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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Hannes Bahrmann/Christoph Links, mit Fotos von Andreas Kämper

Finale. Das letzte Jahr der DDR

Berlin 2019, Christoph Links Verlag, 320 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-96289-061-2


Rezensiert von Frank Britsche
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Bei der Vielzahl an Publikationen der letzten Jahre zum „Annus mirabilis“ 1989/90 und der sich anschließenden Transformationszeit, die sich etwa mit Fragen zur Nachwirkung und Erinnerungskultur auch im Sinne von (ostdeutscher) Identitätsbildung befassen [1],  scheint es fast aus der Zeit gefallen, eine an konkreten Daten, Personen und Ereignissen orientierte Chronologie vorzulegen, die nahezu taggenau die „sich überschlagenden“ Ereignisse (Klappentext) im 41. Jahr der DDR aufbereitet und diese sinnverbunden nachvollziehen lässt. Der von Hannes Bahrmann und Christoph Links allgemeinverständlich geschriebene Band widmet sich pointiert dem letzten und ereignisreichsten Jahr der DDR und stellt die zentralen Entwicklungsstränge von 1989/90 mit analytisch scharfem Blick und vielen Beispielen dem Lesepublikum anschaulich dar. Eindrucksvolle Fotografien von Andreas Kämper fingen das Zeitgeschehen unverfälscht visuell ein und runden den Band stimmig ab.
Rasch zeigt sich, dass es sich nicht um eine Ansammlung chronologisch geordneter Informationen handelt, sondern um eine gewinnbringende Zusammenstellung, um die äußerst komplexen und zeitlich sehr eng beieinanderliegenden Geschehnisse in ihrer Kausalität, Dynamik und Wechselwirkung einschätzen zu können, ebenso wie das zeitliche (und massenmediale) In-Erscheinung-Treten bestimmter sozialer Gruppen, darunter die DDR-Oppositionsbewegung (34 ff.), Vermittlungsakteur*innen (54 ff.) bis hin zu „Einigungsgegner*innen“ (128 ff.), aber auch Neonazis und Hooligans (91 ff.). Letztlich ist diese Perspektivierung eine wesentliche Voraussetzung zur Bewertung der Verläufe von 1989/90 und ihrer langfristigen Wirkungen.
Es wird indes deutlich, dass die Geschehnisse in der DDR nicht ungeachtet der weltpolitischen Bühne stattfanden, sondern dass es vor allem auch globale und europäische Entwicklungen waren, die sich im Reform- und Demokratisierungsprozess in der DDR spiegelten. Mit den Abrüstungsschritten und der Außerkraftsetzung der „Breschnew-Doktrin“ (13) durch Gorbatschow vollzogen sich Schritte hin zu weitreichenden Veränderungen in rasantem Tempo: Mit der symbolischen Öffnung des Eisernen Vorhanges am 27. Juni 1989 setzten mediale TV-Berichte über die Flucht Ostdeutscher über die grüne Grenze Ungarns nach Österreich ein, ergänzt durch die emotionalen Bilder aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag mit tausenden DDR-Flüchtlingen. Diesen Berichten haben wir es vielleicht zu verdanken, dass die nachfolgenden Ereignisse im Herbst 1989 in der DDR nicht nur in Westdeutschland, sondern auch international zunehmend Aufmerksamkeit erlangten.
Auf 320 Seiten werden monatsweise vom Oktober 1989 bis Oktober 1990 ausgewählte Ereignisse und entscheidende Wegmarken des Verlaufs hin zur deutschen Einheit dargestellt. Den Beginn markiert der 7. Oktober, der 40. Jahrestag und zugleich letzte Staatsfeiertag der DDR, der prachtvoll im Palast der Republik begangen wurde, während auf der anderen Seite der Spree bereits Menschen gegen die DDR-Führung demonstrierten und damit signalisierten, dass sich die DDR kurz vor ihrer symbolischen Eruption befand. Denn nur zwei Tage später, am 9. Oktober 