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Heritage Futures. Comparative Approaches to Natural and Cultural Heritage Practices
London 2020, UCL Press, 529 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-1-78735-601-6
Rezensiert von Sophie Elpers
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021
„Comparatively explore the ways in which heritage practices of different kinds assemble and resource different kinds of futures“ und schließlich „explore […] how those different practices of assembling and caring for the future might be creatively redeployed to generate innovation, foster resilience and encourage sustainability“, waren die Ziele des vierjährigen Forschungsprojekts „Heritage Futures“ (2015–2019), an dem ein interdisziplinäres Konsortium aus 16 Wissenschaftler*innen und 25 Partnerorganisationen innerhalb und außerhalb des Natur- und Kulturerbe-Sektors beteiligt war. Die vorliegende Publikation fasst nun die Ergebnisse zusammen. Zugrunde liegt das Verständnis von Erbe als „future making practice“. Wie aber sowohl im Bereich des Naturerbes als auch im Bereich des Kulturerbes Zukunft verstanden wird, welche Beziehungen zwischen Erbe-Praktiken und Zukunftsvorstellungen bestehen und was Natur- und Kulturerbe voneinander lernen beziehungsweise wie sie zusammen gedacht und praktiziert werden können, ist bisher nicht ausführlicher untersucht worden. „Heritage Futures“ greift diese Lücke auf. Und nicht nur Natur- und Kulturerbe-Praktiken werden vergleichend betrachtet, sondern der Blick geht auch immer wieder auf den komplementären, aber ebenso als „future making“ zu verstehenden Umgang mit Müll, insbesondere Atommüll, um den sich Menschen sorgfältig kümmern und für den sie Depots schaffen.
Die Publikation gliedert sich in zwei einleitende Kapitel, die den konzeptuellen und theoretischen sowie methodologischen Rahmen beschreiben, und die vier Themenfelder Diversität, Überfluss, Unsicherheit und Transformation. Eine die Forschungsergebnisse zusammenbringende Diskussion schließt die Publikation ab.
Das theoretische Aufschlüsseln von Erbe und Erbe-Techniken ebenso wie der kritische Blick auf das Verständnis von Zukunft in den ersten beiden Kapiteln zeigen die Komplexität des Themas „Heritage Futures“ auf. Es werden sowohl die bürokratischen Prozesse von Kultur- und Naturerbe als auch ihre politischen Kapazitäten sowie normalisierenden und universalisierenden Tendenzen angesprochen. Zukunft wird als imaginiertes Ziel verstanden, für das das Erbe bewahrt wird, und zugleich als etwas, das auf gegenwärtigen Erbe-Praktiken aufgebaut werden kann. Dabei wird bevorzugt von Zukünften („futures“) im Plural gesprochen, um anzudeuten, dass verschiedene Erbe-Praktiken verschiedene Arten von Zukunft im Blick haben beziehungsweise entstehen lassen.
Die Methoden, diese Praktiken und Zukünfte zu erforschen und miteinander sprechen zu lassen, waren ethnografisch, wobei Erbe-Expert*innen (auch) aus verschiedensten praktischen Feldern einbezogen wurden und „co-created knowledge“ in Bezug auf eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis der genutzten Konzepte generiert werden konnte.
Das Kreisen um die Erbe-Praktiken Kategorisieren, Kuratieren, Konservieren und Kommunizieren machte eine breite Wahl an empirischen Fallstudien aus unterschiedlichen Domänen möglich, die – kreativ und klug zueinander gebracht – zur Bearbeitung von vier komplexen Fragen dienten: 1) Welche Arten von Zukunft werden durch die Erhaltung biologischer, kultureller und linguistischer Diversität realisiert und was können diese Felder voneinander lernen? 2) Mit Blick auf den Überfluss an Dingen, die für den Massenkonsum produziert werden: Was wird für die Zukunft bewahrt? 3) Welche Chancen bietet Unsicherheit in Bezug auf die langfristige Zukunft für Erbe- und Konservierungs-Praktiken? 4) Welche „future-making“-Prozesse und -Praktiken werden in Erbe-Landschaften, die Veränderung und Transformation ausgesetzt sind, eingesetzt?
Im ersten Teil „Diversität“ wird deren Rolle als Konzept für die Mobilisierung von Erhaltungspraktiken in unterschiedlichen Erbe-Domänen untersucht. Im Fokus stehen die größte Saatgutbank der Welt „Svalbard Global Seed Vault“, das „Frozen Ark Project“, das genetisches Material gefährdeter wilder Arten bewahrt, das Herbarium von „Kew Gardens“ in London und das linguistische „Endangered Languages Documentation Project“. Diversität wird zwar unterschiedlich aufgefasst, es geht aber immer um ein normatives Verständnis von Diversität vor dem Hintergrund einer unsicheren Zukunft. Das Sammeln von Diversität wird häufig als Arbeit begriffen, die gegen Wandel und Verlust eingesetzt wird, de facto ermutigt sie aber zum Wandel.
Im Teil „Überfluss“ wird der Umgang mit Überfluss im Museum, insbesondere in Museumssammlungen zu Alltagskultur, mit dem Umgang mit Überfluss in Haushalten verglichen. Die Strategien, Methoden und Praktiken des Sammelns und Entsammelns zeigen verschiedene Bewertungsmuster auf, von Erinnerungs- bis ästhetischen und finanziellen Werten. In beiden Domänen, Museum und Zuhause, sind Situationen der Unsicherheit zwischen Sammeln und Entsammeln zu beobachten, die durch sogenannte Schicksalsschränke (bildlich und figürlich, „cupboards of doom“) angegangen werden: Objekte, bei denen unsicher ist, ob sie bewahrt werden sollen oder nicht, werden in diese „Schicksalsschränke“ gegeben und die Entscheidung, was mit ihnen geschehen soll, wird verschoben.
