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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Hans Peter Hahn/Friedemann Neumann (Hg.)

Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration

Frankfurt am Main/New York 2019, Campus, 431 Seiten, ISBN 978-3-5935-0975-4


Rezensiert von Nina Berding
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Der Band „Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration“, herausgegeben von Hans Peter Hahn und Friedemann Neumann, verknüpft alltagsphänomenologische und sozialkonstruktivistische Ansätze mit aktuellen Perspektiven der Postmigrationsforschung und zeigt wie fruchtbar diese Verquickung ist: Die Autor*innen untersuchen den polykontextuellen und pluralistisch geprägten Alltag von Menschen unter der Grundannahme, dass Aneignung und Bindung sowie das Verlangen nach Zugehörigkeit menschliche Grundbedürfnisse sind. Damit lassen sich individuelle Praktiken und Muster des Ankommens schlichtweg als Einschreibungsprozesse auffassen und eben nicht als verbesonderte Praktiken der oder des Migrationsanderen. Durch diese gewählte Perspektive umgehen die Forscher*innen hegemoniale Deutungshoheiten und Zuschreibungen, die bestimmte Menschengruppen stets marginalisieren und stigmatisieren und ihnen auf diese Weise die Verortung erschweren. Im Fokus steht die individuelle kreative Arbeit der Selbstverortung, das „translocational positioning“ und damit die soziale Konstruierbarkeit von Aneignungsprozessen. Die Autor*innen fragen in diesem Band danach, welche individuellen Wege der gesellschaftlichen Verankerung Menschen gehen, um ihren Mehrfachzugehörigkeiten Ausdruck zu verleihen und wie insbesondere Mobilität und Migration dabei lebensweltlich verarbeitet werden. Hintergrund für die Mehrzahl der Beiträge sind ein Workshop und eine Konferenz mit dem Titel „Lifestyles, Dwelling and Postmigratory Societies“ in Frankfurt am Main 2018. Der Sammelband ist ein hoch aktuelles Buch. Im Spannungsfeld von alltäglich gelebter Mobilität und Zugehörigkeit auf der einen und dem Sprechen über diese Phänomene auf der anderen Seite, versuchen die Autor*innen eine Brücke zwischen alltäglicher Praxis und Wissenschaftsdiskurs zu schlagen, um tradierte Migrationsdiskurse zu dekonstruieren, gleichzeitig aber der Komplexität von Migration gerecht zu werden. Das Buch greift den Widerspruch auf, der zwischen gelebter Praxis und dem Sprechen über diese Praktiken in den gesellschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Diskursen heutzutage immer noch existent ist.
Nach einer kritischen Einleitung von Hans Peter Hahn zur Migrationsforschung der letzten Jahrzehnte gliedert sich der Band in vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt „Theoretische Zugänge und Konzepte“ wird der konzeptionelle Rahmen des Bandes vorgestellt. Migration und Zugehörigkeit werden als prozessual beschrieben und die Mehrdimensionalität von Zugehörigkeiten betont (Paolo Boccagni). Außerdem wird klargestellt: „Homemaking“ ist ein individueller Prozess, der sich aus jedweder materiell-baulich-psychisch-sinnlichen Konstellation speist. Anhand der Untersuchung von Praktiken der Wohngestaltung und Wohneinrichtung legt Iris Levin den individuellen Balanceakt zwischen dem Ankommen und Niederlassen an neuen Orten offen: das Beibehalten von gewohnten Strukturen, das Einschreiben nostalgischer Erinnerungen in den Raum, das Finden neuer Logiken und – schließlich – die Repräsentation dieser Verknüpfungen. Die Autorin zeigt beispielhaft, wie Mobilitäten im Raum eingeschrieben werden und welche sozialen Praktiken Familien entwerfen, um die Verbindungslinie zwischen dem alten und dem neuen Alltag aufrechtzuerhalten. Victor Buchli nähert sich dem Begriff des Wohnens und des Hauses und entwickelt eine kurze Genese des Häuslichen seit dem 18. Jahrhundert. Dieser Abschnitt liefert einen fundierten Überblick über die internationale Debatte des letzten Jahrzehnts und zeigt Wohnen als Handlung und dessen gesellschaftspolitische Dimension.
