Aktuelle Rezensionen
Jürgen Hasse
Wohnungswechsel. Phänomenologie des Ein- und Auswohnens
(Edition Kulturwissenschaft, Bd. 240), Bielefeld 2020, transcript, 208 Seiten, ISBN 978-3-8376-5451-6
Rezensiert von Eveline Althaus
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
Wohnungswechsel gehören zu den Wohnbiografien der meisten Menschen und gewinnen gesellschaftlich zunehmend an Bedeutung angesichts fortschreitender Individualisierungsprozesse und Arbeitsmarktmobilität, aber auch unter den Prämissen ökonomischen Wachstumsdrucks und urbaner Verdichtungsimperative. Das Leitbild einer Stadt der kleinen Wege und Politiken, die in angespannten Wohnungsmärkten den Wohnflächenverbrauch pro Person reduzieren beziehungsweise gerechter verteilen wollen, sind in raumplanerischen, alterns- und umweltpolitischen Diskursen breit akzeptiert. Zu deren Umsetzung werden Wohnungswechsel meist implizit vorausgesetzt – ohne jedoch genauer zu fragen, was dies für die von einem Umzug Betroffenen denn genau bedeutet.
Das neuste Buch von Jürgen Hasse nimmt sich genau dieses blinden Flecks an und liefert wertvolle Erkenntnisse zu den tiefgreifenden menschlichen Transformationserfahrungen, die mit einem Wechsel des Wohn- und Lebensortes einhergehen. Im alltagspraktischen Verständnis wird ein Umzug vielfach mit Kisten-Packen, Transportieren und Neu-Einräumen von Wohn-Gegenständen an einem anderen Ort gleichgesetzt. Umziehen ist aber – das wird bei der Lektüre schnell klar – weit mehr als eine organisatorische und logistische Aufgabe. Es ist immer auch eine einschneidende biografische Schwellensituation, die ortsbezogene atmosphärische und gefühlsmäßige Eindrücke, Gewohnheiten und Ordnungen durcheinanderbringt und neu schafft. Diese im subjektiven Erleben sowie in Erinnerungen spürbar werdende existentielle Dimension umzugsbedingter Mobilität steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses des Buches. Ein Umzug tangiert zwar das ganze Leben, fördert bei den Umziehenden in der Regel aber keine vertiefte Reflexion und „Rekapitulation persönlicher Wohn- und Lebenswege“ (13) – da es in kurzer Zeit zahlreiche praktische Anforderungen zu bewerkstelligen gibt.
Mithilfe der Phänomenologie will Hasse gewissermaßen hinter dieses unreflektiert Erlebte und Nicht-Bedachte eines Wohnungswechsels blicken und eine „Autopsie des Gewöhnlichen“ (16) vornehmen, die weder auf einer sozialempirischen noch einer theoretisch abstrakten Analyse beruht. Vielmehr geht es methodisch mit Bezug auf die „Neue Phänomenologie“ von Hermann Schmitz darum, „ausgehend vom leiblichen Befinden, sinnlichen Wahrnehmen und atmosphärischen Spüren das Begegnende und Widerfahrende über das lebensweltliche Erfahrungswissen hinaus dem detaillierten Verstehen zugänglich zu machen“, um dadurch „Zusammenhängendes in seiner situativen Einbettung besser zu verstehen“ (ebd.). Hierbei spielen sprachliche Sensibilität und Selbstreflexion des Autors wichtige Rollen. Begründet Hasse seine Ausführungen doch mit seinem persönlichen Erleben eines Wohnungswechsels.
Während der Lektüre folgen wir Hasse bei seiner phänomenologischen Reise vom Aufbrechen und Loslassen am alten – bis hin zum Erkunden und Ankommen am neuen Wohnort. Da sich dieser Prozess nicht linear gestaltet, wählt Hasse kein chronologisches Narrativ, sondern strukturiert das Buch in sechs Kapitel, die unterschiedliche Bedeutungsdimensionen des Wohnungswechsels thematisieren. Zu Beginn erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem „Umziehen“ in etymologischer, mythischer und praktischer Hinsicht. Anschaulich legt Hasse dar, dass mit der Bewegung und Mobilisierung von Gegenständen verschiedenste Atmosphären, Stimmungen und Gefühle einhergehen und Erinnerungen hochgespült werden, die immer auch räumlich verortet sind und zeitlich erfahren werden. Mit der Verwendung des Begriffs „RaumZeit“ reflektiert Hasse, dass Raum und Zeit dabei keine separaten Entitäten, sondern immer ineinander verwoben sind.
