Aktuelle Rezensionen
Judith Blume
Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammelbildalbums 1860–1952
Göttingen 2019, Wallstein, 422 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8353-3428-1
Rezensiert von Martin Beutelspacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
Fürwahr ein gewichtiges Werk, fast anderthalb Kilo, und eine weitausgreifende Darstellung von den Anfängen bis zum annähernden Verschwinden eines Klassikers des organisierten Sammelns! Judith Blumes Frankfurter Dissertation von 2017 beginnt bei den ersten Reklamebildern in der Mitte des 19. Jahrhunderts, denen bald die Markenbilder als Beigabe zu Markenprodukten folgen, für die es ab 1860 die ersten speziell dafür entwickelten Alben gibt. Es ist ein kulturhistorisches Thema von nicht zu unterschätzender Reichweite, haben die Bilder doch von Anfang an hohe Auflagen, aber auch ein Thema von großer Modernität, sind diese Bildchen ja oft die ersten farbigen Drucke im bürgerlichen Haushalt. Dabei liegt der Fokus auf der deutschen Situation, ohne jedoch deswegen die Internationalität des Phänomens zu missachten: Die ersten Bildchen kommen aus Frankreich und von der deutschen Schokoladenfirma Stollwerck. Und über die frühen Alben lässt sich vor allem wegen der Beschreibungen in Patentanmeldungen etwas sagen, die in den USA, Frankreich und Großbritannien früher als in Deutschland (ab 1877) dokumentiert sind und daher mitbetrachtet werden.
Das Ende kommt in den 1950er Jahren, in denen das neue Medium Fernsehen und die ersten Supermärkte auftauchen, wo aber vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, gesetzlich geregelt, den Konsumartikeln nur noch „Reklamegegenstände von geringem Wert“ (14) beigegeben werden dürfen. Die visuelle Geschichte wird neu strukturiert – und ab den 1970er Jahren taucht mit den Panini-Bildchen ein vollständig neues und eigenständiges Produkt auf.
Es geht, wie gleich zu Anfang postuliert wird, in dieser Kultur-, Medien-, Wissens- und Konsumgeschichte um Wissen über die Welt und die eigene Position darin, also um die „erzieherische Wirkung“ (7) der in Serien herausgegebenen Beigaben zu Konsumprodukten. Dabei lässt sich die Untersuchung der Bildserien, die zunächst meist sechs Bilder umfassen (etwa bei den Liebig-Bildchen ab 1875) und im 20. Jahrhundert bis auf mehrere hundert anschwellen, nicht von Beschreibung und Darstellung der Alben trennen, die den Serien Ordnung, Sinn und Struktur geben (8 f). Die großen Serien sind vor allem seit den 1920er Jahren bei den Zigarettenbildchen zu verzeichnen, da reichen die unbeschrifteten Steckalben des 19. Jahrhunderts nicht mehr aus. Daher werden umfangreiche Klebealben zu großen populären Themen aus Sport, Film und Nation angeboten, die die Bildfolgen bald auch textlich begleiten. Nun erreichen die Bilder, die im 19. Jahrhundert noch recht exklusiven Produkten beigegeben wurden und entsprechend auf ein bildungsbürgerliches Publikum gezielt haben, breite, auch unterbürgerliche Schichten.