Im zweiten Abschnitt des Buches werden empirische Forschungen zum Bereich „Haushalt und Materialitäten“ präsentiert. Friedemann Neumann untersucht postmigrantische Haushalte im Hinblick darauf, wie materielle Kultur und Ankommensprozesse miteinander verknüpft sind. Er legt dar, wie beispielsweise die Entortung des Individuums und die das Individuum umgebende Materialität wechselseitig miteinander gekoppelt sind. Der Mangel an Perspektiven und die langfristig erschwerte Ankommenssituation führen dazu, dass auch die Beziehung zu Dingen eigenschaftslos und unverbunden bleibt. Der Beitrag von Darja Klingenberg stellt forschungspraktische Fragen an den Wissensdiskurs. Es finden sich keine Antworten, aber Impulse für die hochbrisante Fragestellung nach wissenschaftstheoretischen Repräsentationen von Alltag, Zugehörigkeit und Migration. Dimitris Dalakoglou beschreibt, wie Migrant*innen und Rückkehrer*innen mittels der Praktik des Häuserbaus eine Verbindung zum Herkunftsort herstellen. Der Bau des Hauses wird zur Verbindungslinie, die zwischen zurückgelassenen Orten, Menschen und Emotionen und dem „Neuen“ bestehen bleiben soll. Die emotionale Dimension wird besonders dadurch deutlich, dass Familien ihre Häuser gar nicht zu Ende bauen, sondern durch den halbfertigen Bau einen Rückkehrmythos aufrechterhalten und so ihre Zugehörigkeit ausdrücken. Der Beitrag zeigt besonders schön, welche Kraftanstrengungen Menschen in Kauf nehmen, um die Brücke zu individuell wichtigen Orten der Vergangenheit nicht abbrechen zu lassen. Ähnlich wie Dalakoglou zeigt auch Özlem Savaş am Beispiel der türkischen Diaspora in Wien, wie Konsumgüter und Wohnungsmobiliar symbolhaft Zugehörigkeit oder Abgrenzung auszudrücken. Ein besonders spannender Beitrag, der das Thema der imaginativen Repräsentationen aufgreift und der Frage nachgeht, ob kulturell-materielle Bedeutungszuschreibungen nicht oftmals nur wirkmächtige Imaginationen sind, die eben nicht den gelebten Alltagsstrukturen entsprechen. Savaş zeigt damit auf, was im Forschungsprozess ungesehen bleibt, wenn mit der kulturalistisch-wertenden Brille auf Alltagspraktiken geblickt wird, anstatt sie als das zu behandeln was sie sind: Praktiken im Alltag. Wie Menschen sich einheitliche Wohnblöcke zu Eigen machen, zeigt Jelena Johanna Salmi in ihrem Beitrag am Beispiel von Wohnblöcken in Ahmedabad. Sie unterstreicht die so wichtige Botschaft des Sammelbandes, dass nämlich Menschen – hier am Beispiel von Zwangsumsiedlungen – sich aller Widrigkeiten zum Trotz Wege und Möglichkeiten suchen, um ihrem Bedürfnis nach Aneignung und „homemaking“ nachgehen zu können.
Der dritte Abschnitt „Grenzen ziehen und überwinden“ beleuchtet, auf welche unterschiedliche Art und Weise Menschen ihre mobilen Biografien und ihre Zugehörigkeiten zu vereinen versuchen. Im Spannungsfeld von Verlust und Neugewinn erschaffen und eignen sie sich neue alltagtaugliche Praktiken an, um Ankommen zu können. Der Beitrag von Sara Bonfanti fokussiert die kleinen Arrangements des „homemaking“ und zeigt deren Bedeutung wie auch die Aktualität alltagsphänomenologischer Forschung. Maike Suhr untersucht die hybriden, translokalen Identitäten und die damit verknüpften Materialitäten von Menschen zwischen Berlin und Istanbul. Sie lenkt den Blick auf die nostalgische Illusion: Die Entortung bedingt die Auseinandersetzung mit der Verortung und wirft das Individuum oftmals idealisierend auf das zurück, was verlassen wurde. Die Bedeutung von Konsumgütern beleuchtet Claudia Valeska Czycholl. Anhand ihrer Untersuchung der „Gastarbeiter*innen“-Fotosammlung des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland in Köln veranschaulicht sie, welche Bedeutung Konsumgüter im Migrationsprozess haben und wie sie in der Rückschau eine besondere Aufwertung erfahren. Praktiken raumübergreifender Vergemeinschaftung und das Aufrechterhalten eines gemeinsamen Lebensstils über Orte und Räume hinweg ist das Thema des Beitrags von Tino Schlinzig.
