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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Wolfgang Wüst (Hg.)

Patrizier – Wege zur städtischen Oligarchie und zum Landadel. Süddeutschland im Städtevergleich

Unter Mitarbeit von Marc Holländer, Berlin 2018, Peter Lang, 315 Seiten, 27 farbige, 11 s/w Abbildungen
Rezensiert von Andreas Flurschütz da Cruz
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.10.2020

Die Stadtgeschichtsforschung unterscheidet für gewöhnlich drei gesellschaftliche Gruppen: Eine städtische Unterschicht ohne Bürgerrecht, die dennoch Steuern zu zahlen sowie weitere Pflichten zu erfüllen hatte; eine Mittelschicht, die zwar über das Bürgerrecht, aber keinen realen politischen Einfluss auf die Regierung der Stadt verfügte, sowie die zahlenmäßig meist geringe, aber politisch einflussreiche Oberschicht. Diesen Eliten und der adäquaten Begrifflichkeit ihrer Beschreibung widmet sich der vorliegende Tagungsband, der sich dem Thema auf komparative Weise nähert.

In seiner Einleitung zeigt Wolfgang Wüst die Errungenschaften und Desiderate in der Patriziatsforschung als Teil der Elitenforschung auf und betont die „Hybridformen zwischen handelsorientierten und adelig-ratselitären Lebensformen“ (S. 20). Ein geographischer Schwerpunkt der anschließenden Beiträge liegt auf der Reichsstadt Nürnberg, die – ohne politische Zünfte geradezu prototypisch für eine oligarchisch regierte Stadt der Frühen Neuzeit – immer wieder als Vergleichsgegenstand herangezogen wird und die als „Eldorado der Patrizier“ konsequenterweise im Fokus der ersten Sektion steht. Der Herausgeber beschreibt in seinem Beitrag zum patrizischen Selbstverständnis die Versuche, gesellschaftlichen Status durch Kleider- und Luxusordnungen zu regeln. Ziel nicht nur der Nürnberger Patrizier war es letztlich, in den regionalen Niederadel und dessen Korporationen aufzusteigen, was aber nur wenigen Familien tatsächlich gelang. Werner Wilhelm Schnabel widmet sich der einmaligen Konstellation, die sich in Nürnberg im 17. Jahrhundert ergab, als durch den Zuzug adliger österreichischer Exulanten zwei Eliten in der Reichsstadt aufeinanderstießen, deren Verhältnis zueinander immer wieder aufs Neue auszuhandeln war. Grundsätzlich wirkte diese mehrere Jahrzehnte andauernde Koexistenz für das Nürnberger Patriziat statusbedrohend. Anhand von Stammbuch- und Kirchenbucheinträgen identifiziert Schnabel Mechanismen sowohl der Annäherung als auch der Distanzierung zwischen den beiden Gruppen. Der spätmittelalterlichen patrizischen Memoria, die sich neben Jahrtagen, Stiftungen und persönlichen Denkmälern auch in Totenschilden manifestierte, nähert sich Katja Putzer. Handwerkern, gemeinen Bürgern und Frauen generell wurde solche Ehre in den Nürnberger Kirchen nicht zuteil. Matthias Nuding geht den Wegen nach, die patrizische Archive und Sammlungen als (Dauer-)Leihgaben seit 1852 in das Germanische Nationalmuseum führten, und zeigt, welche immense Rolle diese Institution bei der Verwaltung des patrizischen Erbes der Reichsstadt spielte.