Das Sammelbildalbum war lange Jahre vor allem eine Angelegenheit von Sammlern; die Wissenschaft hat sich ihm wenig gewidmet. Entsprechend ist auch die Grundlage dieser Arbeit: die ca. 2 500 Sammelbildalben umfassende Sammlung Hartmut Köberich, die in der Universität Frankfurt aufbewahrt wird. Dass die in der Volkskunde lange schon vertraute Alltagsbildforschung nun auch die Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaft erreicht, ist dem „Visual Turn“ (15) zu verdanken. Dabei geht es aber hier nicht nur um einzelne Bilder, sondern um Bildfolgen, denn „Anzahl und Anordnung der Bilder haben eine Auswirkung auf die Art der Rezeption“ (18). Serien und Hyperimages bewirken einen je spezifischen Umgang mit dem Material. Diese Sicht ist eher aus der Kunstgeschichte und Ausstellungswelt vertraut, aber im Bereich zwischen vorstrukturierten Bilderfolgen und privatem Umgang damit in dialektischer Auseinandersetzung neu (21). In der Konsumgeschichte unterstützen die Bilderserien eine sachfremde Kaufentscheidung für ein Markenprodukt. Die so entstehenden Sammlungen und die Alben dafür sind individuell und kollektiv identitätsstiftend (24). Das Sammeln, Ordnen, Tauschen und Einkleben sind konstitutiv für den Erfolg der Serien, die ihrerseits fremde Welten einzuordnen und zu vermitteln behaupten. Dieses historisch und sozial gebundene „Konsumwissen“ (32) ist von Materialität und Medialität der Alben mitgeprägt.
In einem „Ineinander von Chronologie und Typologie“ (38) untersucht Judith Blume in vier Fallstudien je typische und erfolgreiche Beispiele und beginnt dabei chronologisch bei den sechsteiligen Serien von Sammelbildern zu Liebig’s Fleischextrakt. Dem schließen sich die voluminösen, thematisch gebundenen Bulgaria-Zigarettenbilder-Alben an, mit Motiven wie Fahnen und Filmstars der 1920/30er Jahre. Anschließend widmet sich Blume der für die NS-Zeit überaus prägenden Bild-, Text- und Albenproduktion der Zigarettenfirma Reemtsma, um zum Abschluss für die 1950er Jahre die monografischen Serien und Alben der Margarine-Union zu untersuchen.
Dem wird ein Definitionsversuch vorangestellt, der sich der Frage widmet, was denn ein Album sei. Dies wird in verschiedenen Patentanmeldungen und den diesen beigegebenen Beschreibungen unterschiedlich beantwortet. Gemeinsam ist eine gewisse „Offenheit der Form“ (45), eine nur vorläufige Fixierung der Bilder, die in einem stabilen Album Raum und einen gewissen Schutz erhalten, das aber doch so handlich und transportabel sein sollte, dass man es nicht nur privat alleine Zuhause, sondern auch zumindest halböffentlich mit und bei Bekannten betrachten kann. Dazu bedarf es einer gewissen Repräsentativität solcher „Ausstellungen der Bilder“ (67). Die Alben prägen Sehgewohnheiten und Praxen der Wissensaneignung (86) durch ihre vielfältige Potenzialität, Ambivalenz und Dialektik. Die über 1 100 Sechser-Serien der ca. 7 x 11 cm großen Liebig-Bilder zu einer enzyklopädischen Vielzahl von Themen sind von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Ab 1890 gibt es bereits einen Club der Liebigbildsammler und ab 1896 eine eigene Zeitung. Die Motive folgen, meist zusammen mit einer Abbildung des Fleischextrakt-Topfes, der thematischen Bandbreite des bildungsbürgerlichen Kanons (99). Die Folgen von nur sechs Bildern bedeuten auch schnelle „Zwischenerfolge der Abgeschlossenheit“ (105). Durch ihren internationalen Einsatz fehlt ihnen die zeittypisch nationalistische und militärische Ausrichtung. Konfliktive Themen wie Elend, Krieg und Tod werden ebenfalls vermieden (115). Doch wird der Blick in Formen von Stereotypie und Rassismus in einer Perspektive vom Zentrum Europa auf die Peripherie der exotisch-kolonialen fernen Welt gerichtet (136 ff.), die als Idylle der Naturvölker dargestellt wird. Diese „Popularisierung einer Rhetorik der kolonialen Wissensformation“ (139) findet bei dem erwachsenen, vorwiegend männlichen bürgerlichen Zielpublikum großen Widerhall.
Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem sich die Zigarette gesamtgesellschaftlich durchgesetzt hat, erreichen die viel kleineren, etwa briefmarkengroßen Zigarettenbildchen deutlich breitere, oft unterbürgerliche Schichten. Die Bulgaria-Alben bilden ab Mitte der 1920er Jahre jeweils Platz für mehrere hundert Bildchen. Große und populäre Themen wie Film, Sport und Flaggen stehen im Vordergrund und werden in Alben nach ästhetischen Kriterien von Symmetrie und Reihe in harmonischer Weise präzise vorstrukturiert geordnet. Wehende und nicht wehende Fahnen, parallel oder spiegelbildlich angelegte Filmstar-Porträts werden für die Synopse einer ganzen Albumseite arrangiert, was Blume anschaulich mit Schaufenster- und Katalog-Arrangements vergleicht. Ab 1932 schließt man sich dem großen Cigaretten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld von Reemtsma an, was bedeutet, dass den Packungen nun nummerierte Bilderschecks beiliegen, von denen man eine lückenlose Serie für den Erwerb der Bilder benötigt (178 f.). So genannte Frei-Schecks lindern ein wenig den Zwang zur Lückenlosigkeit. In einer Fotoserie ist die Arbeit dieses Bilderdienstes dargestellt, die von einer nationalen Bedeutung zeugt. In den späten 1930er Jahren werden Auflagenhöhen der Alben in der Größenordnung von 400 000 bis 900 000 pro Quartal erreicht.
Der ab 1932 bis 1943 tätige Cigaretten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld organisiert auch die von einem durchgehenden Fließtext begleitete Albenproduktion des Zigarettenherstellers Reemtsma. Hier setzen sich nach den nur 5 x 2,3 cm großen Starporträts von Bulgaria größere Fotoabzüge durch, die durch Texte auf der Rückseite, in einem Bilduntertitel sowie in einem durchgehenden Fließtext kommentiert und eingeordnet werden, was den Alben eine Nähe zu privaten Fotoalben verschafft. Hier dominieren militärische, nationalhistorische, nationale und nationalsozialistische Themen. Das mit 2,3 Millionen Exemplaren erfolgreichste Album, das hier auch ausführlich vorgestellt wird (245 ff.), ist „Adolf Hitler. Bilder aus dem Leben des Führers“ von 1936. In 14 Kapiteln werden Fotografien des Leibfotografen Hitlers, Heinrich Hoffmann, präsentiert, die dokumentarisch zu sein und, damals ganz neu, das private Leben Hitlers vorzustellen vorgeben. In einer Dialektik von Nähe und Ferne wird hier die starke Politisierung und gleichzeitige Banalisierung in den 1930er Jahren dokumentiert. Die NS-Unterhaltungskultur basiert auf „freiwilliger Begeisterung“ (255) und stellt deutsche Themen ins Zentrum. Gleichzeitig kommen die Themen „im medialen Format aber […] auch dem Privatleben der Sammelnden nahe“ (282). Der Alben-Besitzer ist eben nicht passiver Konsument, so verspricht es die Propaganda, sondern „aktiver Mitgestalter“ und damit Teil der Volksgemeinschaft (270).
Die Nähe zu führenden Personen und den Organisationen des NS-Systems wird breit belegt und ist nach 1945 Gegenstand von Gerichtsverhandlungen, die auch zu Gefängnisstrafen führen. 1952 macht Reemtsma einen neuen Versuch mit dem – nun farbig angelegten – Album „Die bezaubernde Frau“ (282 ff.). Mit dem Bildungsanspruch einer Kulturgeschichte des Weiblichen scheitert die Firma aber bereits in einer internen Umfrage: Den hierfür angeschriebenen Herren sind Bilder, Unterschriften und Texte zu pikant, freizügig und sexualisiert, vor allem in Hinblick auf sammelnde Kinder.
