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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Maren Butte/Dominic Larue/Anno Mungen (Hg.)

Feiern – Singen – Schunkeln. Karnevalsaufführungen vom Mittelalter bis heute

(Musik – Kultur – Geschichte 9), Würzburg 2017, Königshausen & Neumann, 310 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8260-6205-6


Rezensiert von Alois Döring
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Der anzuzeigende Sammelband bietet Beiträge eines internationalen Symposiums der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte, das − parallel zur Saisoneröffnung des Kölner Karnevals − vom 11. bis 13. November 2011 von Anno Mungen (Universität Bayreuth) und Christine Siegert (Universität der Künste Berlin) in Zusammenarbeit mit Arnold Jacobshagen und der Hochschule für Musik und Tanz Köln organisiert wurde. Den Tagungsband herausgegeben haben Maren Butte, Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft/Performance Studies am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf, Dominic Larue, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim DLR-Projektträger im Bereich Kulturelle Bildung sowie Anno Mungen, Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters und Leiter des Forschungsinstituts für Musiktheater an der Universität Bayreuth.
Der Tagungsband „fokussiert das Phänomen Karneval aus musikwissenschaftlicher Sicht im Kontext relevanter anderer Disziplinen wie der Kunstgeschichte, der Europäischen Ethnologie und der Theaterwissenschaft“, wobei der Karneval „vor allem aus der Perspektive seiner performativen Dimensionen heraus“ betrachtet werden soll (Einleitung, 13). Die Beiträge decken eine große historische Bandbreite vom Mittelalter bis zur Gegenwart ab. Referent*innen respektive Autor*innen aus Belgien, Deutschland, Italien, Österreich und den USA widmen sich dem bunten Treiben auf den Straßen in den Sektionen „Interdisziplinäre Annäherungen“ (Gunther Hirschfelder: „Karneval auf dem Weg in die Event-Gesellschaft. Funktionen, Konjunkturen und Transformationen traditioneller Brauchmuster“; Matthias Warstat: „Zum Verhältnis von Theater und Karneval. Handlungstheoretische Überlegungen“; Richard Mailänder: „Karneval in/trotz oder wegen der Kirche“; Wolfgang Oelsner: „Memento mori im Schunkelrhythmus. Abschieds- und Jenseitsvorstellungen im Karnevalslied“), „Formate“ (Melanie Fritsch: „‚Men scal nicht danzen in den vasten‘. Zur Rolle des Tanzes in Fastnachtsbräuchen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit“; Sabine Schroyen: „Spurensuche. Annäherungen an die Redoutenmusik des Düsseldorfer Künstlervereins ‚Malkasten‘“; Anja Dreschke: Obertöne und Unterschiede. Zu den Vereinshymnen der ‚Kölner Stämme‘“; Dominic Larue: „‚Janz ejal woher du och küss‘− Der Kölner Karneval und die musikalische Inszenierung eines identitätsstiftenden Raumes“), „Musikpraxen“ (Saskia-Marie Woyke: „Musiktheater, Musik und Stimmen im Karneval Roms und Venedigs jenseits des Dramma per musica“; Cornelia Bartsch: „O Ábre Alas! Chiquinha Gonzaga und der ‚brasilianische Karneval‘“; Günther Noll: „Zu den Funktionen von Lied und Singen im Kölner Karneval“; Astrid Reimers: „Kölner Karnevalslieder im Fokus sehr bekannter Beispiele“; Albert Richenhagen: „Zwischen Maskerade und Selbsterkenntnis − Zwei Lieder vom rechten Maß“) und „Oper“ (Christine Siegert: „‚Die Karawane zieht weiter‘ − Zur Oper im Karneval jenseits und diesseits der Alpen“; Sebastian Hauck: „Il Sant’Alessio. Theater und Karneval im Rom der Gegenreformation“; Kordula Knaus: „‚La stagion del carnovale tutto il mondo fa cambiar?‘ Karneval in den Buffo-Opern von Carlo Goldoni und Baldassare Galuppi“; Martina Grempler: „‚Ein Schauer geheimer Dämonie‘. Zur Darstellung der düsteren Seiten des Karnevals im Musiktheater“; Anno Mungen: „Karnevalistisches Musiktheater im Kölner Opernhaus: Zu Aufführungen der Cäcilia Wolkenburg, Kölner Männer-Gesangs-Verein“).
