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Thomas Bienert

Aus den Augen, aus dem Sinn? Verlustkatalog Thüringer Schlösser, Guts- und Herrenhäuser nach Befehl Nr. 209 der Sowjetischen Militäradministration 1946 bis 1949 sowie in der Zeit der DDR und der Gegenwart bis 2015

(Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie NF 50), Altenburg 2019, E. Reinhold, 248 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95755-026-2


Rezensiert von Klaus Freckmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2021

Man kennt Thüringen als eine Region, die zur Zeit des Alten Reichs aus einer Vielzahl und noch bis 1918 aus etlichen Fürstentümern bestand. Zwar gelten manche der früheren Residenzen, etwa Weimar oder Gotha, im allgemeinen Bewusstsein als bauliche Glanzlichter, doch vergisst man darüber leicht die kleineren Schlösser und die sonstigen Adelssitze, die, wie Thüringens Landeskonservator Holger Reinhardt in seiner Einleitung zu dem Band feststellt, in der Architekturgeschichte häufig ein „marginalisiertes Forschungsfeld“ sind. Dabei ist es von Interesse, ob die erhaltenen Herrschaftsbauten und feudalen Domizile vergangener Jahrhunderte auch heute noch ein Bild der einstigen Kulturlandschaft vermitteln, welche Anlagen nicht mehr existieren und was zu deren Verlust führte.
Thomas Bienert gibt im Hauptbeitrag – „Verschwundene Schlösser und Herrenhäuser in Thüringen“ – einen Überblick über die bisherige Auswertung des Archivbestands sowie über die bauhistorischen Kenntnisse und kommt zum Schluss, dass das Thema „bislang nicht Gegenstand übergreifender Forschungen“ war (20). Diese Lücke spiegelt, wenigstens zum Teil, auch das Verhältnis und Vorurteil der DDR gegenüber den einstigen Feudalbauten wider. Erst nach 1989 ist das Interesse an deren Vergangenheit gewachsen und sie werden zunehmend im Zusammenhang mit der Regionalgeschichte betrachtet. Doch zunächst zu den Jahren des Zweiten Weltkriegs: Gemessen an späteren Zerstörungen, wird der damalige Verlust an Schlössern als nicht sehr hoch eingeschätzt, so die Aussage der Denkmalschützer (12). [1] Thüringen hat in der Tat, wie es historische Untersuchungen belegen, die Kriegszeit einigermaßen glimpflich überstanden.  Nichtsdestotrotz waren einige Schlösser von Bombardements empfindlich getroffen worden und blieben mehr oder weniger zerstört zurück. Das bekannteste Opfer eines derartigen Angriffs ist sicherlich Schloss Oberstein in Gera, dessen ausgebrannte Ruine 1962 gesprengt wurde. Erhalten ist der Bergfried. Aufgrund des „Potsdamer Abkommens“ vom Juli/August 1945 wurde Thüringen Teil der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die Aufgabe, das Land politisch und verwaltungsmäßig neu zu ordnen, oblag der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Eine ihrer wichtigen Maßnahmen war die Bodenreform – einerseits einschneidend für die Eigentümer großer Ländereien, die auf 100 ha Betriebsfläche reduziert wurden, andererseits eine soziale Aktion, weil die kleinbäuerlichen Familien nun jeweils bis zu 10 ha an Eigenland bewirtschaften konnten. Am Rande sei angemerkt, dass es Bestrebungen um eine Bodenreform auch in den westlichen Besatzungszonen gab. Solche Pläne wurden aber in der Bundesrepublik nicht weiter betrieben. Dass die Enteignung und Vertreibung der Großgrundbesitzer oder deren Flucht aus der SBZ für den Erhalt der einstigen Herrschaftsbauten negative Folgen hatte, liegt auf der Hand. Erschwerend kam ein anderer Umstand hinzu: Es bestand eine große Versorgungsnotlage, und zwar nicht nur an Lebensmitteln, sondern etwa auch an Baumaterialien, welche die Neubauern für den Ausbau ihrer Kleinstbetriebe benötigten. Die Rede ist von 3 000 Neubauten. Um dem Engpass an Baustoffen abzuhelfen, erließ die SMAD den Befehl Nr. 209, der unter anderem den Abriss früherer Adelssitze zur Gewinnung von Steinen und Holz genehmigte. Dieser Erlass sollte für manches Schloss und für etliche Herrenhäuser das baldige Ende bedeuten. Laut der Recherche von Thomas Bienert wurden in den Jahren, in denen die SMAD für Thüringen verantwortlich war, das heißt bis zur Gründung der DDR, 84 Schlösser und andere Adelssitze abgebrochen (vgl. die Karte auf S. 40–41). Hat man diese Abrisse vor Augen, so ist man leicht dazu bereit, der russischen Verwaltung Zerstörungswut zu attestieren. Ein solches Verdikt würde aber der historischen Realität nicht gerecht werden. Denn es gab auch