Die zweite Sektion des Bandes will verschiedene süddeutsche Städte und ihre Oberschichten miteinander vergleichen. Karl Borchardt skizziert auf anschauliche und ausführliche Weise ein Forschungsprojekt zu den im Laufe der Jahrhunderte mehrfach großflächig ausgetauschten Eliten der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber, zu der es bisher kaum zusammenfassende Forschungen gibt. Er beschreibt außerdem überregionale patrizische „Netzwerke, welche die Politik der oberdeutschen Reichsstädte maßgeblich bestimmten“ (S. 148) und in die auch Rothenburg eingebunden war – auffällig schwach nehmen sich im Übrigen die Verbindungen der Tauberstadt zu Nürnberg aus. Andreas Haunert stellt die vier Perioden in der patrizischen Geschichte des geographischen ‚Ausreißers‘ Frankfurt zwischen 1189 und 1806 dar, wo „[n]icht der Wohlstand, sondern die Herrschaftsausübung […] das hervorstechende Merkmal für jene Generationen und Jahrhunderte übergreifende Gruppe, die man das Patriziat nennt“, gewesen sei (S. 173). Es organisierte sich dort in nach Anciennität gestaffelten Gesellschaften, die teilweise bis heute bestehen. Das historische Kuriosum einer Doppelherrschaft von Fürstabt und Reichsstadt, „deren Verhältnis zwischen offener Feindschaft, Koexistenz und teilweiser Kooperation wechselte“ (S. 189), wird in Kurzform für Kempten von Franz-Rasso Böck beschrieben, während Stefan Lang das Patriziat der Tuchmetropole Ulm an der dortigen Stadttopographie nachvollzieht: im Kirchenraum des Ulmer Münsters mit seinen Memorialkunstwerken wie Totenschilden und Altären, in Gebäuden wie der „Oberen Stube“ als Versammlungslokal der Patrizier, dem Rathaus und dem „Schuhhaus“, wo sich der Tanzsaal der Patrizier befand. Ähnlich verfährt Christoph Heiermann, der die Entstehung, Organisation, Aufnahmepraxis und das Selbstverständnis der Konstanzer Oberschicht skizziert und die Häuser der dortigen Geschlechtergesellschaft in seine Untersuchung einbezieht – im Gegensatz zu Langs illustriertem Beitrag zu Ulm allerdings ohne jegliche Bebilderung, obwohl etliche Gebäude bis heute bestehen und sich eine solche Ausstattung somit angeboten hätte. Weiterhin bietet Heiermann Anknüpfungspunkte für ein anderes Forschungsfeld, nämlich die Präsenz und Rolle von Frauen im Patriziat und in dessen Korporationen (S. 239). Parallelen des Münchner Patriziats zu den reichsstädtischen Oligarchien Süddeutschlands stellt Michael Stephan fest. Wenngleich das dortige Patriziat nie die Bedeutung des reichsstädtischen Patriziats erreicht habe, gab auch dort ein eng verflochtener Familienkreis reicher Handelsleute, Unternehmer, Bankiers und Großgrundbesitzer den Ton im Stadtrat an.  Reichtum war Voraussetzung, um die zeitraubenden Ratsämter bekleiden zu können, die bis ins 16. Jahrhundert weitgehend Ehrenämter waren.

Die letzten drei Beiträge gehen auf spezielle Aspekte ein: Renata Skowrońska befasst sich mit dem mittelalterlichen Patriziat der Hansestädte im Staat des Deutschen Ordens, wo geburtsständische Anciennität – im Gegensatz zu den süddeutschen Reichsstädten – zugunsten berufsständischer Faktoren von geringerer Wichtigkeit gewesen sei, wenn es darum ging, zentrale Ämter zu besetzen. Manfred Wegele präsentiert anhand von Abstammungslisten seine genealogischen Wege ins süddeutsche Patriziat, und Klaus Wolf konzentriert sich auf patrizische Literatur bzw. deren Rezeption in den Reichsstädten Augsburg, Nürnberg (Fastnachtsspiele) und Frankfurt am Main (Passionsspiele).

Es hätte sich angeboten, den zwischen den einzelnen Städten und ihren Eliten vergleichenden Aspekt noch stärker herauszuarbeiten. Die Aufsätze mit ihren Schwerpunkten auf einzelnen Städten bieten jedenfalls eine hervorragende Grundlage für die Erfüllung dieses Desiderats, wenngleich sie unterschiedliche thematische und zeitliche Schwerpunkte setzen. Überregionale Beziehungen und Parallelen werden – bis auf wenige Ausnahmen – angesprochen, aber kaum vertieft.

Auch wenn das Vokabular zur Beschreibung städtischer Gesellschaften und ihrer Gruppen in den letzten Jahrzehnten durch neutralere Termini ergänzt wurde, ist das Wort Patriziat doch weiterhin als Synonym für urbane Ober- und Führungsschichten wirkmächtig geblieben. Die Autoren sind sich einig, dass der im Zuge der Antiken- und Italienrezeption in der Renaissance aufgegriffene Begriff des ‚Patriziats‘ nicht pauschal auf alle Städte übertragen werden kann, sondern der zeitgenössische Begriff der „ehrbaren Geschlechter“ priorisiert werden sollte. In Nürnberg wird erstmals 1488 von einem „Patriziat“ gesprochen, in Ulm setzte sich der Terminus gar erst im 18. Jahrhundert durch und löste den der „Geschlechter“ ab.

Eine gelungene Ergänzung der einzelnen Aufsätze ist die ihnen vorgeschaltete Zusammenfassung der Beiträge im Stil eines Tagungsberichts, in der auch Referate resümiert werden, die keinen Eingang in den Sammelband fanden, sowie die Ergebnisse der sich an die Vorträge anschließenden Diskussionen. Zudem wird jeder der allesamt deutschsprachigen Aufsätze durch eine kurze englische Zusammenfassung ergänzt, was die Ergebnisse des Bandes auch für die internationale Forschung zugänglich macht.