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Uta Karrer

Ambigues Polen. Diskurse zu sztuka ludowa und polnischer naiver Kunst in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland

(Münchner Beiträge zur Volkskunde 47), Münster/New York 2020, Waxmann, 416 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4136-1


Rezensiert von Agnieszka Balcerzak
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Volkskunst aus Polen, das sind Darstellungen von Hochzeitsgesellschaften, Lenin-Figuren oder Holzschnitzereien mit dem Motiv des Christus im Elend; klein- und großformatige, farbenfrohe Skulpturen aus der Nachkriegszeit oder zeitgenössische Reliefs in den Naturfarben des Holzes; schließlich Kunstwerke im Depositum staatlicher Museen und Archive, aber auch immer noch unvollständig entdeckte Oeuvres in privaten Sammlungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das „im ‚Volk‘ verwurzelte“ (11) künstlerische Schaffen, das jenseits der klassischen beziehungsweise modernen Künste entstanden ist und meist autodidaktisch erworben und in traditionelle handwerkliche oder häusliche Produktion eingebunden war, in den sozialistischen Staaten Europas intensiv gefördert. Als Ausdruck polnischer Nationalkultur und Teil der Geschichte des Landes nach 1945 wurde diese Kunstform in der Volksrepublik Polen (VRP) unter der Bezeichnung „sztuka ludowa“ („Volkskunst“) bekannt und sollte als „polnische naive Kunst“ in Museen und Privatsammlungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) – sowie in einem geringeren Maße in der DDR – einen Beitrag zur Annäherung zwischen Polen und Deutschen nach den erschütternden Erfahrungen der NS-Diktatur leisten. In ihrer Analyse im Schnittfeld von Folkloristik, Sachkulturforschung und kritischen Polenstudien vergleicht Uta Karrer, Kulturwissenschaftlerin und seit 2021 Leiterin des Fränkischen Museums in Feuchtwangen, die Ambiguität und Widerständigkeit der „sztuka ludowa“ und ihrer Kunstobjekte zwischen institutioneller Lenkung, ästhetischer Praxis und (inter-)nationaler Vermarktung.
Karrers Untersuchung, mit der die Autorin 2018 im Rahmen einer Cotutelle de thèse an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Basel promoviert wurde, stellt eine systematische Aufarbeitung der (inter-)nationalen Aussagen, Verschränkungen und Funktionalisierungen dieser Kunstform dar, indem sie vor allem die gegenständlichen Holzskulpturen ein- und derselben Künstler_innen in den Blick nimmt, die in den konkurrierenden gesellschaftspolitischen Kontexten der VRP und der BRD mit diversen Kategorien, Bedeutungen und Lesarten versehen wurden. Während die Kunstobjekte in Polen in die nationale Tradition der Vorkriegszeit gestellt wurden und die sozialistische Wirtschafts- und Kulturpolitik preisen sollten, erfolgte in Deutschland durch den Rückgriff auf das Konzept der „naiven Kunst“ eine Einordnung in den individualistischen Kunstdiskurs der Moderne. Eine Grundannahme der Ausführungen von Karrer ist somit die These von einer „inhärenten Deutungsoffenheit von Kunstobjekten“ (15). Fundamental bei diesem Phänomen ist für die Autorin seine Ambiguität, zu verstehen als „normalisierte beziehungsweise durch die Subjekte als selbstverständlich empfundene, in der diskursiven Formation ausgehandelte Mehrdeutigkeiten“ (37), wobei die ambiguen Sichtweisen auf Polen, die komplementär zueinander verlaufen, zugleich eine emische und eine etische Perspektive repräsentieren: „innerhalb der Volksrepublik Polen als Sicht auf das Eigene, aus der Außenperspektive der BRD auf Polen als Anderes“ (15). Die divergierenden Konstruktionen und Vorstellungen von Polen spiegeln sich sowohl in den Handlungs- und Deutungspraktiken des Feldes als auch in den von der Autorin zu Recht differenziert verwendeten Termini „polnische Volkskunst“ und „polnische naive Kunst“ wider (27).