Im vierten Teil des Bandes „Repräsentation und museale Darstellung“ arbeitet Stefanie Bürkle eine Typologie von Räumen türkischer Remigrant*innen heraus. Sie verknüpft psychische Faktoren (Ankommensbiografien türkischer Remigranten) und physische Faktoren (architekturästhetischen Kriterien) und zeigt so, dass die Erfahrungen und Wahrnehmungen der transnationalen Verbindungen in der Gestalt der Häuser und damit der Städte sichtbar werden. Ein befruchtender Beitrag von besonderer Aktualität, da Bürkle die Mobilität als stadtgrundierendes Element auch materiell sichtbar werden lässt. Am Beispiel zweier Museumswelten zeigt Natalja Salnikova, wie Kulturgeschichte durch Objekte konstruiert und verstetigt wird. Sie macht besonders anschaulich, welche Gestaltungsmacht tradierte Darstellungsformen auf kulturelle Wissensproduktionen haben. Sie verweist auf die Potenziale, wenn zunehmend transkulturelle Orte und Objekte sowie multiple Perspektiven in die musealen Darstellungen eingeflochten werden. Ein Beitrag, der Impulse für neue, veränderte Formen der Wissensproduktion liefert. Astrid Wonneberger erzählt von alltäglichen Symbolen in der irischen Diaspora in den USA und wie die Grenzen materieller Kultur verschwimmen. Die Autorin betont die Bedeutung einer irischen (Gruppen-)Identität und die dafür nötige Rekurrenz auf irische Symbole und Praktiken, selbst wenn sich das Irlandbild aus hybriden Imaginationen und Repräsentationen zusammensetzt. Der Beitrag macht den Ansatz des Sammelbandes zum Abschluss noch einmal besonders gut deutlich, denn Wonneberger macht begreifbar, dass Menschen sich ihrer transglobalen Lebenserfahrungen und -wahrnehmungen bedienen, um Ankommen zu können und sich entsprechend auch tradierte Symbole zu eigen machen und transkodieren.
Als Fazit lässt sich sagen, dass dieser Sammelband eine Bereicherung für alle Wissenschaften ist, die sich den Themen gesellschaftliche Heterogenität, Zusammenleben, Diversität und Mobilität widmen. Das Besondere an diesem Buch ist die Betonung des eigentlich trivialen Grundbedürfnisses, sich etwas aneignen und sich ein wie auch immer geartetes Zuhause schaffen zu wollen. Damit ist eine Basis gefunden, auf der, unabhängig von den Migrationserfahrungen, alle gleich im anders sein sind. Die Autor*innen stellen „das Gemeinsame in der Gegenwart“ (9) in den Vordergrund und dies ist die große Stärke des Sammelbandes.
Die Politiken der Verortung, die auf jedes Individuum wirken, sind zwar Bestandteil der Geschichten in diesem Band, aber sie stehen nicht im Fokus der Beiträge. Und das ist eine große Bereicherung. Denn mit dem Blick auf die Praktiken werden die Menschen als handlungsfähige, am gesellschaftlichen Funktionieren interessierte, anpassungsfähige Individuen dargestellt, die mittels multipler Aneignungsformen ihre transglobalen Lebensentwürfe umsetzen und sich Strukturen schaffen, um ihren Alltag reibungslos fortführen zu können. In überdauernden gesellschaftspolitischen Debatten um Flucht, Migration und Bleiben ist diese Betonung der intrinsisch inklusiven Handlungsweisen fundamental, um oftmals auf Vorurteilen und tradierten Deutungsmustern beruhende Beschreibungen gesellschaftlichen Zusammenlebens hinterfragen zu können und um Mobilität als das darstellen zu können, was sie ist: der gesellschaftliche Normalfall. Hierfür knüpfen die Autor*innen an klassisch alltagssoziologische Perspektiven an, wenn sie die Muster (bei Garfinkel „accounts“) der Menschen beschreiben, die diese anwenden, um sich bestmöglich platzieren und so die Umgebung sinnhaft gestalten zu können. Sie zeigen auf, wie Menschen ihre translokalen Lebensentwürfe in ihren Wohnungen verstetigen, in Gütern ausdrücken oder mittels Transkodierungen ihren vielfältigen kulturellen Bezügen Ausdruck verleihen. Materialitäten (etwa Raum, Körper, Güter) werden nicht als etwas Statisches gesehen, sondern es geht um die Aneignung dieser Materialitäten als Teil des individuellen Lebensstils, der die biografischen, transglobalen Lebenslinien verkörpert. Innerhalb der Zugehörigkeiten treten auch Widersprüche zu tage, die die Menschen jedoch immer wieder biografisch sinnhaft aufzuklären und in die aktuellen Lebenssituationen einzuebnen versuchen. Die Autor*innen verweisen darauf, dass gesellschaftliche Diversität im erheblichen Maße einer „daily diversity“ geschuldet ist, die über alltägliche Interaktion und Informationsaustausch, über Moden, Güter, Geschmack, Trends und Techniken vermittelt wird. Sie entfächern Schritt für Schritt die individuellen Wege gesellschaftlicher Verankerung im Spannungsfeld der unterschiedlichen „Regime der Zugehörigkeit“ [1].
