert wurden. – Die beiden folgenden Beiträge von Franz Herzig, Der Übergang von der Römerzeit zum Frühmittelalter. Strukturwandel im Spiegel der Dendroarchäologie (S. 187-204), und Barbara Zach, Äcker und Gärten im frühmittelalterlichen Bayern (S. 205-218), befassen sich mit den aus naturwissenschaftlicher Perspektive seit geraumer Zeit neu hinzugetretenen Erkenntnismöglichkeiten. – Hubert Fehr, Agrartechnologie, Klima und Effektivität frühmittelalterlicher Landwirtschaft (219-243), zeichnet ein durchaus optimistisches Bild von der dank neuer landwirtschaftlicher Geräte guten Ernährungssituation in jener Zeit. – Der Abschnitt „II. Zeit – Raum – Ort“ eröffnet „Diachrone, räumliche und lokale Dimensionen“. Im ersten Teil „Zeit“ betrachtet Michaela Konrad, Römische villae rusticae als Orte der Kontinuität? Beispiele spät- und nachrömischer Nutzungsformen römischer Gutshöfe in den Nordwestprovinzen (S. 247-313), und zeigt den daran ablesbaren wirtschaftlichen und bautechnischen Wandel auf. – Mit der Weiternutzung römischer Gebäude sowie dem ab dem 6. Jahrhundert anhand der nunmehr dominierenden Holzbauweise ablesbaren sozio-ökonomischen Wandel in der Toskana befasst sich Vittorio Fronza, Timber buildings in Italy (5th – 8th c. AD): a socio-economic indicator (S. 315-354). – Mischformen, Wandersiedlungen und eine danach einsetzende Verstetigung von Siedlungen sei charakteristisch für die Kempen-Region, so Frans Theuws, Merovingian settlements in the southern Netherlands: development, social organisation of production and symbolic topography (S. 355-382). – Peter Höglinger, Das Salzburger Umland zwischen Spätantike und frühem Mittelalter (S. 383-413), hebt hervor, dass trotz einer vergleichsweise guten toponymischen und schriftlichen Überlieferung die Transformationsprozesse in dieser Gegend bislang nicht gut nachvollziehbar sind. – Ludwig Rübekeil, Huosi und Husibald. Tradition, Interferenz und Kommunikation mit Namen (S. 415-443), setzt sich erneut mit den vieldiskutierten bayerischen genealogiae auseinander und hält eine sich hinter deren Namen verbergende einheitliche Benennungslogik für wenig wahrscheinlich, sondern geht von mehrfachen Neu- und Umdeutungen aus. – Strukturen und Entwicklungen im „Raum“ widmet sich der zweite Unterabschnitt: Auf der Grundlage einer kritischen Sichtung der Schriftquellen kommt Ralf Behrwald, Gab es eine spätrömische Siedlungspolitik? (S. 447-468), zu dem Schluss, dass diese seit dem 5. Jahrhundert zum Erliegen gekommen sei. – Marcus Zagermann, Von den Alpen bis zur Donau. Archäologische Spurensuche nach Roms letzten Verwaltungs- und Militäraktivitäten (S. 469-504), macht diese bis in die 470er Jahre aus. – Stephan Ridder, Zu den Verkehrswegen im römischen Raetien und ihrer nachantiken Bedeutung (S. 505-521), sieht Indizien für ein Weiterwirken römischer Raumordnungsstrukturen bis in die Zeit des bayerischen Herzogtums. – Von zentraler Bedeutung für das Thema als Ganzes ist der Beitrag von Jochen Haberstroh, Transformation oder Neuanfang? Zur Archäologie des 4. – 6. Jahrhunderts in Südbayern (S. 523-572), der langgestreckte Transformationsprozesse ehemals römischer Siedlungen ebenso im archäologischen Befund bezeugt sieht wie völlige Neuansätze, die er unter dem Begriff „Gründerzeit“ fasst. – In eine ganz ähnliche Richtung deuten die Ergebnisse von Irmtraut Heitmeier, Das „planvolle“ Herzogtum. Raumerschließung des 6. – 8. Jahrhunderts im Spiegel der Toponymie (S. 573-657), die als Gründe dafür die militärischen Aufgaben Bayerns als Grenzprovinz sieht. – Sebastian Grüninger, Die Suche nach dem Herrenhof: Zur Entwicklung der Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Bayern (S. 659-686), zeigt, dass sich diese bereits weit vor der karolingischen Usurpation des Landes entwickelt hat. – Methodisch von besonderem Reiz ist der Abschnitt „Ort“, in dem jeweils paarweise archäologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge an Einzelbeispielen aufeinander bezogen werden. Den Auftakt bildet „Der zentrale Ort: Aschheim“ den Doris Gutsmiedl-Schümann und Anja Pütz, Aschheim. Ein zentraler Ort? Eine Indiziensuche in den archäologischen Funden und Befunden (S. 691-720), als exemplarischen Fall einer Gründersiedlung des 6. Jahrhunderts mit zentralörtlichen Funktionen ansprechen. – Die von Rainhard Riepertinger, Der zentrale Ort Aschheim. Eine Spurensuche in den historischen Quellen (S. 721-737), flankierend analysierten Schriftquellen bestätigen diese Einschätzung, zeigen Aschheims Bedeutung für das bayerische Herzogtum der Agilolfinger, speziell in der Zeit Tassilos III., was erklären mag, weshalb der Ort nach dessen Sturz durch Karl den Großen (bewusst!?) an Bedeutung verlor. – „Gewerbesiedlungen“ widmen sich Martin Straßburger, Spezialisierte Eisenproduktion und –verarbeitung in Siedlungen des ländlichen Raumes in Bayern (S. 739-804), der auf bereits frühe systematische Erschließung von Erzlagerstätten und Beispiele hochspezialisierter Eisenverarbeitung verweisen kann. – Auch Elisabeth Weinberger, Frühe Gewerbesiedlungen im Spiegel der Ortsnamen auf –ārum/ārun (S. 805-821), geht von einer frühen arbeitsteiligen Produktion, insbesondere militärischer Gegenstände aus. In der räumlichen Verteilung weichen archäologische Befunde und namenkundlicher Bestand allerdings auffällig voneinander ab. – „Kirchen als Elemente der frühesten Siedlungslandschaft“ thematisieren Christian Later, Kirche und Siedlung im archäologischen Befund – Anmerkungen zur Situation in der Baiovaria zwischen Spätantike und Karolingerzeit (S. 823-864), der zu einem weitgehend negativen Befund gelangt, der sich erst in der Karolingerzeit zu ändern beginnt. – Heike Johanna Mierau, Kirchliche Zentralorte in der frühmittelalterlichen Diözese Freising: Beobachtungen zu Siedlungslandschaft und Seelsorgestationen auf dem Land (S. 865-902), nimmt aufgrund der schriftlichen Überlieferung hingegen an, dass spätantike Traditionen für die Verteilung von Kirchenbauten in Bayern weiterhin wirksam waren. – Mit der „Siedlungsentwicklung in Grenzlage“ befasst sich Günther Moosbauer, Siedlungsentwicklung in Grenzlage. Archäologie des 4. bis 6. Jahrhunderts in und um Straubing (S. 903-914), der von einer durchgängigen Besiedelung des dortigen Raumes ausgeht. – In markantem Widerspruch dazu steht die schriftliche Überlieferung, die erst im späten 8. Jahrhundert (Alburg) bzw. sogar erst 897 (Straubing) einsetzt, wie Christof Paulus, Grundfragen zur Frühzeit Straubings aus historischer Sicht (915-927), deutlich macht.