1989, trugen die Leipziger Montagsdemonstrationen den öffentlichkeitswirksamen Protest auf die Straße und setzten eine Entwicklung in Gang, die unaufhaltsam schien und den Druck auf die SED-Führung so lange erhöhte, bis schließlich die Grenzübergangsstellen an der „Berliner Mauer“ am 9. November 1989 friedlich geöffnet wurden. Noch heute sind jene Bilder mit Massen von jubelnden Deutschen, welche „die Mauer“ durchbrachen, globale Bildikonen, die „1989“ als Chiffre fest in das kollektive Gedächtnis imprägnierten. Die Chronik von Bahrmann und Links endet mit dem „Fest der Einheit“ am 3. Oktober 1990 als gesamtdeutschem neuen Feiertag, an dem die DDR aufhörte zu existieren und die fünf neuen Bundesländer dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten.
Zu den wichtigsten Fragen des künftigen Fortgangs im Osten Deutschlands zählten vor allem wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte; die D-Mark als gemeinsame Währung wurde immer wieder symbolisch-emotionaler wie auch ökonomisch-realpolitischer Fluchtpunkt von Debatten und Entscheidungen (147 ff., 198 ff., 200 ff. u. a.). Auch wenn verschiedene konzeptionelle Pläne zur Reformierung oder Umgestaltung der DDR bis hin zur Vertragsgemeinschaft diskutiert wurden, war schließlich die staatsrechtliche und damit auch wirtschaftliche und gesellschaftliche deutsche Einheit das Ziel, das die Mehrheit der Menschen in der DDR anstrebte und durch die ersten (und zugleich letzten) freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 legitimierte. So lautete passend auch der letzte Satz der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl am Vorabend des Tags der Deutschen Einheit am 2. Oktober bei der offiziellen Auflösung der DDR: „Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden.“ (293)
Beim Studieren des Bandes werden zahlreiche unmittelbare Folgen des Einigungsprozesses deutlich, die erst im Zuge komplizierter verwaltungsrechtlicher Bestimmungen Konfliktpotential bargen und die bis in die Gegenwart hineinwirken, zum Beispiel die 1990 ausgehandelte Restitutionsformel „Rückgabe vor Entschädigung“ zu Eigentumsfragen (214 ff.). So stellten sich virulente Fragen nach (Un-)Gerechtigkeit im Nachwendedeutschland und einige offene Wunden des Einigungsprozesses blieben bestehen.
Gewiss treten neben den staatspolitischen und sozioökonomischen Veränderungsprozessen von epochaler Bedeutung andere Entwicklungen und konzeptionelle Debatten in der unmittelbaren Umbruchszeit etwas in den Hintergrund. Sie waren jedoch nicht minder prägend auch für den politischen wie gesellschaftlichen Diskursrahmen der 1990er Jahre, etwa im (institutionellen) Erziehungsbereich, ehemals ein herrschaftsstabilisierender Grundpfeiler in der DDR, ebenso verschiedene Entwicklungen in den sich anbahnenden neuen (Bundes-)Ländern mit ihren teils eigenen Vorstellungen von territorialer Struktur und Landesverfasstheit.
Nach jeweils kurzen Überblickstexten und den taggenau datierten Abläufen während der einzelnen Monate werden zur Einordnung der Ereignisse vertiefend Hintergrundinformationen, Dokumente, Zeitzeugenberichte und Porträts bereitgestellt, die zugleich ein kursorisches Verständnis zu geben vermögen, wie die DDR „funktionierte“ (Klappentext). Dies ist facettenreich gelungen, wenngleich das Spektrum an Themen noch hätte erweitert werden können, zum Beispiel zu Minderheiten oder zum Schulunterricht, der nur marginal durch einen Zeitzeugenbericht gestreift wird (116 ff.). Insbesondere die Umstrukturierung des Schulwesens, die Modellversuche und Ambitionen freier Schulen sind auch Ausdruck einer konstruktiven Dynamik des gesellschaftlichen Aufbruchs jenes Jahres, die einen Großteil der Familien in der DDR unmittelbar betraf, ebenso wie die Frage nach neuen (geistigen) Orientierungsrahmen und Werten, vor die sich Erzieher*innen und Lehrer*innen plötzlich gestellt sahen.