Darüber hinaus liefert der Sammelband zahlreiche fruchtbare Anknüpfungspunkte für beispielsweise stadtsoziologische und stadtplanerische Arbeiten. Durch die dichten Beschreibungen der latenten Alltagspraktiken von Menschen und ihrer Anhaftung in der Welt tritt die Bedeutung und Funktion des Referenzrahmens besonders hervor: Was brauchen Menschen, um sich zu verorten, welche Strukturen sollte das Nahumfeld bieten, um translokalen Biografien gerecht zu werden? Gleichzeitig zeigen die Beschreibungen die Potenziale von Quartieren, die es Menschen ermöglichen, sich zu verorten und ihre „multiple belongings“ ausleben zu können. Was würde man sich von einem solch dichten Sammelband noch wünschen?
In seiner fulminanten Einleitung macht Hans Peter Hahn darauf aufmerksam, dass in diesem Sammelband Auffassungen über „scheinbar abgrenzbare Gruppen, wie Migranten“ hinterfragt werden (13). Es gelingt den Autor*innen in ihren Untersuchungen ein vielfältiges Bild einzufangen und mobile Biografien nicht als Sonderfall, sondern als grundierendes Element der Gesellschaft zu beschreiben. Dennoch steht trotzdem auch der/die Migrant*in im Fokus der Beschreibungen. Wenn Migration doch als der gesellschaftliche Normalfall betrachtet wird, wie es die Autor*innen richtigerweise tun, kann man dann das „Migrantische“ untersuchen ohne damit selbst wieder in die Beschreibungsfalle zu tappen, von der man sich distanzieren möchte? Muss man dies tun, um aufzeigen zu können, dass Migration und damit alles, was damit zusammenhängt, kein Sonderfall ist, sondern dass Migrationsbiografien den gesellschaftlichen „Normalfall“ darstellen? Oder leistet man dann nicht auch wieder nur einen Beitrag zu einer sich „selbst illustrierenden und reproduzierenden „Migrantologie“ [2]? Denn was unterscheidet „migrantische Wohnungen“ von anderen Haushalten, wenn sich doch alltägliche Lebensstile stetig überlagern und Migration längst einer „daily mobility“ geschuldet ist, die sich in den Alltagspraktiken der Menschen wie selbstverständlich niederschlägt? Diese Fragen werden zwar aufgegriffen, aber nicht ausreichend reflektiert. Hier würde man sich eine abschließende stärkere Reflexion der Beiträge im Hinblick auf die eigene Wissensproduktion wünschen, denn dieser Sammelband bietet mit seinen zahlreichen dichten Beschreibungen individueller Aneignungspraktiken die besten Voraussetzungen für ein Plädoyer gegen derartige Zuschreibungen. Trotz dieses kleinen Störfaktors ist das Buch ein hochinteressantes und ausgesprochen vielfältiges Werk. Es gibt Antworten auf die virulente Frage, mit welchen theoretischen und methodischen Perspektiven Mobilität, Migration und Zugehörigkeit adäquat beforscht werden können.

Anmerkungen

[1] Joanna Pfaff-Czarnecka: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung. Göttingen 2012.
[2] Regina Römhild: Diversität?! Postethnische Perspektiven für eine reflexive Migrationsforschung. In: Boris Nieswand u. Heike Drotbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden 2014, S. 255–270.