Im Zentrum der letzten Albumvorstellung steht das 1952 erschienene Album „Afrika“ der Margarine-Union. Zu jedem Margarinewürfel „Sanella“ gibt es ein Bild, das Album kostet zwei DM. Hier wie in weiteren geografischen Alben verbindet ein Fließtext die Bilderreihe, in dem erzählt wird, wie ein Jugendlicher eine abenteuerliche Reise besteht. Die farbigen Bildchen sind Illustrationen eines dezidiert für ein jugendliches Publikum geschriebenen Textes, der aber gleichzeitig Informationen aus der fernen Welt liefert, weshalb die pädagogische Fachzeitschrift „Jugendschrift-Warte“ urteilt, das Album sei „für den Erdkunde-Unterricht brauchbar“ (317). Das „erzieherisch wertvolle Jugendbuch“ (320) ist sowohl ein erzählendes Jugendbuch als auch ein Jugend-Sachbuch. Hier leuchtet noch einmal der enzyklopädische Ansatz der Liebig-Bilder auf (327), wird aber verbunden mit dem zeittypischen Fernweh; folgerichtig kann man mit den Bildern und Alben nicht nur in der Phantasie und mit einzelnen Bildern in Etappen in andere Kontinente reisen, sondern es gibt in Form von Preisausschreiben auch die Möglichkeit „echte“ Reisen zu gewinnen (338). Die Aufmachung erinnert an private Alben, zumal der koloniale einem touristischen Blick Platz gemacht hat, der aber nicht weniger stereotyp beziehungsweise rassistisch ist, nun aber nicht biologisch, sondern kulturell argumentiert (344 f.). Als Erlebnisform spielt die Jagd/Safari, in der die europäische Dominanz sich dokumentiert, eine große Rolle, die als pazifizierte Fotosafari bis heute existiert. „Als Zugabe zu einem nach dem Krieg wiederbelebten traditionsreichen Markenprodukt standen sie [die Bilder, MB] für einen Neubeginn und für die Hoffnung, dass sich Konsum- und Reisewünsche bald wieder erfüllen ließen.“ (362) Als Ausklang und Hinweis auf mediale und künstlerische Verwendung von Sammelbildalben präsentiert Judith Blume abschließend zwei Kunstprojekte von Hanne Darboven und Peter Feldmann.
Wer die Darstellung durchliest, wird sie als Tour de Force durch diesen sehr spezifischen Aspekt unserer modernen Waren- und Markenwelt erleben. Im Fokus steht nicht nur, wie der Untertitel verspricht, das Album, auch die Bilder als solche, ihre Machart und Verwendung werden thematisiert, vom Sammeln, Ordnen, Tauschen, Organisieren und Kommunizieren gar nicht zu reden. Gleichzeitig bezieht sich Blume immer wieder auf die jeweiligen Zeitläufte, ohne deren Hintergrund weder Bilder noch Alben denkbar sind. Die entstehende und wachsende Werbewelt, die jeweiligen technischen Möglichkeiten und der bis heute nicht unterbrochene Siegeszug der Bilderwelt bilden den Hintergrund ihrer Darstellung. Rezeption und Wechselwirkung der Bilder untereinander sowie mit den Betrachtern werden genauso thematisiert wie Politik und Organisation der Distribution.
Die vielfältig argumentierende Vorstellung dieses nur dem Schein nach randständigen Phänomens zeigt deutlich, dass auch das Sammelalbum als Spiegel der Gesellschaft interpretiert werden kann und für uns Rezipientinnen und Rezipienten einen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse erlaubt. Die Perspektive ist dabei die der Konsumierenden der normalerweise schweigenden bürgerlichen, unterbürgerlichen oder jugendlichen Zielgruppen der jeweiligen Bilderwelten. Das wird in der insgesamt sehr informativen Arbeit zumindest angedeutet.