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Johan Lange
Die Gefahren der akademischen Freiheit. Ratgeberliteratur für Studenten im Zeitalter der Aufklärung (1670–1820)
(Beihefte der Francia 84), Ostfildern 2017, Thorbecke, 339 Seiten mit 10 Abbildungen, Diagramme, ISBN 978-3-7995-7475-4
Rezensiert von Rainald Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
Von der schrankenlosen Freiheit deutscher Studentenherrlichkeit schwärmten noch alle Deutschlandreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts – insbesondere dann, wenn sie aus England, Frankreich oder den USA kamen. Von dort an die Strenge der internatsförmigen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft in den Universitätskollegien (colleges, collèges) gewöhnt, staunten die auswärtigen Beobachter immer wieder über die Zwanglosigkeit der deutschen Verhältnisse. Ein klassisches Bild vom lockeren Wandel in Heidelberg, dem Synonym für romantisches Abenteuer schlechthin, zeichnet der berühmte amerikanische Essayist und Romancier Mark Twain in seinem Reisebericht „A Tramp Abroad“ (1880): „Man sieht zu jeder Tageszeit so viele Studenten, dass man sich schließlich zu fragen beginnt, ob sie wohl überhaupt irgendeine feste Arbeitszeit haben. Einige haben sie, andere nicht. Jeder kann selber wählen, ob er arbeiten oder sich vergnügen will, denn das Leben an den deutschen Universitäten ist ein sehr freies Leben; es scheint keine Beschränkungen zu kennen. Der Student wohnt nicht in den Universitätsgebäuden, sondern mietet sich seine eigene Unterkunft, wo immer er will, und er nimmt seine Mahlzeiten ein, wann und wo es ihm gefällt. Er geht zu Bett, wann es ihm passt, und steht nur auf, wenn er mag.“ [1]
Dem Phänomen der deutschen akademischen Freiheit geht die hier anzuzeigende Heidelberger Dissertationsschrift von Johan Lange nach. Diese Monografie bezieht sich dabei auf eine bislang noch kaum näher untersuchte Quelle: die Ratgeberliteratur für Studenten im Zeitalter der Aufklärung. Damit ist eine Gattung in den Blick genommen, die seit dem späten 17. Jahrhundert vorwiegend an den protestantischen Universitäten des Heiligen Römischen Reiches aufkam und dort bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein rege florieren sollte. Trotz nach wie vor maßgebender Latinität im Hochschulunterricht, waren diese Texte in deutscher Sprache abgefasst; als Autoren taten sich häufig angehende Universitätsprofessoren hervor. Die kommerziell aufgezogenen Ratgeber versprachen vor allem akademischen Novizen Orientierungshilfe im weithin regellosen, darum eben „freiheitlichen“ Universitätsalltag. Sie verfolgten den Zweck der praktischen Nutzanwendung; zumindest beschworen sie den Topos eines rationellen Ordnungsangebots für eine Welt, die in ihren anarchischen Zügen gerade nicht positiv gesehen wurde. Gedruckte Texte sollten virtuelle pädagogische Leitplanken einziehen; sie sollten dort behütende Eltern und mahnende Lehrer ersetzen, wo reale moralische Autoritäten fehlten, nachdem sich die Professoren schon im 18. Jahrhundert – als Vorboten der modernen „Forschungsuniversität“ – längst auf die distanzierte Rolle reiner Wissenschaftlichkeit zurückgezogen hatten. Der papierne Ratgeber musste vor der dadurch entstandenen Betreuungslücke bewahren. Wirkungsvoll sollte er mannigfachen Gefährdungen entgegentreten, jenen „überspannten Ideen von liederlicher Burschenfreiheit“, vor denen 1786 ein anonymer Autor warnte (206). Dazu gehörten ungezügelte Ausschweifung in sexueller Lizenz und Alkoholkonsum, der Absturz ins ökonomische Prekariat durch Überschuldung, das intellektuelle Versagen im Studienziel und der damit verbundene gesellschaftliche Prestigeverlust. Zudem galten die Befürchtungen dem Abgleiten in umstürzlerische politische Weltanschauung oder dem nihilistischen Sinnverlust durch Hinwendung zum Atheismus. Ausführlich kamen auch negative gesundheitliche Erscheinungen zur Sprache, mit der Gelehrtendepression, der „Hypochondrie“, an erster Stelle.
Welches Antidot empfahlen die Studienführer? In seiner detaillierten, 126 Texte umfassenden Analyse kann Lange folgende Antwort ermitteln: Der Student sollte klugen Gebrauch von seiner Freiheit machen. Autonomie durch innengeleitete Selbstbegrenzung – auf diese Quintessenz lässt sich die Kernbotschaft reduzieren. Dabei erschöpft sich die Norm nicht in unverbindlicher Ethik; vielmehr beziehen die Ratgeber auch zu Alltagsfragen Stellung, etwa wie man sich einen Vorlesungs- und Stundenplan organisiert (von der curricularen Durchdisziplinierung des modernen Lehrbetriebs war die vormoderne Universität meilenweit entfernt), wie man ein Studentenzimmer anmietet, in welchen Gasthäusern bevorzugt zu essen ist, wie ein Wirtschaftsbuch mit Ausgaben und Einnahmen richtig zu führen ist, um nicht in die Schuldenfalle zu geraten. Ihre gebündelte Lebensweisheit bringen die Texte in vielfältiger Form zu Gehör. Insgesamt sind fünf spezifische Teilgattungen auszumachen: sogenannte Hodegetiken, also allgemeine Anleitungen zum Universitätsstudium, moralische Reden und Briefe an Studenten, die damit nah verwandten Ratgeber zu einem „christlichen Studium“ und zu guter Letzt fiktionale Tugend- und Lasterbiografien für den akademischen Bürger (cives academicus) sowie Beschreibungen von Universitätsstädten, die neben Informationen über den Studienort auch studentische Verhaltenskataloge enthalten.