Die Untersuchung gliedert sich in vier Teile. In den Kapiteln zu einleitenden Fragen, theoretischem Zugang und methodischem Vorgehen (Teil I), führt Karrer in das Thema ein und erläutert einige der genannten Grundentscheidungen und -unterscheidungen, die für die Architektur und Philosophie ihrer Arbeit relevant sind. Ausgehend von dem Grounded Theory-Ansatz wählt die Autorin eine diskursanalytische Vorgehensweise. Der Untersuchung stellt sie ihre zentralen Begriffe und Werkzeuge voran, „diskursive Formation“ und „leerer Signifikant“, die sie in Anlehnung an die Diskursanalyse von Michel Foucault, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe erläutert. Diskurse werden hier als „kommunikative Praktiken in einem sich historisch wandelnden Regelsystem“ (21), eine diskursive Formation wiederum als „zusammenhängende Formation diskursiver Aussagen“ (22) begriffen, wobei der gesamte soziale Raum als bedeutungsschaffend und von diskursivem Charakter betrachtet wird. „Leere Signifikanten“ definiert Karrer mit Laclau als „zentrale[n] Bezugspunkt für Identifikationsangebote sowie die Konstruktion von durch Subjekte geteilten Identitäten“ (25). Weiterführend stützt sie ihre Analyse auf diskurstheoretische Ausführungen zu Materialitäten als Teil diskursiver Formationen und schließt dabei an kulturanthropologische Zugänge zur materiellen Kultur an, die das soziale Leben der Dinge (Arjun Appadurai) oder die Bedeutung von Objektbiografien (Igor Kopytoff) hervorheben. Vervollständigt wird das analytische Quintett durch Konzepte zu Verortungs- und Aushandlungsprozessen im Rahmen des europäischen Ost-West-Antagonismus. Zentral ist für Karrer das von Larry Wolff entwickelte Konzept des Osteuropäismus (beziehungsweise des westlichen Orientalismus), das den von Edward Said eingeführten Orientalismus-Begriff auf den „Westen“ und mit „westlichen“ Überlegenheitsansprüchen verbundene Vorstellungen von „Osteuropa“ und Polen als „kulturell und geographisch abgegrenztes Anderes im Osten“ (33) überträgt.
Als Untersuchungszeitraum wählt Karrer die Zeitspanne vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur politischen Wende von 1989 in der VRP und der BRD, wobei hier insbesondere die Ausstellungen und Publikationen zur „polnischen naiven Kunst“ von den 1960er bis zu den 1980er Jahren berücksichtigt werden. Zu den zentralen Akteur_innen im Feld der „polnischen Volkskunst“ zählen staatlich angebundene Ethnolog_innen und Kunsthistoriker_innen wie etwa Marian Pokropek, die großen ethnografischen Museen in Warschau, Krakau und Thorn sowie die zahlreichen Regional- und Freilichtmuseen. Im Rahmen der diskursiven Formation der „polnischen naiven Kunst“ in der BRD nennt die Autorin Sammlungen und Publikationen, die hauptsächlich durch private Sammelnde konzipiert und veröffentlicht wurden, sowie Ausstellung in großen staatlichen Museen wie unter anderem in Berlin, Nürnberg und München. Als die umfangreichste Sammlung „polnischer naiver Kunst“, die ca. 8 000 Kunstobjekte zählt, gilt seit den 1970er Jahren das private Inventar des aus Augsburg stammenden Journalisten Ludwig Zimmerer, dessen größter Teil sich heute im Ethnografischen Museum in Warschau befindet (196). Die Sammlungen in Polen und Deutschland, die mehrere Hundert bis mehrere Tausend Objekte umfassen (20) und starke inhaltliche sowie strukturelle Parallelen aufweisen, wurden durch die Autorin zumindest teilweise im Rahmen ihrer Forschung als Quellen identifiziert. Das opulente und aussagekräftige Quellenkonvolut reicht darüber hinaus von Publikationen und Ausstellungen, über Archivmaterial wie etwa Fotos, Karteikarten, Tagebücher oder Reiseberichte bis hin zu ca. 40 qualitativen Interviews, die Karrer 2011 bis 2015 mit Künstler_innen, Kurator_innen und Sammler_innen geführt und um informelle Gespräche bei Archiv- und Sammlungsbesuchen erweitert hat.
