Aktuelle Rezensionen
Adelina Wallnöfer
Die politische Repräsentation des gemeinen Mannes in Tirol. Die Gerichte und ihre Vertreter auf den Landtagen vor 1500
(Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs Band 41), Innsbruck 2017, Universitäts-Verlag Wagner, 550 SeitenRezensiert von Gabriele Greindl
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.10.2020
Die nun vorliegende ebenso umfangreiche wie kenntnisreiche Studie von Adelina Wallnöfer ist die überarbeitete Fassung ihrer 1984 in Innsbruck eingereichten Dissertation. Die Autorin war durch die damals aktuellen und vieldiskutierten Forschungen zum Bauernkrieg von 1525 und besonders zu Michael Gaismair mit dem Thema in Berührung gekommen. Die große Frage, warum die Südtiroler Bauern, die die Autorin unter dem Begriff der „einfachen Leute“ (S. 25) subsummiert, trotz ihrer im reichsrechtlichen Vergleich privilegierten Stellung und ihres verbrieften Rechtes zur Landtagsbeschickung sich den Aufständen angeschlossen hatten, ließ sie die Geschichte der Landstände, der Tiroler Gerichte und ihrer Vertreter, zum Thema ihrer Doktorarbeit wählen. Im gleichen Zeitraum wie die Ottonische Handveste (1311), die Herzog Otto III. für die niederbayerischen Stände ausgestellt hatte, konnten sich die Südtiroler Stände im „Großen Freiheitsbrief“ von 1342 weitgehende Rechte sichern, so die verbriefte Versammlungsfreiheit und das Widerstandsrecht. Ihre dazu 1984 im Rahmen der Dissertation erarbeiteten Quellenstudien und Ausführungen konnten nun von Adelina Wallnöfer durch ein Angebot des Südtiroler Landesarchivs in erweiterter und überarbeiteter Form außerhalb des universitären Rahmens einem breiteren Publikum vorgelegt werden. Neben der Einbeziehung zahlreicher neuer Literatur zur Tiroler Landstandschaft zwischen dem Ende des 13. und dem des 15. Jahrhunderts, zwischen den Landesherren Meinrad II. (Graf von Tirol 1258-1295) und Friedrich IV. (Graf von Tirol und Regent in Oberösterreich 1406-1439), konnte die Autorin nunmehr neu zugängliche Quellen heranziehen. Das Südtiroler und das Tiroler Landesarchiv, die Stadtarchive von Bozen, Meran, Innsbruck, das Diözesanarchiv von Brixen und die Urkundenbestände der Klöster Stams und Neustift, sowie zahlreiche Gemeindearchive geben einen tiefen Einblick in die ständischen Aktivitäten im Tirol des Spätmittelalters, so dass Frau Wallnöfer „den [zweiten] zentralen Teil [der) Arbeit, nämlich die Biographien der Gerichtsvertreter nicht nur überarbeiten, sondern erheblich vertiefen“ (S.9 f.) konnte. Gut die Hälfte des vorliegenden Bandes umfassen diese ausführlichen Biogramme der alphabetisch aufgeführten ständischen Gerichtsvertreter, alle in einem Abstimmungsverfahren gewählt und das Vertrauen ihrer „nachpaurn“ (S. 224) genießend und deren Interessen vertretend. Die 180 erfassten Ständevertreter werden soweit möglich in ihrem familiären Umfeld, vor allem aber ausführlich in ihrem politischen Wirken, der Einbindung in ihre zu vertretende Gemeinde, der Übernahme der Funktionen in den Versammlungen, dann als Zeugen, Notare und Militärs vorgestellt. Die Autorin verortet deren Wirken nicht nur lokal - teilweise illustrieren Stiche deren heimische Bauernhöfe und Ansitze - sondern Adelina Wallnöfer kann aufgrund der guten Quellenlage zu jedem Biogramm eine weitere beträchtliche Zahl von Personen aufführen, die mit dem jeweiligen Gerichtsvertreter in Verbindung standen. So zeigt sich eine breit gefächerte, politisch sehr aktive Schicht von Landsassen, allesamt gewählt zur „Ausübung eines aus der Selbstverwaltung der Gemeinde und des Gerichts sowie aus der Verwaltung des Kirchenguts resultierenden Amtes“ (S. 209). Tirol war in sogenannte „Gerichte“ eingeteilt und die Vertreter der Bauern in diesen „Gerichte[n] … auf den Landtagen und in den landständischen Gremien“, so der IV. Abschnitt der Arbeit von Adelina Wallnöfer (S. 146-172) vertraten die Gesamtheit des Landes im umfassenden, hochmittelalterlichen Sinn. „Land und Herrschaft“, um den Titel des Grundlagenwerks zur Verfassungsgeschichte Österreichs von Otto Brunner zu zitieren, bildeten zusammen die Einheit des Landes, sie zusammen formierten den dualistischen Ständestaat; gleiches gilt für Bayern.
