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Johanne Lefeldt
Alltag in Vielfalt. Eine ethnografische Studie in Brooklyn
(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 18), Münster/New York 2020, Waxmann, 488 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4116-3
Rezensiert von Pearl-Sue Carper
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
Kulturelle Diversität wird in einer Stadt wie New York, die sich selbst als „ultimate city of immigrants“ [1] versteht, besonders sichtbar. Damit eignet sich die Metropole an der amerikanischen Ostküste ganz besonders, um die gemeinsame Alltagsgestaltung unterschiedlicher Kulturen nachzuzeichnen. In ihrer 2020 veröffentlichten Dissertation richtet die Mainzer Kulturanthropologin Johanne Lefeldt den Blick auf den „Alltag in Vielfalt“ (11) am Beispiel des im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn gelegenen Stadtteils Kensington. Forderungen der kritischen Migrationsforschung aufnehmend, beleuchtet die Autorin in ihrer ethnografischen Studie das Zusammenleben der Bewohner*innen des Viertels. In zwei mehrmonatigen Feldaufenthalten untersuchte sie in den Jahren 2010 und 2012 lokale Aushandlungsprozesse alltäglicher interkultureller Beziehungen aus Sicht der Stadtteilbewohner*innen. Konzeptuell fasst sie ihren Untersuchungsort im Sinne Gerd Baumanns als besonderes „Social Field“ (1996) und begrifflich in Anlehnung an Mary Louise Pratt als „Kontaktzone“ (1991). Sie fragt danach, wie die Bewohner*innen des Viertels mit der omnipräsenten Diversität umgehen, wie Begegnungen gestaltet und ausgehandelt werden und welche Auswirkungen diese, aber auch historische Entwicklungen sowie lokale und globale Veränderungen auf die Akteur*innen selbst und deren Alltage haben. Die Antworten auf die Fragen werden in der mit 488 Seiten umfangreichen Monografie sorgfältig und dicht beschrieben.
Nach einer kurzen einleitenden Darstellung des Forschungsthemas widmet sich Lefeldt den theoretischen Konzepten kultureller Diversität, die grundlegend für das Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Logiken der USA in Vergangenheit und Gegenwart sind. Kritisch beleuchtet sie die für die Migrationsforschung relevanten Konzepte: Es geht mit Bezug auf historische Entwicklungen in den USA um die Entstehung und Bedeutung klassischer Assimilationstheorien und damit verbunden um der amerikanischen Gesellschaft inhärente Ideologien wie beispielsweise die Metapher vom Schmelztiegel (Melting Pot), den kulturellen Pluralismus, die soziale Bewegung des „Ethnic Revival“ sowie die differenzierte Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Begriffs „Multikulturalismus“. Mit Bezug auf Überlegungen der Soziologen Rogers Brubaker, Richard Alba und Victor Nee, die für ein „intransitives, abstraktes“ (51) beziehungsweise ein „komplexeres Verständnis von Assimilation“ (53) plädieren, umreißt die Autorin grundlegende Veränderungen im Verständnis dieses Phänomens, das Assimilation nicht grundsätzlich ablehnt, sondern vielmehr als heterogenen, offenen Prozess beschreibt, der migrierenden Personen eine eigene Agency zuspricht. Doch nicht nur die menschlichen Akteur*innen sind in der Gestaltung dieser Prozesse aktiv beteiligt. Dies verdeutlicht Lefeldt im darauffolgenden Kapitel an der spezifischen Bedeutung der Stadt New York selbst, deren „Biografie“ (62) vergangene und gegenwärtige Aushandlungen aktiv mitprägt, was in der Betrachtung des Forschungsfelds sowie der Interaktion mit Forschungspartner*innen konstant mitgedacht wird.
Zur Erhebung ihres ethnografischen Materials hat die Kulturanthropologin auf klassische Forschungsmethoden des Faches zurückgegriffen. Ein Großteil der empirischen Basis resultiert aus Gesprächen mit Forschungspartner*innen sowie der aktiven Teilnahme am Alltagsgeschehen im Viertel. Die Wahl der Gesprächspartner*innen repräsentiert dabei das Bestreben der Autorin, die Diversität des Stadtteils exemplarisch nachzuzeichnen. So sprach sie mit insgesamt 105 Personen unterschiedlicher sozialer Milieus, verschiedenen Geschlechts, Alters, Religionszugehörigkeit etc., deren Herkunft sich auf 45 Länder zurückführen lässt. Diese Diversität spiegelt sich ebenfalls in der Vielzahl der gesprochenen Sprachen wider. Die damit einhergehenden sprachlichen Einschränkungen forderten die Forscherin und ihre Forschungspartner*innen zu (kreativen) Lösungsansätzen im Umgang mit Hürden der Verständigung heraus. Hilfsmittel wie der Einsatz des Körpers in Form von Gesten oder Materialitäten, die sich zum Beispiel in Form von Bildern oder Zeichnungen manifestierten, gaben mitunter „eindrücklichere Einblicke als sie wahrscheinlich rein sprachliche Beschreibungen hätten leisten können“ (111). Die Autorin reflektiert ihre Zugänge zum Feld, die nicht nur sprachlich, sondern unter anderem auch durch ihre eigene Herkunft, damit verbundene Bedeutungszuschreibungen seitens ihrer Gesprächspartner*innen sowie ihr Geschlecht bestimmt sind. Die detaillierte Schilderung der methodischen Vorgehensweise und des Prozesses der Auswertung sowie der Fokus auf eine stetige Reflexion der eigenen Rolle im Feld, welche nicht nur im methodischen Teil besonders hervorgehoben wird, sondern in der gesamten Arbeit stetig mit einfließt, geben nicht nur einen Einblick in das Handwerkszeug kulturanthropologischer Forschung, sondern sensibilisieren ebenso für den Umgang mit potenziellen Herausforderungen und Konfliktsituationen während des Forschungsprozesses.