Auf zwei Beiträge soll näher eingegangen werden. Der Pädagoge und Kinder- und Jugendpsychotherapeut Wolfgang Oelsner umkreist den Umgang der Kölner Karnevalisten mit Tod und Jenseitsvorstellungen. Der Feiernde klammert die Ahnung der Endlichkeit nicht aus: „Auch und gerade der im Karneval feiernde Mensch – der Narr, der Jeck – weiß um die Begrenztheit seiner irdischen Existenz.“ So ist in einer Fülle von Liedern vom letzten Stündlein und vom Jenseits die Rede, von Liedern, „die Gedanken an Trauer, Verlust und Abschied nicht aussparen“. Kann Närrisches Lebenshilfe sein? Die besungenen närrischen Jenseitsvorstellungen erlauben „ein spielerisches Antizipieren des unausweichlichen Lebensabschieds. Sprachlich helfen sie, die Schreckensvorstellung zu enttabuisieren“ (72 f.).
Ein weiterer liedmusikalischer Aspekt sei hervorgehoben: integrative und pädagogische Funktionen Kölscher Karnevalslieder, auf die Günther Noll näher eingeht. Kölsche Lieder sind ein geeignetes Integrationsmedium: „Dies bestätigen Erfahrungen über die volle Integration von Kölner Bürgern mit Migrationshintergrund, die mit Hingabe Karneval feiern, als Karnevalisten vielfach aktiv sind und die kölschen Lieder über das ganze Jahr singen.“ Nicht zu unterschätzen ist für den Musikpädagogen Noll „die Langzeitwirkung des Lernens von Mundartliedern im Karneval“. Bei Singveranstaltungen mit an Demenz erkrankten Heimbewohner*innen in einem Kölner Seniorenheim hat er „vielfältige positive Reaktionen beim Singen von Liedern beobachten können, unter anderem auch bei einer Veranstaltung zur Weiberfastnacht. […] Dabei sind jene Lieder, deren Herkunft eindeutig im Kölner Karneval liegt und die den größten Anteil des hier gesungenen Repertoires bilden, von besonders stimulierender Wirkung.“ Sie lösen Freude, Zufriedenheit und Entspannung bei den Patient*innen aus (218 f.).
Eine kritische Anmerkung zu Gunther Hirschfelders ansonsten fundierten Darlegungen über die Genese des Karnevals und der Dynamik hin zu Formen und Funktionen des modernen Karnevals in der Event-Gesellschaft: Das Weiberregiment der rheinischen Weiberfastnacht sei „als Verballhornung der Unterdrückung der Frau“ zu interpretieren, es handele „sich kaum um einen emanzipatorischen Kulturzug“ (29). Dieser Deutungsansatz ist zu relativieren, denn die Frauenrolle im Karneval wandelt sich seit geraumer Zeit, Frauen emanzipieren sich im „Kampf der Geschlechter“.[1] Bei allen Karnevals-Formaten − als „Spektrum von Kulturmustern“ (31) − verweisen „Mitsingen, Mitklatschen, Mitrufen und der körperliche Einsatz der Teilnehmerinnen, die ja zugleich theatrale Attribute wie Kostümierung, Masken und Rollen aufgreifen und sich so selbst als Darstellerinnen inszenieren“ auf wesentliche „performative Anteile des Phänomens Karneval“ (14).
Zehn Jahre nach dem Symposium hat der titelgebende Dreiklang „Feiern – Singen − Schunkeln“ eine Zäsur erfahren. Die Covid-19-Pandemie 2020/21 erforderte erhebliche Schutzmaßnahmen, wovon gerade auch die präsent-performativen Karnevals-Formate betroffen waren. Die Karnevalist*innen wurden digital kreativ: „Aus der realen Welt, in der die Pandemie soziale Kontakte, gemeinsames Feiern, Tanzen und Singen verunmöglichte“, zogen die Jecken ins Digitale und Private, so Dagmar Hänel.[2] Karneval im Corona-Jahr 2021 zeigt Perspektiven auf, die womöglich dauerhaft alternative Dimensionen von Karnevalsformaten konstituieren können, denn: „Alles hät sing Zick“, „das enge Miteinander im Fastelovend bei Sitzungen, Partys und dem Rosenmontagszug“ ebenso „wie die kleinen, stillen Momente“. [3]  Dies bleibt seitens der Europäischen Ethnologie respektive Vergleichenden Kulturwissenschaft zu beobachten.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu Alois Döring: „Wider den Frauenausschluss vom Karnevalsgeschehen“. Eine Skizze zur Rolle der Frauen im rheinischen Karneval. In: Alltag im Rheinland 2012, S. 26–39; ders.: „Was Mann kann, kann Frau schon lange …“ Zur Rolle der Frauen im rheinischen Karneval. In: Julia Samp u. a. (Hg.): Pratschjeck op Fastelovvend. Karneval in Aachen und Umgebung. Aachen 2018, S. 84–101.

[2] Dagmar Hänel: Karnevalisten kreativ: Wie so manches unter Corona-Bedingungen doch geht, rheinische-landeskunde.lvr.de/de/institut/institut_corona/karneval_unter_corona/karneval_corona_beitrag.html [8.3.2021]. Vgl. auch die Beispiele digitaler Aktivitäten – Zoom-Schalten und andere Angebote − der großen rheinischen Karnevalsvereinigungen,  https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-karneval-fastnacht-100.html [8.3.2021].

[3] Siehe: Alles hät sing Zick, koelnerkarneval.de/session/ [8.3.2021].