Aktuelle Rezensionen
Reinhild Schneider/Peter Schneider
Die Sonneberger Spielwarenmusterbücher des 19. Jahrhunderts aus der Sammlung des Deutschen Spielzeugmuseums
Sonneberg 2020, Deutsches Spielzeugmuseum, 319 Seiten mit 160 Farbabbildungen, ISBN 978-3-00-064463-4
Rezensiert von Uwe Claassen
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
Das anzuzeigende Buch von Reinhild und Peter Schneider erscheint ein klein wenig, auf angenehmste Art, aus der Zeit gefallen: Es handelt sich um einen Bestandskatalog. In Zeiten, in denen Museen ihre Bestände digital erschließen, legt das Deutsche Spielzeugmuseum Sonneberg einen gedruckten Katalog vor, in dem es seine Sammlung an Spielwarenmusterbüchern des 19. Jahrhunderts vorstellt: Bücher und Loseblattsammlungen, die im Wesentlichen detailgenaue Bilder von Verkaufswaren enthalten, dazu Bestellnummern und manchmal Bezeichnungen von Warengruppen. Man kann nicht sagen, dass das Museum digitalisierungsfeindlich wäre. Über das digitale Kultur- und Wissensportal Thüringen „Kulthura“ hat es 456 Objekte seines Bestands online gestellt, darunter auch einige der Musterbücher, mit sämtlichen Seiten. Die hier gemachten Angaben zu den Objekten entsprechen einer ersten Beschreibung, während im gedruckten Buch eine viel tiefergehende Informationsdichte vorherrscht, aber nur Beispielseiten abgebildet sind.
Den Hauptteil des klassischen Bestandskatalogs nimmt die Präsentation der Musterbücher ein, wozu auch eine Vorstellung der Handelsunternehmen gehört, die sie herausgegeben haben. Vorangestellt ist eine thematische Einführung, den Schluss bildet ein Anhang mit Glossar, Literatur- und Quellenangaben sowie zwei Registern nach Firmennamen und den Inventarnummern, die die Arbeit mit dem Buch erleichtern.
Die Einführung beruht genauso wie die Vorstellungen der einzelnen Firmen im Katalogteil auf Publikationen (19. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit) und auf ungedruckten Typoskripten, die sich in der Bibliothek des Deutschen Spielzeugmuseums befinden, insbesondere auf Archivstudien von Jutta Arsenova, Brunhild Meyfarth und Thomas Schwämmlein. Sie beginnt mit kurzen Ausführungen zum Thema Kindheit und den ersten Spielwarenkatalogen vom Ende des 18. Jahrhunderts (Peter Friedrich Catel, Berlin 1785, und Georg Hieronimus Bestelmeier, Nürnberg 1793). Es folgt eine kleine Wirtschaftsgeografie des Raumes Sonneberg mit dem Spielzeug als wichtigstem Produktions- und Handelsgut im Mittelpunkt. Erste schriftliche Belege für eine Spielzeugproduktion in der waldreichen Gegend gibt es aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schon zu dieser Zeit beruhte die Produktion auf einer frühen Form eines in Sonneberg beheimateten Verlagswesens, das seine Produkte heimindustriell vor allem in den umliegenden Ortschaften fertigen ließ und international zu vertreiben wusste. Dieses System verfestigte sich mit dem 1789 vom Landesherrn erlassenen „Privileg der Sonneberger Kaufmannschaft“. Handel und Produktion wurden voneinander getrennt: Kein Händler durfte selber produzieren und kein Produzent selber Handel treiben. Zudem wurde der Handel in den Händen von 30 namentlich genannten Kaufleuten monopolisiert. Erst 1862 endete diese Phase mit der Einführung der Gewerbefreiheit. Erste Fabriken entstanden, doch wurden hier oft nur heimindustriell gefertigte Einzelteile und Halbfertigprodukte zusammengefügt oder anderweitig fertig gestellt, zum Beispiel bemalt. Der Handel der Sonneberger Kaufleute intensivierte sich nach dem Ende der Kontinentalsperre 1813 enorm, die ganze Welt wurde ihre Kundschaft. Amerikanische Handelshäuser unterhielten in Sonneberg Niederlassungen, sogar ein amerikanisches Konsulat gab es hier. Sonneberg hatte Nürnberg seine dominierende Rolle für die Spielzeugproduktion abspenstig gemacht und galt als „Welthauptstadt des Spielzeugs“. Die Musterbücher, die sich nicht an Endkunden, sondern an Händler in den europäischen Handelsmetropolen, in Nord- aber auch in Südamerika und Asien wandten, erleichterten diesen Handel.
