Aktuelle Rezensionen
Elisabeth Fendl (Hg.)
Der Sudetendeutsche Tag. Zur demonstrativen Festkultur von Heimatvertriebenen
(Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa 21), Münster/New York 2019, Waxmann, 317 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4081-4
Rezensiert von Cornelia Eisler
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
An einer Reihe leerer, sonnenbeschienener Bierbänke, auf denen Ortsnamen in Frakturschrift eine räumliche Orientierung geben, sitzen zwei ältere Menschen, hinter denen sich im Schatten ein größerer Saal erahnen lässt. Das Titelbild des Tagungsbandes „Der Sudetendeutsche Tag“ scheint auf den ersten Blick nicht gerade der „demonstrativen Festkultur“ zu entsprechen, die sich mit dem Ereignis verbindet, das seit 1950 regelmäßig zu Pfingsten als politische Demonstration und gleichzeitig heimatliches Großtreffen organisiert wird. Mit dem Sudetendeutschen Tag verbinden sich vielmehr die von den Fotografien der zeitgenössischen Tages- und Heimatzeitungen geprägten Vorstellungen von Menschenmassen, Transparenten, Trachtenzügen und Fahnenschwenker*innen. Die Titelaufnahme, von der Herausgeberin des Bandes, Elisabeth Fendl, im Jahr 2009 erstellt, bricht mit dieser Vorannahme und kann somit als Sinnbild für das Anliegen der Publikation gelten, sich gerade nicht plakativ, sondern multiperspektivisch und differenziert mit einer über Jahrzehnte kontroversen politischen Großveranstaltung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus Böhmen und Mähren zu befassen. Einen umfassenden und sehr anschaulichen Beitrag bietet Fendl denn auch selbst. Basierend auf einer Fülle unterschiedlichster Quellenbestände, von Festprogrammen, Redemanuskripten, Dia-Aufnahmen aus Privatbesitz über Werbematerialien, Sonderpostkarten, Festabzeichen, Karikaturen bis hin zu eigenen Interviews und den Ergebnissen teilnehmender Beobachtung eröffnet sie ein Panorama vielfältiger Herangehensweisen und interessanter Forschungsmöglichkeiten. Dem entsprechend überwiegen auch die einzelnen qualitativ differierenden Beiträge des Bandes, die sich sowohl mit der Vorgeschichte, den Wandlungen, internationalen Wechselwirkungen und Vergleichsebenen als auch mit der Rezeption des Ereignisses befassen. Die Beiträge gehen auf eine Tagung am Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa in Freiburg zurück, die im Jahr 2016 den Sudetendeutschen Tag als Ausgangspunkt für eine Reihe an aufschlussreichen historischen wie volkskundlichen beziehungsweise kulturanthropologischen Fragestellungen in den Mittelpunkt stellte.
Werner Mezger leitet den Band mit einem allgemein gehaltenen Überblick zu Heimat und Festlichkeit ein. Der Auseinandersetzung mit diesen Begrifflichkeiten liegen die von ihm mehrfach angeführten Kulturdimensionen Zeit, Raum und Gesellschaft zugrunde. Leider deutet er theoretische Ansätze, wie etwa die funktionellen Erklärungsmodelle der Festtheorie lediglich an, ohne sie auf den Sudetendeutschen Tag konkret anzuwenden. Irritierend ist Mezgers Wortwahl, die offenbar unkritisch und ohne Distanzierung aus den Narrativen der Sudetendeutschen Landsmannschaft übernommen wird. Das „Sudetenland“, welches auf dem Sudetendeutschen Tag als Heimat „gefeiert“, erinnert und re-inszeniert würde, ist eine künstliche, wie Mezger selbst erwähnt, vor allem aber eine ideologische Bezeichnung, die stärker distanzierend hätte gekennzeichnet werden können.