Eine geographische Karte auf S. 154 zeigt die Einteilung Tirols in diese Gerichtsbezirke - vom landesfürstlichen Gericht Ehrenberg bei Reutte in Tirol im Norden bis nach Caldonazzo im Süden, Gerichte, die allesamt landtagsfähig waren und ihre Vertreter sandten. Der Süden Tirols weist mit den großen Gebieten der Hochstifte Brixen und Trient Herrschaften auf, deren Hintersassen und Untertanen den kirchlichen Strukturen verpflichtet waren, was teilweise zu schweren Auseinandersetzung führte, so etwa um das Kloster Sonnenburg im 15. Jahrhundert. Die vorhergehende Tabelle auf S. 152/153 führt die einzelnen Südtiroler Gerichte auf, für die die Entsendung eines landständischen Boten nachgewiesen werden konnten – auch hier sei wieder auf die Parallelität zu Bayern verwiesen. Sehr fruchtbar scheint immer mehr ein größerer Vergleich der Gesamtlandtage in Bayern und Tirol, finden sich doch nicht nur fast gleichlautende Einberufungsschreiben, stellen die Stände in beiden Territorien die Vertreter der einzelnen Landesbezirke, die Boten und Gesandten, auch die Steuererheber für ordentliche und außerordentliche Steuern und behalten sich in beiden Territorien die Stände die Verwaltung der Gelder vor.
Adelina Wallnöfer gliedert ihre Studie in sechs Abschnitte; nach der Einleitung folgen die Ausführungen zur Integration der ehemals autonomen Dorfgemeinschaften in die immer stärker strukturierten Ämter und Gerichte seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Unter der Überschrift „Die Gerichte und die Tiroler Landesfürsten vom Ende des 13. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts“ (S. 27-82) wird diese größere Herrschaftsdichte, die dann zum „Großen Freiheitsbrief“ von 1342 zwischen dem Tiroler Adel und Markgraf Ludwig von Bayern, dem Brandenburger, führte, genau nachgezeichnet. 1349 und 1352 bestätigte Ludwig weitere Landesordnungen der Stände, die beim Wechsel der Herrschaft zu Rudolf I. von Habsburg 1363 bestätigt wurden. Nach dem Gebrauch der päpstlichen Kanzlei wurde in jede Bestätigungsurkunde aber eine Nichtobstanzien-Klausel aufgenommen, was eine Vielzahl von Einzelurkunden zur Folge hatte, die von A. Wallnöfer hier in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. „Das Wirken der Tiroler Landschaft von 1417 bis 1490“ – bis Maximilian – hatte, wie die Autorin im III. Abschnitt (S. 83-144) zeigt, nach der sich in ruhigeren Bahnen entwickelnden, relativ guten Zusammenarbeit mit Herzog Friedrich IV. (1406-1439), die schweren Konflikte während der „Vormundschaftsstreitigkeiten von 1439 bis 1446“ (S. 92-103) aufzufangen versucht. Denn „die ständige Kriegsgefahr bedeutete für viele den zeitweiligen Abzug von der bäuerlichen Arbeit“ (S. 102). Trotz der Bemühungen der Stände verschärften sich aber die Spannungen weiter unter Erzherzog Sigmund dem Münzreichen (1427-1496) und die politische Situation eskalierte, als Sigmund im Frühjahr 1487 ohne jede Zustimmung der Stände einen Krieg mit der Republik Venedig begonnen hatte, um einen Weg aus der massiven Schuldenkrise zu finden. Dies brachte ihn in Konflikt mit den Landständen, der sich noch weiter zuspitzte, als Erzherzog Sigmund im gleichen Jahr die Tiroler Vorlande an die