Das zweite Kapitel ist einer differenzierten Betrachtung des „Wohnens“ gewidmet. Ausgehend von der Überlegung, dass zu jedem Wohnen – dem sesshaften wie dem nomadischen – das Prinzip der Bewegung im Raum gehört und eine Wohnung und deren Atmosphäre immer mit dem weiteren Umfeld und Milieu verflochten ist, geht der Autor auf anthropologische Grundbedeutungen des Wohnens ein, das individuell und zugleich in Beziehungsnetze eingebettet erlebt wird, privaten Rückzugsraum bietet, aber auch gesellschaftlich genormt ist und Ungleichheitsverhältnisse aufzeigt. Im Wohnungswechsel wird deutlich, dass Wohnen immer auch Transformationen unterliegt, die Hasse mit Metaphern der Verwandlung, Häutung und des Übergangs vertieft diskutiert.
Die Phänomenologie des Wohnungswechsels setzt sich drittens mit der Thematik der „Dinge“ auseinander, die im Umzugsprozess mobilisiert, in Unordnung gebracht und wieder neu geordnet werden. Ein Umzug macht erforderlich, sich von Dingen zu trennen. Dies ist anspruchsvoll, da Dinge in Hasses Argumentation immer auch mit Bedeutungen verknüpft und Speicher von Erinnerungen sind. Mobilisierte Dinge, die Gefühle oder Atmosphären transportieren, haben denn auch das Potenzial, einen im Umzugsprozess affektiv tief zu berühren und Vergessenes wieder zu aktivieren.
Kapitel vier spürt dem Umziehen in der zweipoligen Situation zwischen „Auswohnen und Einwohnen“ genauer nach. Mit den Räum- und Packarbeiten verschwinden auch vertraute Stimmungen, Atmosphären und bewährte Ordnungen. Es gilt Abschied zu nehmen und sich auch mental und emotional zu distanzieren, um sich neu zu orientieren und an einem anderen Wohnort anzukommen. Momente der „Entbindung“ und der „Beheimatung“ folgen nach Hasse dabei nicht einem linearen Weg, sondern greifen vielmehr ineinander hinein.
Das fünfte Kapitel setzt sich vertieft mit den „Zeitrhythmen“ eines Umzugs auseinander. Mit Bezug auf Eugène Minkowskis Konzept der „gelebten Zeit“ verweist Hasse – im Unterschied zur genormten Uhrzeit – auf das subjektive Erleben der Phasen von Aus- und Einwohnen, die mal gedehnt, mal straff und „spannungsreich ineinanderfliessend“ (41) erlebt werden. Der Autor diskutiert einen Wohnungswechsel dabei als „raumzeitliche Schwellensituation“, wobei sich die Situation des baldigen Nicht-Mehr und aktuellen Noch-Nicht als widersprüchliches Gefühl zwischen „Sein und Werden“ ausdrückt (157). Ein Umzugstag gleicht in diesem Verständnis einem Schwellengang, der ein zwischenzeitliches Erleben des Sowohl-als-auch, des noch und schon im gelebten Raum mit sich bringt.
Das Buch endet mit einem Schlusskapitel zu den „stolpernden Neuanfängen“ nach einem Wohnungswechsel. Ankommen und Wurzeln schlagen an einem neuen Ort brauchen Zeit und geschehen nur schrittweise. Bis behagliche Atmosphären wiederaufgebaut sind und sich affektive Verbindungen einstellen, muss Vieles erst noch bekannt und selbstverständlich werden (177). Hierzu ist Distanzierung, aber auch der erweiterte neue Wohnraum grundlegend wichtig. Konstituieren sich doch im „leiblichen Rhythmus gehender Bewegungen von und zu einer Wohnung emotionale Beziehungen des Zuhause-Seins“ (184).