Mit einer kritischen Diskussion des Kontinuitätsbegriffs führt Tobias Weger seinen Beitrag zu Vorgängerformen des Sudetendeutschen Tages ein, die sich argumentativ als lohnend erweist, da es vor dem Zweiten Weltkrieg wohl keine Veranstaltungen gegeben hat, die dem Sudetendeutschen Tag direkt entsprechen würden. Doch finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte durch vergleichbare Veranstaltungen, regionale und zeitliche Bezüge, die Verwendung völkisch-nationaler Symbolik und aufgrund sich entsprechender Tendenzen, wie etwa Staats- und Obrigkeitsfeindlichkeit sowie nationalideologische Ansprüche. Die personellen Kontinuitäten bei den Festorganisationen werden zwar angedeutet, aber weniger konkret ausgeführt. Dafür arbeitet Weger auf der Basis eines vielfältigen Quellenmaterials die mitunter übersehenen, kritischen Sichtweisen auf die „Festkultur“ der Sudetendeutschen Landsmannschaft und ihrer Vorgängervereine heraus.
Für Peter Gengler dient der Sudetendeutsche Tag lediglich als Ausgangspunkt für eine Darstellung der Verbindungen zwischen der Sudetendeutschen Landsmannschaft und einzelnen Abgeordneten des US-amerikanischen Kongresses. Hintergrund sind einerseits die Solidaritätsbekundungen des Kongresses gegenüber den Sudetendeutschen anlässlich ihrer jährlichen Großveranstaltung in den 1950er und 1960er Jahren, die offenbar erst aufgrund der Lobbyarbeit von landsmannschaftlichen Funktionären und ihrer transatlantischen Netzwerkinitiative zustande kamen. Andererseits handelt es sich um die Vorgaben, die den Sprecher*innen auf dem Sudetendeutschen Tag bezüglich ihrer öffentlichen Reden gemacht wurden, damit durch diese die oben genannten Kontakte vorwiegend zu Republikanern und die gewandelten politischen Ziele im „Kalten Krieg“ nicht gefährdet würden. Gengler zeichnet nach, wie die sudetendeutschen Verbände ihre Argumentationen an den außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik mit den USA ausrichteten, indem sie die Schuld für die Zwangsmigration nicht mehr den alliierten Besatzungsmächten zuwiesen, sondern eine antikommunistische beziehungsweise antibolschewistische Argumentation aufgriffen, in der die USA mehr oder weniger zum Verbündeten im „Kampf für die Heimat“ erklärt wurden.
Verbünde der Akademikerschaft, hauptsächlich Burschenschaften und hier vor allem die Altherrenverbände, nahmen den Sudetendeutschen Tag zum Anlass für eigene Treffen, wie Harald Lönnecker schreibt. Anhand der skizzierten Kurzbiografien von gleichgesinnten Mitgliedern der Ghibellinia Prag, die der Autor als national orientiert einschätzt und dem politischen rechten Spektrum zuordnet, erhält die Leserschaft einen Einblick in die Überlagerungen von Mitgliedschaften und ihre akademischen Vernetzungen. Lönnecker geht in seinem Beitrag allgemein auf die Geschichte der Studentenverbindungen und auf ihre engen Verbindungen zu österreichischen Pendants ein; die Darstellung bleibt jedoch eher dokumentarisch und fokussiert auf die 1950er Jahre. Wie Fendl in ihrem Beitrag illustriert, bildeten Burschenschafter auch noch im Jahr 2009 ein Element des demonstrativen Parts der Veranstaltung in Augsburg (Abb. 16).
Ebenfalls akteursorientiert und besonders aufschlussreich ist der Ansatz von Sarah Scholl-Schneider und Johanne Lefeldt, die im Rahmen zweier Oral History Projekte narrative biografische Interviews geführt haben und diese hinsichtlich der Erzählungen über den Sudetendeutschen Tag auswerten. Dabei konnten sie eine spannende Konstellation nutzen, indem beispielhaft die Wahrnehmungen der Organisator*innen denen der Gäste gegenüberstellt wurden. Die Erkenntnisse aus der gemeinsamen Analyse zeigen, wie Stereotype fortgeführt wurden, etwa hinsichtlich des Bildes der „Sudetendeutschen“ als imaginiertem Kollektiv („sparsame Volksgruppe“, 189), wie die Großveranstaltung selbst zur Generationenbildung dieser Gruppen beitrug und wie kommunikative und kulturelle Gedächtniselemente (re)produziert wurden, wobei ein Ende dieser Form des Erinnerns und Politisierens absehbar sei.