bayerischen Herzöge Albrecht IV. und Georg den Reichen verkaufen wollte. Der Dramatik der Situation angepasst, wurde er von den Landständen noch im November zum Rücktritt (S. 133 ff.) gezwungen - ein bis dato nie da gewesener Vorgang. Die Schuldentilgung blieb allerdings weiterhin, wie auch in anderen Territorien, eine der großen Aufgaben der Landstände. In detailreicher, immer durch Quellenzitate belegter Schilderung macht Adelina Wallnöfer auch dieses Geschehen transparent, sie erläutert die 1488 erfolgte vorläufige Beilegung des Konflikts, als Kaiser Maximilian, das Bankhaus der Fugger, die Herzöge von Bayern und der Schwäbische Bund mit allen Gerichten Tirols eine einvernehmliche Lösung schlossen. Deutlich werden in diesem Kapitel auch die internationalen Verflechtungen der scheinbar so regionalen Stände, etwas, was auch für Bayern und ebenso für Jülich und Kleve gezeigt werden konnte. Regionale Politik, eingebettet in die internationale Politik, auch dies war immer Sache der Landstände.
Anschließend geht Frau Wallnöfer im folgenden IV. Kapitel ausführlich auf die nun etablierte Organisation des Landes ein, sie schildert die Organisation und den Ablauf der Vertretung der einzelnen Tiroler Gerichte (S. 145-172; s.o.). Der dieses Kapitel einleitende farbige Stich einer Tiroler Ständeversammlung in der Frühen Neuzeit (S.144) sowie die Faksimileabbildung eines Verzeichnisses der Gerichte und der sie vertretenden landständischen Boten auf dem Bozener Landtag von 1468 (S. 111) und eine Seite des Verzeichnisses der Ausschussmitglieder auf dem Meraner Tag von 1444 bringen dem Leser das Geschehen nahe; gleichzeitig aber wird die Distanz – und damit die Notwendigkeit weiterer sorgfältiger Forschungen – deutlich. Die Autorin zeichnet im IV. Kapitel nochmals die Aktenlage der Stände nach, zeigt ihre Selbst-Organisation in landtagsfähigen Gerichten auf und erläutert im V. Kapitel, überschrieben „Die Repräsentanten der Gerichte“ (S. 174-224) in einem ersten Teilabschnitt die Aufgaben und den Wirkungskreis der agierenden, der gewählten Landsassen in ihrer ganzen Vielfalt und in einem zweiten Abschnitt deren „herrschaftliche, soziale und wirtschaftliche Parameter“, womit das Umfeld der handelnden Personen noch besser sichtbar wird. Der gesamte, große, erläuternde Textblock vor dem letzten, großen VI. Abschnitt der „Biographien“ (S. 225-469) beinhaltet im Text nicht nur viele erläuternde Zitate, sondern verweist in den Fußnoten auf weitere handelnde Personen, auf ergänzende Literatur und auf diverse, nahezu unbekannte kleine Adels- und Klosterarchive, die allesamt eine genaue Würdigung und Weiterarbeit verdienen.
Mit dieser fulminanten Studie gibt Adelina Wallnöfer einen lebendigen Einblick in das vielfach verflochtene politische Geschehen in einem zentralen Territorium des Reiches – und dem Leser eine überaus spannende Lektüre an die Hand. Dass all dies mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem ausführlichen Personen- und Ortsregister schließt, mag selbstverständlich erscheinen, beweist aber einmal mehr die Qualität dieser Arbeit, deren Studium allen an der Geschichte der landständischen Vertretungen in Europa Interessierten empfohlen sei.