Johan Lange betrachtet die Ratgeberliteratur einerseits als Indikator für den singulären Freiheitsgrad, den die akademische Community an den protestantischen Universitäten im Gegensatz zu den katholischen genossen hätte. Andererseits zeigen sich hier für Lange Disziplinierungsprozesse, die auch vor den „freien“ Universitäten nicht Halt gemacht hätten: Aus dem studentischen Standesgenossen mit seinen Privilegien wie Waffentragen oder eigenem Gerichtsstand wurde ein staatlicher Untertan, der wie andere Bürger auch „zur Beobachtung sowohl der bürgerlichen, als der akademischen öffentlichen und Privat-Gesetze verbunden“ sei (so schrieb 1793 der Rostocker Theologie- und Philosophieprofessor Samuel Simon Witte, 228). Mithin sei die Vorstellung von der deutschen Hochschule als Ort der Freiheit spätestens für die Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert als wissenschaftsideologisches Konstrukt zu entlarven, wie Lange insbesondere dem Soziologen Helmut Schelsky und seinem epochemachenden Diktum von der „Einsamkeit und Freiheit“ [2] vorhält.
Nur zum Teil vermag eine solche Perspektive zu überzeugen; denn bereits in der Satire des eingangs zitierten Mark Twain deutet sich ein ganz anderer realgeschichtlicher Befund an: Innerhalb des okzidentalen Universitätswesens gewährte die deutsche Hochschule dem Einzelnen ungeahnte Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit – selbst noch zu Twains Lebzeiten im Kaiserreich von 1871, dem sonst so oft das Etikett des repressiven Obrigkeitsstaats anhaftet. Diese „deutsche“ Freiheit entsprang letztlich einer mittelalterlichen Entwicklung, die vom Unterschied zwischen dem angelsächsisch-französischen Kollegienmodell und dem individualistisch-privatisierenden Habitus im Heiligen Römischen Reich, in Osteuropa, nicht zuletzt in Italien geprägt war: Galt (gilt noch heute) für letzteren das „stare extraordinarie“, die studentische Einzelexistenz auf eigene Verantwortung, als Normalfall, so herrscht(e) im atlantischen Westen das an monastischer Disziplin orientierte Prinzip der Vergemeinschaftung vor – exemplarisch sichtbar an den klosterähnlichen Kollegiengebäuden von Oxbridge und ikonologisch in der amerikanischen Collegiate Gothic [3] wirksam. Vor allem dieser strukturgeschichtliche Umstand spiegelt sich in der Ratgeberliteratur des 18. Jahrhunderts wider. Daher wäre es wichtig gewesen, auf ihn zu verweisen, etwa unter Rückgriff auf die einschlägigen Forschungen von Laetitia Boehm, die in Langes Studie fehlen. [4] Ebenso wenig kann die konfessionelle Engführung auf den Protestantismus überzeugen: Als bio-bibliografisch fassbare Gattung mag die Hodegetik ein Systemprodukt der lutherischen Aufklärungsuniversitäten von Göttingen, Halle und Jena gewesen sein; ihr regulativer Gehalt findet sich aber auch im katholischen Umfeld wieder, wenngleich in anderer Darreichungsform, beispielsweise in der Hagiografie (Stanislaus Kostka als Patron der studierenden Jugend) oder im Schuldrama („Cenodoxus oder der Doktor von Paris“ des Barockdramatikers Jakob Bidermann SJ, 1600/02). Der transkonfessionelle Vergleich über Gattungsgrenzen hinaus – wenigstens andeutungsweise – hätte deshalb die verdienstvolle Untersuchung noch um weitere Erkenntnisdimensionen bereichern können.
Anmerkungen
[1] Mark Twain: Bummel durch Deutschland. Aus dem Englischen von Gustav Adolf Himmel. 1. Aufl. Berlin 2010, S. 31 f.
[2] Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Reinbek bei Hamburg 1963 (2. Aufl. 1971).
[3] Jan M. Ziolkowski: The Juggler of Notre Dame and the Medievalizing of Modernity, Bd. 3: The American Middle Ages. Cambridge 2018.
[4] Zum Beispiel Laetitia Boehm: Libertas Scholastica und Negotium Scholare. Entstehung und Sozialprestige des Akademischen Standes im Mittelalter. In: Hellmuth Rössler u. Günther Franz (Hg.): Universität und Gelehrtenstand 1400–1800. Limburg a. d. Lahn 1970, S. 15–62, hier S. 15 ff.