Im dritten Teil „Unsicherheit“ wird mit Blick auf verschiedene Erbe-Domänen der Frage nachgegangen, wie Unsicherheit gemanagt wird. Genauer betrachtet werden die „Swedish Nuclear Fuel and Waste Managemant Company“, verantwortlich für die Verwaltung des schwedischen Nuklearabfalls, das „One Earth: New Horizons Message“ Programm, das Berichte für außerirdisches Leben sowie für Menschen in der Zukunft sammelt, das „Memory of Mankind“ Projekt, bei dem in einer „Zeitkapsel“ Wissen auf Datenträgern in Form keramischer Tafeln eingelagert wird und für eine Million Jahre erhalten bleiben soll, sowie UNESCO-Welterbestätten, und zwar insbesondere der Lake District in Cumbria im Vereinigten Königreich und die dortige Schafhaltung. In allen betrachteten Domänen will man dem drohenden Verlust entgegenwirken und Unsicherheit wird als ultimatives Problem verstanden. Sie wird angegangen mit systematischer Planung, der Anerkennung relevanter Politiken, der Überwindung von Grenzen, die Menschen voneinander trennen, und breiter gesellschaftlicher Partizipation. Nachhaltigkeit entsteht allerdings erst, so ein Ergebnis der Beiträge, wenn man sich an Transformation und Verlust anpasst.
Mit dem Aspekt der „Transformation“ beschäftigt sich der vierte Teil der Publikation. Betrachtet wird der Umgang mit drei teilweise bebauten Landschaften, die sich in einem Prozess von Renaturierung und Wiederansiedlung befinden beziehungsweise die sich durch Veränderungen der Küste wandeln: ein post-montanindustrielles Gebiet in der Mitte von Cornwall (UK), ein post-agrarisches Gebiet in Portugal und Orford Ness, Suffolk (UK), ein post-militärisches Gebiet an der Küste. An diesen Orten wird versucht, Wandel als einen konstanten Link zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und die dynamische und fluide Gestalt der Orte zu zelebrieren. Die Beiträge in diesem Teil des Buches identifizieren zwei Herausforderungen, in denen zugleich Lösungen dafür liegen, wie Transformation angegangen werden kann: das Arbeiten mit offenen und ungewissen Zeitkonzepten und der Umgang mit Natur-Kultur-Verflechtungen.
Es ist unmöglich, hier eine hinreichende Zusammenfassung der vier reichen und eindrucksvollen Großkapitel der Publikation zu geben, die eine Vielfalt von Erbe-Praktiken dokumentieren, aus denen unterschiedliche Zukünfte hervorgehen. Alle fordern sie eine kritische Reflexion darüber, welche Erbe-Praktiken im Hinblick auf Wandel und Unsicherheit über die Zukunft angewandt werden, und sie fordern auf, Instabilität, Veränderungen und Verlust anzunehmen und die damit verbundenen kreativen Potentiale für die Entwicklung von Erbe-Erhaltungspraktiken zu nutzen. Dazu gehören auch Strategien für ein gezieltes Management von Verlust, die, obwohl sie stetig mehr Aufmerksamkeit in den Erbe-Sektoren erfahren, noch unterbelichtet sind. Und schließlich ist die Publikation eine Aufforderung und Inspiration, die Grenzen zwischen den Erbe-Sektoren Natur- und Kulturerbe, aber etwa auch zwischen dem materiellen und immateriellen Kulturerbe aufzuweichen, Erfahrungen zusammen zu bringen, voneinander zu lernen und Erbe gemeinsam zu (über)denken.
Vorbildlich ist auch das methodische Vorgehen, wissenschaftliches und praktisches Wissen zu verbinden. Darum dürfen hier die Berichte über drei „Cross-theme knowledge-exchange events“ nicht unerwähnt bleiben, die über die Publikation verteilt sind. Forscher*innen und Erbe-Expert*innen kamen für mehrtägige Workshops und Site-Tours zusammen und der Austausch unter ihnen, von dem wir nicht nur über geschriebene Texte, sondern auch durch Fotodokumentationen einen Eindruck bekommen, führte dazu, dass Erbe zunehmend als „making futures“ und weniger als „conserving pasts“ verstanden wurde. Diese „futures“ unterscheiden sich in den verschiedenen Feldern maßgeblich aufgrund unterschiedlicher Klassifikationssysteme. Das Verstehen dieses Zusammenhangs hilft, wenn Entscheidungen über Erbe getroffen werden, dem eine Zukunft beschert werden soll.
Die theoretisch fundierte Publikation bietet über die komparativen Analysen reichen ethnografischen Materials nicht nur Erkenntnisse, die für den Bereich der kritischen Erbe-Studien hohe Relevanz haben, sondern sie ist insbesondere auch für Erbe-Spezialist*innen in der Praxis von großer Bedeutung, weil sie ganz grundsätzliche Fragen stellt und zugleich Reflexions- und Lösungsansätze anbietet, die im Hinblick auf unsere mehr denn je unsichere Zukunft dringlich sind. Wer mehr erfahren möchte, sollte auch die Webseite heritage-futures.org besuchen, die einen großen Fundus an Feldberichten, Berichten von Interventionen, Filmen, aufgenommenen Vorträgen und Links zu den zahlreichen Publikationen des Projekts bietet.