Um die politikgeschichtliche Dimension, die sich zwangläufig aufgrund des staats- und verwaltungsrechtlichen Charakters der Herstellung der deutschen Einheit ergibt, etwas mehr um eine eher alltags- und mentalitätsgeschichtliche Perspektive zu erweitern, endet jedes Monatskapitel sehr originell mit einer Auswahl an DDR-Witzen, gleichwohl die Autoren des Bandes einleitend anmerken: „Das Strafgesetzbuch von 1968, das bis zum Ende der DDR galt, sah für das Witzeerzählen nach Paragraf 106 ‚Staatsfeindliche Hetze‘ Freiheitsstrafen von einem bis acht Jahren Gefängnis vor. Diese wurden in den 1980er Jahren nur noch äußerst selten verhängt.“ (40) Die ausgewählten Witze stehen jedoch für die zwischenmenschliche Kommunikation, die Wahrnehmung des Zeitgeschehens durch die Menschen und dessen teils feindselige, aber humoristische Reflexion; sie deckten die Unzulänglichkeiten der DDR auf und legten gleichzeitig den Finger in die Wunde. Ebenso erscheinen die Zeitzeugenaussagen nicht nur als ein Zeitkolorit, sondern auch als Ausdruck ambivalenter persönlicher Haltungen im unmittelbaren Geschehen (176 ff.).
Deutlich wird beim Lesen des Sachbuches durchweg die revolutionäre Dynamik des Jahres 1989 mit ihren so unabwendbaren Veränderungen, in deren Folge im Jahr 1990 die DDR demokratisch umgestaltet werden sollte (109 ff.), es durch die freien Wahlen schließlich zur Auflösung der DDR sowie zum Beitritt zum Bereich des Grundgesetzes und damit zur deutschen Einheit kam. Im Vergleich zu anderen Darstellungen widmet sich die vorliegende Schrift von Hannes Bahrmann und Christoph Links auch in einzelnen Schlaglichtern bislang zu wenig berücksichtigten Aspekten und Ereignissen, die würdigend hervorgehoben werden, zum Beispiel dem „Zwei-plus-vier-Vertrag“ (125 ff., 283 ff., 301 ff.) als entscheidendem Garanten der Friedensordnung und Endpunkt der „Nachkriegszeit“.
Auch wenn die Struktur des Bandes überzeugt und es der Einordnung dienlich erscheint, eine Abkürzung für die wiederkehrenden Rubriken Dokumente, Hintergrundinformationen, Porträts und Zeitzeugenberichte durch einzelne Buchstaben zu wählen, irritiert die Fülle der sich wiederholenden Buchstaben; es hätte also nicht zwingend die Voranstellung eines der vier Großbuchstaben D, H, P und Z gebraucht. Ebenso wären detaillierte Quellenangaben im Literaturverzeichnis wünschenswert gewesen, zumindest der bibliografischen Vollständigkeit halber, da dort unter der Liste der zitierten Quellen vermerkt ist, dass „ein Teil“ der Einträge aus den aufgeführten Quellen stammt. Abgesehen davon ist das Buch alles in allem eine breit angelegte Chronologie über das komplexe finale Jahr der DDR, die sich nicht nur (Ost-)Deutschen leicht erschließt und einen Überblick im Nachschlageformat verschafft, sodass der Band in jeden kultur- und zeithistorischen Handapparat gehört.

Anmerkung

[1] Vgl. Hanna Haag, Pamela Heß u. Nina Leonhard (Hg.): Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis. Wiesbaden 2017. Siehe auch die bisher entstandenen Publikationen der seit 2018 durch das BMBF geförderten 14 bundesweiten Forschungsverbünde zur Transformationsforschung und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der DDR und dem SED-Unrecht, www.bmbf.de/files/ForschungsverbündeDDR.pdf [27.3.2021].