In der Zusammenschau entsteht somit ein in vielerlei Hinsicht neues Bild von der Entstehung Bayerns: Während bis um 500 Transformationsprozesse mit zahlreichen Kontinuitäten dominierten, setzte wohl um die Mitte des 6. Jahrhunderts ein neue Räume erfassender Wandel ein, der sich im 7. Jahrhundert beschleunigte und es rechtfertigt, von einer „Gründerzeit“ zu sprechen.

Die einzelnen Beiträge enthalten jeweils ein umfangreiches (Quellen- und) Literaturverzeichnis, wodurch für künftige Forschungen eine wertvolle bibliographische Hilfestellung geboten wird. Zahlreiche Karten und Abbildungen erläutern die verbalen Ausführungen. Ein Orts- und Personenregister erschließt den auch in formaler Hinsicht vorzüglichen Band.

Das Werk als Ganzes bildet ein eindrucksvolles Beispiel der methodischen Vielfalt der beteiligten Disziplinen und verdeutlicht einmal mehr, welchen Erkenntnisgewinn der echte Dialog über die Fächergrenzen hinweg, aber auch die konsequent eingenommene vergleichende Perspektive für eine Zeit, deren schriftliche Quellen dünn gesät sind, zu zeitigen vermag. Die Resultate zeigen überdies in aller Deutlichkeit, welch kulturell-ethnischer Vielfalt Bayern seine Entstehung verdankt. Es bleibt daher zu hoffen, dass die vermittelten Einsichten die entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, um den zum Teil bewusst geschürten Ängsten gegenüber modernen Migrationsbewegungen eine wissenschaftlich fundierte, positiv sensibilisierende Position entgegenzustellen.