In den zwei großen Hauptteilen der Studie fokussiert sich Karrer auf die diskursiven Formationen der „polnischen Volkskunst“ und der „polnischen naiven Kunst“ in der VRP (Teil II) und der BRD (Teil III). Die Autorin definiert ihre Rahmenbedingungen, benennt die wichtigsten Träger_innen, wie etwa das Kultus- und Kunstministerium oder die 1949 gegründete staatliche Handelsorganisation „Cepelia“ in der VRP, und analysiert die Ent- und Neukontextualisierungen der Kunstobjekte, was das Beispiel der diskursiven Repräsentation der „Zamyślony“-Skulpturen des Künstlers Szczepan Mucha besonders anschaulich verdeutlicht (179 ff.). In beiden Teilen der Untersuchung rücken Darstellungsweisen, Proportionen, technische Umsetzungsarten sowie ikonografische Attribute und Motive der Kunstobjekte ins Zentrum der Analyse. Karrer identifiziert hier drei thematische Schwerpunkte: weltliche Motive wie Natur und Ländlichkeit, sozialistische Ideologie und Geschichte Polens; christliche und vor allem katholische Motivik, unter anderem Jesusfiguren wie das populäre Motiv des „Chrystus Frasobliwy“ (Christus im Elend); Darstellungen des Jüdischen, eingebunden in den Kontext des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Während in der „polnischen Volkskultur“ die ländliche Bevölkerung „in doppelter Weise als ideologische Trägerin des sozialistischen Staates und Repräsentantin der polnischen Nation“ (81) funktionalisiert und aufgewertet wird, geht das Motiv in der „polnischen naiven Kunst“ mit generalisierenden Vorstellungen der Ländlichkeit Polens, „eines technisch, wirtschaftlich und bildungsmäßig rückständig[en], zugleich freundlich-naiven Gegenübers“ (338) einher. Skulpturen berühmter Persönlichkeiten, die in der VRP als nationale Held_innen imaginiert und positioniert werden, fungieren in der BRD durch gezielte Aussparungen und Relativierungen als „aussagenlose Kunstobjekte“ (272). Im Feld der Darstellungen von jüdischen Figuren wiederum, die in der polnischen „Volkskunst“ einerseits an die jüdische Kultur der Vorkriegszeit und die Verfolgung der Juden erinnern und andererseits als das „konstitutiv[e] ‚Andere‘ für das kulturpolitisch als homogen propagierte ‚Polnische‘“ (127) fungieren, beobachtet Karrer im Falle der „polnischen naiven Kunst“, unter anderem am Beispiel der „Auschwitzkrippe“ von Jan Staszak (284 ff.), eine Diskussion zum Umgang mit der Schuld des Zweiten Weltkrieges sowie das Bedürfnis nach einem Aufarbeitungs- und Entlastungsdiskurs in der BRD.
Im letzten Abschnitt der Arbeit (Teil IV), der die Ergebnisse der Analyse zusammenfasst und einen kurzen Ausblick liefert, präsentiert Karrer ihre Schlussfolgerungen zu den materiellen und ideellen Ambiguitäten und Interdependenzen beider Diskursformationen. Die Studie beleuchtet die Funktionsmechanismen der Kulturpolitik im Sozialismus und zugleich die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, wobei die Autorin hier berechtigterweise pointiert, dass keine Annäherung auf Augenhöhe zustande kam: Anstelle einer reflektierten Auseinandersetzung mit Polen fand ein „Scheindialog“ (336) statt, der im Sinne der gängigen Wahrnehmungsmuster des Osteuropäismus gesellschaftliche Differenzierungen ausblendet, an ältere Vorurteile von einer Ländlichkeit und Rückständigkeit Polens anknüpft und dabei „westliche“ Selbst- und Feindbilder bestätigt. Um diese Sachlage zu korrigieren, schlägt Karrer eine museale Ausstellung zu den unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Deutungen und Funktionalisierungen der „sztuka ludowa“ vor, die sie als Beitrag zu einer kritischen Diskussion und Reflexion an der Schnittstelle von Kunstschaffen, Kulturpolitik und deutsch-polnischer Geschichte versteht.
Uta Karrer legt mit „Ambigues Polen“ eine 415 Seiten starke Studie mit einer überzeugenden Struktur und Argumentation vor. Besonders zu erwähnen ist das Arrangement der vielen O-Töne und die 99 Abbildungen zählende und somit recht ausführliche Bebilderung des Bandes, die die facettenreiche Analyse visuell rahmt. Diese weist jedoch auch einige Schwachstellen auf. Zum einen sorgen argumentative Wiederholungen und Redundanzen sowie zahlreiche Übersetzungsfehler für Irritationen, wie unter anderem die Verwendung des im Polnischen nicht existierenden Begriffs „twórca ludowa“ (statt „twórczyni ludowa“) für das deutsche Substantiv „Volkskünstlerin“ (13). Zum anderen ist es, trotz expliziter Nennung weiblicher Kunstschaffender (43), das gänzliche Fehlen von Gender als Analysekategorie oder eines gendersensibel differenzierenden Fokus’ auf die unterschiedlichen Akteursgruppen und ihre Motivationen in der VRP und der BRD. Insgesamt jedoch ist Uta Karrers auf breiter Basis recherchierte Studie positiv zu bewerten, denn sie schließt plausibel und anschaulich ein lange vernachlässigtes Forschungsdesiderat zur Kulturpolitik im Sozialismus und liefert Impulse für weitere Forschungen, wie etwa zur Funktion anderer Kunstarten oder populärer Medien wie Film oder Musik auf dem Gebiet deutsch-polnischer Beziehungen und darüber hinaus.