Inspiriert von Utz Jeggles Annäherung an das Dorf Kiebingen in Form eines Spaziergangs (1977), nähert sich Lefeldt im fünften Kapitel ihrem Forschungsfeld, konkret dem Ort Kensington, ebenfalls über einen Spaziergang. Mittels ihres Rundgangs zeichnet sie ihr Feld nicht nur geografisch nach, sondern gibt anhand einzelner Stationen in Form von Straßenzügen, -kreuzungen sowie Wohngebieten und angrenzenden Nachbarschaftsvierteln (historische) Einblicke in den Alltag der Bewohner*innen sowie die damit verbundenen Herkunftsländer. Sorgfältig verdeutlicht sie historisch gewachsene (Immigrations)Prozesse, erörtert unterschiedliche Einwanderungswellen sowie die Beweggründe der migrierenden Personen. Migrierende versteht die Autorin als erweiterten Begriff, der nicht nur Personen umfasst, die aus anderen Ländern in die USA immigrieren, „sondern auch diejenigen einschließ[t], die nur ein Nachbarviertel weiter ziehen, sich in ihrem neuen Umfeld aber ebenfalls neu verorten müssen“ (19). Mit dieser Kontextualisierung ihres Forschungsfelds veranschaulicht Lefeldt somit nicht nur die permanenten Veränderungen des Stadtteils mit Blick auf die Bevölkerungszusammensetzung und die Infrastrukturen, sondern ebenso die Effekte, die die jeweiligen Akteur*innen, betrachtet in historischer und gegenwärtiger Perspektive, gesetzt haben beziehungsweise setzen. Damit schafft sie für die Leser*innen Grundlagenwissen für das weitere Verständnis des empirischen Teils ihrer Arbeit.
Im Hauptteil ihrer Dissertation widmet sich die Autorin konkret den interkulturellen Beziehungen der Bewohner*innen. In den drei Teilkapiteln „Untereinander“, „Nebeneinander“ und „Miteinander“ untersucht sie anhand exemplarischer Fallbeispiele die „miteinander in Bezug stehende[n] und sich gegenseitig beeinflussende[n] Facetten eines Alltags in Vielfalt“ (19). Während das Kapitel „Untereinander“ die Beziehungen zwischen Bewohner*innen näher betrachtet, die vor allem auf herkunftsbezogenen Gemeinsamkeiten beruhen und „Strategien der Beheimatung“ (212) umfassen, stellt das Kapitel „Nebeneinander“ eine voneinander getrennte Alltagsgestaltung sowie die Aushandlungen von und den Umgang mit (stereotypen) Differenzen in den Vordergrund. Dabei wird die Abgrenzung voneinander, wie Lefeldt verdeutlicht, seitens der Bewohner*innen nicht unbedingt als negativ, sondern mit Blick auf ein konfliktfreies Miteinander durchaus als positiv erlebt. In „Miteinander“ analysiert sie die „Begegnungen zwischen verschiedenen sich ethnisch, kulturell, sozial, sprachlich und religiös unterscheidenden Bevölkerungsgruppen und Individuen“ (212) und hebt das dadurch entstehende Potenzial für einen reflektierteren Umgang mit und differenziertere Betrachtungsweisen auf andere Stadtviertelbewohner*innen hervor. Trotz dieser dreiteiligen Gliederung betont die Autorin nicht die Abgrenzung zwischen den Kategorien, sondern vielmehr die Verwobenheiten und Überlappungen, die in den einzelnen Kapiteln durch die Herstellung von Bezügen zwischen den unterschiedlichen Fallbeispielen deutlich werden. Beispielhafte Schlüsselfunktionen nehmen hier unter anderem kindliche Akteur*innen ein. Während diese oftmals „untereinander“ bleiben und lediglich innerhalb ihrer Communities in der Nachbarschaft auf der Straße spielen und somit die Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen verdeutlichen, lassen sich hingegen andere Situationen beobachten, in denen Kinder unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zusammenkommen. Gleichzeitig haben jene das Potenzial, wie Lefeldt herausarbeitet, durch ihre Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber „anderen“ Personen Brücken zwischen Erwachsenen herzustellen.
Das Beispiel der Agency der Kinder deutet die Komplexität und Dichte der gelungenen Studie an. Insgesamt gibt die materialreiche Arbeit anhand „[e]thnografische[r] Momentaufnahmen“ (79) einen umfassenden Einblick in die komplexen Konstellationen verschiedener Beziehungen der Bewohner*innen Kensingtons und macht deren von Diversität bestimmtes Zusammenleben verstehbar. Die Lektüre dieser Studie ist nicht nur für kritische Migrationsforscher*innen aufschlussreich, sondern ebenso für alle Personen, die einen ersten umfassenden Einblick in das Themenfeld gewinnen möchten. Insofern eignet sich die Arbeit trotz ihres Umfangs auch als Good Practice-Beispiel in der universitären Lehre.
Anmerkung
[1] Bitta Mostofi: Message from Commissioner Bitta Mostofi. In: NYC Mayor’s Office of Immigrant Affairs: State of Our Immigrant City. Annual Report March 2018: 3, URL: www1.nyc.gov/assets/immigrants/downloads/pdf/moia_annual_report_2018_final.pdf [12.3.2021].