Der Museumsbestand umfasst 70 Musterbücher und Loseblattsammlungen zumeist aus Sonneberg und Umland, aber auch Exemplare aus dem süddeutschen Raum, Berlin und Orlamünde finden sich hier. Die ältesten stammen aus der Zeit um 1830, die jüngsten aus dem 20. Jahrhundert. 35 Sonneberger Exemplare aus zwölf oft mehrgenerationellen Firmengeflechten mit den Namen Lindner, Müller, Fleischmann, Bischoff, Dressel, Escher, Dorst, Jacob, Strahtmann, Luge, Kochendörfer und Nick werden im vorliegenden Katalog umfassend vorgestellt. 17 weitere konnten dem aufgrund identischer Merkmale zugeordnet werden, so dass 52 Exemplare des Bestands abgedeckt sind. Die Beschreibung der einzelnen Bücher und Blätter umfasst neben Angaben zu Firmen, Datierungen, Umfang, Einband, Format und Ausstattung auch solche zu handschriftlichen Vermerken, der Präsenz von Preisangaben, Anzahl und Zählung der Artikel, zu Größenverhältnissen und dann in teils längeren Textbeiträgen Angaben zu Struktur, Motiven und gestalterischen Merkmalen, Hinweise auf Handelsbeziehungen und auf weitere identische oder ähnliche Exemplare. Zum Teil erfolgen auch zusätzliche Kommentare, die größere Zusammenhänge aufzeigen. Die extrem akkuraten Beschreibungen beruhen auf einer äußerst akribischen Durchsicht der einzelnen Exemplare und ihrem Vergleich. Auf diese Weise sind Mehrfachnutzungen identischer Musterblätter in verschiedenen Büchern, auch von unterschiedlichen Händlern, erkennbar geworden. Die Zuordnung einzelner Bücher zu bestimmten Handelshäusern konnte aufgrund dieser Vergleiche korrigiert werden. Viele der Bücher haben um die 100 Seiten, das umfangreichste 296. Kein Wunder, dass jeweils nur einige wenige Musterseiten abgebildet sein können. Dieses Manko wird durch die Textbeiträge in den Rubriken „Struktur“ und „Motive“ aufgefangen. Hier sind die einzelnen Warengruppen und die Anzahl der jeweiligen Erzeugnisse genannt, zudem die Abfolge von Waren innerhalb einzelner Gruppen, so dass sich ein guter Überblick über jedes Buch einstellt. Erkennbar wird die Entwicklung der Sonneberger Spielzeugproduktion, anfänglich mit dem Schwerpunkt bei Artikeln aus Holz und dann über den zunehmenden Einsatz von „Masse“ für Puppenglieder bis hin zum Porzellan. Neben Sonneberger Artikeln sind hier auch Holzspielzeuge aus dem Erzgebirge und Blechartikel aus dem Raum Nürnberg abgebildet, die ebenfalls von Sonneberger Verlegern vertrieben wurden. Zu finden sind zudem Waren, die nicht direkt dem Spielzeug zugeordnet werden können, wie gläserne Perlen, Dekorationsartikel, Puppen- und Präparatorenaugen sowie Christbaumschmuck aus Lauscha und umliegenden Gemeinden, in denen sich die Verarbeitung von Glas vor der Lampe etabliert hatte, Korbflechtereien oder Wetzsteine, Tafeln und Schreibgriffel, deren Material aus den Schieferbrüchen der Region stammt. Auch die Gestaltung der Musterbücher, obwohl jeweils längere Zeit im Einsatz, unterliegt einer erkennbaren Entwicklung, die von Stichen über handkolorierten Lithographien bis hin zum Einsatz fotografischer Druckvorlagen reicht.