Jürgen Hasse findet in diesem dichten und vielseitigen Buch präzise, unkonventionelle und zuweilen poetische Worte für die subtilen inneren wie auch äußeren manifesten Bewegungen und die nur schwer formulierbaren Empfindungen, Stimmungen und Atmosphären, die mit einem Umzug einhergehen. Zweifellos ließe sich ein Wohnungswechsel auch aus zahlreichen anderen Perspektiven erzählen – worüber nachzudenken, die Lektüre inspiriert.
Ein Beitrag aus der empirischen Sozialforschung würde wohl mit den Stimmen von Betroffenen stärker herauszuarbeiten versuchen, ob und wie ein Umzug je nach biografischer und sozialer Situation, Alter einer Person und Wohndauer, räumlicher Distanz zwischen Wohnorten etc. auch ganz unterschiedlich erlebt wird. Ein anthropologischer Zugang würde eventuell die Grenzsituationen und liminalen Schwellenmomente beim Umziehen mit Bezug auf Ritualtheorien vertiefter ausleuchten (Arnold van Gennep und Victor Turner böten spannende Anknüpfungspunkte). Ein psychologischer Blick nähme sich vielleicht der Gefühle und Kommunikationsformen im Umzugsprozess mit Bezug auf individuelle Persönlichkeitsstrukturen an. Ein ökonomischer Beitrag würde wohl eine Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen und Anreize für Umzugsmotive berechnen. Ein Architektur-Zugang dürfte räumlich-bauliche Lösungen entwerfen, die künftige Transformationen beim Wohnen erleichtern. Und ein fotografischer oder filmischer Beitrag könnte die sich wandelnden Atmosphären und Stimmungen bei einem Umzug visuell einfangen und damit eine vielleicht unmittelbarere emotionale Nachvollziehbarkeit auslösen.
Auf all solche Aspekte geht Hasse in seinen Reflexionen zum Wohnungswechsel bewusst nicht ein. Sein phänomenologischer Zugang ermöglicht es, die lebensweltlichen Erfahrungsmodi oder szientistischen Logiken – auf denen viele andere Wissenszugänge beruhen – zu hinterfragen und so auch in andere Tiefen zu tauchen. Der Fokus des Buchs auf hoffnungsvoll gewollte und nicht aufgezwungene Wohnungswechsel macht angesichts der Reflexionsgrundlage eigenen Umzugserlebens Sinn und ist argumentationslogisch schlüssig. Spannend wäre es aber allemal – gewissermaßen als Kontrastfolie – mehr über Dynamiken von Zwangsumzügen aus phänomenologischer Sicht zu erfahren.
Dies ist ein Buch der leisen Töne. Ein Buch, das die Ungewissheiten sein lässt, das dem Ungesagten, oft Vernachlässigten aber uns dennoch alle Bewegenden auf den Grund gehen will. In die Tiefe von (Umzugs-)Situationen zu gehen, denen wir sonst kaum Beachtung schenken heißt auch, diese Momente und das ganze volle Leben, das damit einhergeht – und damit auch alles Nicht-Utilitaristische – wertzuschätzen. Diese Perspektive in seine Selbst-Reflexion einzubauen, gibt weit über die Erkenntnisse zum Wohnungswechsel hinaus, wertvolle Impulse in unsere komplexe Welt.
Ich jedenfalls werde nach der Lektüre von Jürgen Hasses Buch wohl nie mehr so unbedarft umziehen wie zuvor und auch nachsichtiger mit mir und meinem Umfeld sein, wenn sich Verwirrungen, Störungen und Irritationen breitmachen. Ich weiß dann, dass dies alles dazugehört. Und ich werde – wenn es denn mal soweit ist – das Buch in eine Kiste packen und ihm neben guten Nachbarn ein neues Zuhause geben; ist es mir doch mit dem Schreiben dieser Rezension zu einem „sozialen Partner“ geworden, der mich bei meinem „eigenen reflexiven Zur-Welt-Kommen“ (109) ein Stückchen begleitet und weitergebracht hat.