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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


LVR Industriemuseum/Claudia Gottfried/Christiane Syré/Maike Lammers u. a. (Hg.)

Mythos neue Frau. Mode zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und Republik. Begleitband zur Sonderausstellung in der Tuchfabrik Müller, Euskirchen, 17.2.2019–17.11.2019

Oberhausen 2019, LVR Industriemuseum St.-Antony/Eisenheim, 104 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-945060-07-0


Rezensiert von Christine Burckhardt-Seebass
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Die Ausstellung „Mythos neue Frau. Mode zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und Republik“, deren Begleit- und Erinnerungspublikation es hier zu besprechen gilt, war Teil des Programms „100 Jahre Bauhaus im Westen“, das 2019 von den Landschaftsverbänden in Nordrhein-Westfalen zum Jubiläum des Weimarer/Dessauer Bauhauses inszeniert wurde und über eine Reihe von Veranstaltungen und Ausstellungen an die wichtigen „westlichen“ Impulse erinnern wollte, die zur Reformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende beitrugen. Das Thema Mode gaben vermutlich die entsprechenden Bestände des Museums vor. Es lag aber auch nahe, weil die „richtige“, zeitgemäße Kleidung (und hier insbesondere die weibliche) ein Brennpunkt der Bauhaus-Diskussionen um Lebens- und Stilreformen war.
Der Titel „Mythos neue Frau“ bezieht sich – dies der Leitgedanke von Ausstellung und Publikation – auf die weit verbreitete Meinung, mit dem Ersten Weltkrieg habe das Bild der Frau einen radikalen Wandel erfahren, dass es sich hierbei jedoch um einen Mythos handeln könnte, der durch eine kritische, historisch fundierte Darstellung ersetzt werden sollte. Entsprechend zeichnen die Beiträge im Begleitband die Einflüsse nach, die vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an einen Wandel initiierten: Das Bekleidungsschema für Frauen veränderte sich, die Kleidung wurde leichter, kürzer, einfacher, etwa durch funktionalere Stoffe (Jersey, Kunstfasern), praktische Verschlüsse (Druckknopf, Reißverschluss), standardisierte Schnitte, nach denen auch selbst geschneidert werden konnte. Die Kleidung musste tauglich werden für die modernen städtischen Verkehrsmittel, für Sport, für Wind und Wetter. Damit gerieten – wenngleich gegen zähen Widerstand – auch soziale Hierarchien und moralische Grundsätze in Bewegung, zwar nicht abrupt und auch nicht gleichmäßig, aber stetig. An der Kinder- und Jugendmode sowie der Männerkleidung, denen auch eigene Texte gewidmet sind, wurden ebenfalls neue Bedürfnisse und Ideale sichtbar.
Einen weiteren Motor orten die Autor_innen in der Demokratisierung des Konsums durch die neuen Warenhäuser. Sie gelten ihnen als „Ort der Moderne“ schlechthin und als Einübung in den Konsum (41). Im Krieg waren aber Angebot wie Nachfrage rasch durch Mangel gekennzeichnet. Eine Teilhabe an Mode war dem größten Teil der Bevölkerung nicht mehr möglich, es ging um den täglichen Kampf ums Überleben. Gleichzeitig änderte sich im Krieg die modische Orientierung: Patriotismus und Nation sollten Stil und Konsum bestimmen, die Vorreiterrolle von Paris wurde gestoppt.
Schließlich macht der Katalog an der Kleidung (offenbar noch mehr als am Stimmrecht) die Emanzipation der Frau als fundamentalem Veränderungsprozess fest. Immer größere und breitere Teile der weiblichen Bevölkerung wurden (schon vor dem Krieg) berufstätig, arbeiteten außer Hauses in der Öffentlichkeit, in Fabrik und Büro, und bedurften anderer, zweckmäßiger Kleidung, ein Trend, der sich im Krieg noch verstärkte, als Frauen auch Männerarbeiten übernehmen mussten und nicht nur im übertragenen Sinn die Hosen anhatten. Gefragt war nicht mehr eine vielfältige Garderobe für verschiedene soziale Gelegenheiten, sondern eine praktische: variabel (Rock und Bluse), solid, pflegeleicht und – dies das besondere Anliegen der Reformbewegung – gesund.
Zu einer Mythisierung des Frauenbilds konnte diese Entwicklung jedoch nicht beitragen. Es war der Film, der eine neue faszinierende Wahrnehmungsmöglichkeit von Körper und Textil schuf und zu einem festen Bestandteil der Populärkultur der Moderne wurde (89). Hier und in der Werbung zeigte sich die „neue Frau“, jung, ungebunden, mit Bubikopf und kurzem Paillettenkleid, die nach der Arbeit im Tanzlokal dem Charleston frönte. Aber das war nicht der Alltag. Die Frauen hatten zwar begonnen, sich nach dem durch den Krieg bedingten Konsumschub im neuen Stil zu frisieren und zu kleiden (die geraden Schnitte ließen sich in billigerem Material leicht selbst nachschneidern), aber die neue, emanzipierte Rolle der Frau in der Gesellschaft, die schon vor dem Krieg von einzelnen Künstlerinnen, Akademikerinnen und finanziell unabhängigen Reichen gelebt worden war, konnten sie nicht übernehmen, aus Geldmangel, Konvention, Scheu und (explizit nicht genanntem) männlichem Widerstand. Es gelang ihnen nicht beizubehalten, was der Krieg ihnen notgedrungen an Autorität und Selbstständigkeit gewährt hatte. In der Zeit der Weimarer Republik änderten sich zwar die äußere Gestalt und das Lebensgefühl, nicht aber in breitem Maße der bürgerliche Wertekanon, so dass in den dreißiger Jahren das nationalsozialistische traditionelle Hausfrauen- und Mutter-Bild (wieder) relativ leicht propagiert werden konnte (15).
Das Fazit ist, dass die „neue Frau“ seit der Wende zum 20. Jahrhundert als Zukunftsvision existierte, die Realisierung der Vision zwar durch den Krieg gebremst und erschwert, als Ziel aber nicht entwertet wurde. Im folgenden Jahrzehnt verfestigte sich diese Vorstellung als Mythos und nahm lediglich im Ästhetischen Gestalt an, zu einem Mentalitätswandel führte dies (noch) nicht.
Der Katalog bietet ein informatives Panorama der verschiedenen ineinander verwobenen Mode-Diskurse jener Epoche. Die jeweilige gesellschaftliche Stellung der Frau und die Frage der Macht werden jedoch nicht weiter reflektiert, was vom Thema Mythisierung her eigentlich notwendig gewesen wäre. Die reiche Bebilderung fußt auf Objekten der beteiligten Museen. Aber hätten sich in einer von der Textilindustrie geprägten Gegend keine weiteren regionalen Bezüge finden lassen? Vielleicht bleibt das weiteren Unternehmungen vorbehalten.