Obwohl Spielzeug schon lange ein fest etabliertes Forschungsthema und auch die Existenz der Sonneberger Spielzeugmusterbücher bekannt ist, Manfred Bachmann zum Beispiel hat sich mehrfach in Publikationen auf sie bezogen und 1979 einen Nachdruck des Lindner’schen Katalogs von 1829–1831 herausgegeben, liegt hier nun erstmals ein publiziertes Handwerkszeug vor, mit dem dieser Bestand für das 19. Jahrhundert in Gänze gut erschlossen werden kann. Dem Autorenpaar Reinhild und Peter Schneider kann gewiss zugestimmt werden, dass die Musterbücher „die ökonomischen und sozialen Erscheinungen ihrer Zeit [reflektieren … und] selbst eine Ausdrucksform der Kultur des anbrechenden Industriezeitalters“ sind (9). Der hier vorliegende „verfügbare Fundus an Bildinformationen [bietet] manche noch ungenutzte Möglichkeit des Verknüpfens und des Herstellens von Querbezügen, des Wahrnehmens, Erkennens und der Interpretation“ (42). Die zahlreichen Abbildungen des Bandes begeistern und lassen Ideen fast von allein sprudeln. In den Texten kann das vertieft werden und man bekommt arbeitserleichternd einen guten Eindruck, welche konkreten Musterbücher man sich beim nächsten Besuch im Deutschen Spielzeugmuseum in Sonneberg vorlegen lassen könnte.
Die Art, wie das Buch angegangen wurde, hat auch mit der Persönlichkeit der Autorin und des Autors zu tun. Reinhild Schneider, die Leiterin des Museums, hat vor ihrer Tätigkeit am Deutschen Spielzeugmuseum lange Jahre am gleichen Ort die Städtische Kunstgalerie „Comptoir“ geleitet und überwiegend zeitgenössische Künstler ausgestellt. Eine kleine „Duftmarke“ ist denn auch gleich zu Beginn des Buchs gesetzt, wenn der Begriff des „Musterbuchs“ zunächst kunstgeschichtlich hergeleitet wird (9), obwohl die hier im Zentrum stehenden Werbeartikel des 19. Jahrhunderts nur mit einem extrem weiten Kunstbegriff als Kunst anzusehen sind. Vielleicht wird hier eine Art objektbezogenen Arbeitens erkennbar, die in der volkskundlich/kulturanthropologischen Bildforschung am ehesten mit dem Namen Christa Pieske verbunden ist. Peter Schneider, der Ehemann und Co-Autor, ist von Haus aus Grafiker und hat sich schon seit langem einen hervorragenden Ruf als Buchgestalter mit einer eigenen Handschrift gemacht. Es liegt nahe, dass er sich gern mit dieser besonderen und raren Buchgattung befasste. Und dieses Vergnügen ist der Gestaltung des Katalogs anzusehen. Die Bilder der Objekte sind alle freigestellt und mit einem kleinen Schatten unterlegt. Das ist viel Arbeit, aber man hat das Objekt vor sich und nicht nur ein rechteckiges Foto vom Objekt. Ein klares Schriftbild mit großzügigen Abständen und Rändern entspricht der hohen Wertigkeit, die dem Gegenstand des Buches zuerkannt wird. Die Akkuratesse der Objektbeschreibungen ist schon erwähnt worden. Hinzu kommt eine immer wiederkehrende Übernahme des orthografischen Zeitkolorits des 19. Jahrhunderts in die eigenen Textbeiträge, wenn dort vom „Zweyten Theil“ die Rede ist, von „Blechernen Waaren“ oder „Thieren und Figuren in Kistchen“. Chapeau für das sinnvolle Handwerkszeug, das hier vorgelegt wurde und für dessen wunderbare Gestaltung.