Lionel Picard befasst sich mit der Rolle des Sudetendeutschen Tages als einem Ereignis verstärkter medialer Aufmerksamkeit für die Anliegen sowohl der Vertriebenenvertreter*innen als auch der Bundes- und Landespolitiker*innen. Er untersucht hierbei die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und der überregionalen Presse beziehungsweise den Medienvertreter*innen in Deutschland und geht auf die medialen Strategien der Sudetendeutschen Landsmannschaft zur Imagebildung ein.
Einen solchen direkten Einfluss konnten die Funktionäre kaum auf die staatliche Presse in der ČSSR, der ČSFR und der ČR nehmen, die Markéta Barth hinsichtlich der Berichterstattung zum Sudetendeutschen Tag und chronologisch in ihren zentralen Aussagen nachzeichnet. Ideologisch geprägte Reaktionen in der kommunistischen Zeit werden ab 1990 von einer komplexeren medialen Rezeption abgelöst, so Barth. Allerdings hätte ihr Artikel von einer stärker kulturanalytischen Herangehensweise profitieren können.
Zwei weitere Beiträge führen über die Ländergrenzen hinaus und zeigen aufgrund ihrer Berücksichtigung von Veranstaltungen „anderer“ Sudetendeutscher unter anderem, dass der Sudetendeutsche Tag in seiner Form, seinen Inhalten und Zielen bestimmte Gruppen nicht repräsentiert (hat). Heinke Kalinke widmet sich den Sudetentreffen der Sozialdemokraten aus Böhmen und Mähren in Kanada, die nach dem Münchner Abkommen und der Besetzung weiter Gebiete der Tschechoslowakei 1938/39 geflüchtet waren und deren Fluchtursache auf das nationalsozialistische Regime zurückzuführen war. Aspekte wie diese wurden schon im Vorfeld der offiziellen Sudetendeutschen Tage durch die auf „einheitliche Narrative“ abzielende Sudetendeutsche Landsmannschaft, so Fendl ( 45), unterbunden. Die Zusammenkünfte in Kanada in den 1950er und 1960er Jahren weisen signifikante ideologische Unterschiede auf und widersprechen damit größtenteils den Narrativen des Sudetendeutschen Tages. Jana Nosková und Sandra Kreisslová nehmen die Treffen der deutschen Minderheiten in Tschechien nach 1990 in den Blick und erkennen Parallelen und Übernahmen im Programm, aber auch ganz eigene Schwierigkeiten bei der „Erhaltung“ und Präsentation einer deutschsprachigen Gruppe gegenüber den Minderheitenvorstellungen und Erwartungen der verschiedenen Geldgeber, auch aus Deutschland. Trotz interner Probleme soll die Veranstaltung die Darstellung einer erfolgreichen, Vielfalt repräsentierenden und „lebendigen“ Minderheitengruppe vermitteln, was den der Elite zugeschriebenen Organisator*innen zunehmend Schwierigkeiten bereitet.
Die Initiative, mit dieser Publikation ein Thema aufzugreifen, das gerade wegen seiner politischen Implikationen wohl eher gemieden wird, ist bemerkenswert und zeigt, wie dieser Forschungsgegenstand dennoch sinnvoll und produktiv abgesteckt werden kann. Leider bleibt der Genderaspekt meist ausgespart, zumal die meisten Beiträge das generische Maskulinum verwenden. In ihrer Gesamtheit verweisen sie jedoch auf die unbequemen Kontinuitäten ebenso wie auf die Brüche, die Ambivalenzen, Paradoxien und Gleichzeitigkeiten im Zusammenhang mit einer „Ritualveranstaltung“ wie dem Sudetendeutschen Tag, wodurch der Band vielseitige Anregungen für weitere Forschungsvorhaben bietet.