den Befehl Nr. 44, der dazu verhalf, herrschaftliche Bauten in soziale Einrichtungen umzuwandeln, in Sitze von Gemeindeverwaltungen, in Altersheime und Ähnliches. Zudem wurden die damaligen Behörden dazu aufgerufen, sich für den Erhalt von kulturgeschichtlich anerkannten Gebäuden einzusetzen. „Junkerland in Bauernhand“ war auch in der jungen DDR eine gängige Parole. Die Großbetriebe waren zerschlagen, und die neuen Kleinbauernstellen erwiesen sich als unwirtschaftlich. Als einen Ausweg aus dieser Misere sah man die ab 1952 geschaffenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) an. Sie hatten für die ehemaligen Gutshäuser nur dann Verwendung, wenn diese den erwähnten gesellschaftlichen Aufgaben dienten. Die Abbrüche wurden jetzt weniger mit dem Argument der Baustoffversorgung als mit dem der Verwahrlosung fortgesetzt; denn manches Objekt stellte aufgrund des fehlenden oder unzureichenden Unterhalts einen Schandfleck für seine Umgebung dar. Die von der Denkmalpflege vorgebrachten Einwände gegen derartige Abrisse blieben oft ungehört. Die örtliche Kungelei und das Unverständnis der lokalen Nomenklatura waren zudem starke Faktoren. Nach der Vereinigung von BRD und DDR konnten wohl manche der bis dahin verkommenen Schlösser und Herrenhäuser saniert werden, manche fielen aber auch der Spekulation und der finanziellen Inkompetenz anheim, überschätzte doch der eine oder andere Investor oder die eine oder andere Anlegerin seine/ihre Möglichkeiten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, wie man auch jüngeren Thüringer Presseberichten entnehmen kann. [2] Thomas Bienert hat seinen Ausführungen einige Kataloge über die Abbrüche beziehungsweise den Erhalt von Schlössern und Adelssitzen beigefügt. Besonders aufschlussreich ist die Aufstellung, die sich auf den SMAD-Befehl Nr. 209 gründet und darlegt, dass etliche Bauten, die für den Abriss vorgesehen waren, erhalten geblieben sind. Dieser Fall zeigt, dass man behördliche Angaben auch auf die Richtigkeit ihrer Aussagen überprüfen sollte. Es ist anzuerkennen, dass sich der Autor bei diesen tabellarischen Darstellungen nicht mit den baulichen Verhältnissen zu Zeiten der SBZ und der DDR begnügt, sondern auch die Abbruchsituation zwischen 1990 und 2015 vor Augen führt.
Zwei Beiträge erweitern Bienerts Themenkomplex: Zum einen stellt Sabine Ortmann „Schicksale ehemaliger Herrenhäuser im Eichsfeld nach dem Zweiten Weltkrieg“ vor, zum anderen lenkt Carsten Liesenberg den Blick auf „Neubauernhöfe anstelle einstiger Gutsanlagen – Beispiele aus Ostthüringen“. Die östlichen Landschaften des Eichsfelds, das Obereichsfeld mit den Kreisen Heiligenstadt und Worbis, wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Teil der SBZ und befanden sich damit auch im Geltungsbereich des SMAD-Befehls Nr. 209. Nach den Enteignungen und Zerstörungen in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kam es ab 1961 zu einer zweiten Welle dieser Art (224). Die innerdeutsche Grenze, deren Vorstufen sich schon in den frühen 1950er Jahren angekündigt hatten, war endgültig Realität geworden, und Bauten, die aus DDR-Sicht zu nahe an dieser Linie lagen, mussten weichen (vgl. Karte auf S. 192–193). Im Eichsfeldischen traf es damals besonders viele ehemalige Herrensitze. Zu erinnern ist auch an die in der Grenzzone gelegenen Dörfer, die in den 1960er und 1970er Jahren von der Bevölkerung aufgegeben werden mussten und wüst fielen. Aufschlussreich ist in manchen Fällen der Schriftverkehr zwischen den verschiedenen DDR-Behörden. Das Institut für Denkmalpflege, Außenstelle Erfurt, hatte sich intensiv für den Erhalt eines ehemaligen Ritterguts mit markanten Fachwerkbauten im Landkreis Heiligenstadt eingesetzt. Der Rat des Kreises ignorierte indes diese Bemühungen und begründete seine Haltung gegenüber dem Ministerium für Kultur, das den Denkmalpflegern anschließend mitteilte: „Der eingetretene Bauzustand […], die notwendigen materiellen und finanziellen Aufwendungen zur Instandsetzung und Rekonstruktion […] rechtfertigen die Abrißarbeiten des örtlichen Rates und des Rechtträgers.“ (229) Das war im März 1989. Carsten Liesenberg stellt in seinem Beitrag über die Neubauernhöfe ein zwar bekanntes, aber immer noch wenig beachtetes bauhistorisches Kapitel vor. [3]  Anhand von Ortsplänen und weiterem Archivmaterial, das sich im Thüringischen Staatsarchiv Greiz befindet, und aufgrund von Ortsbegehungen führt er zu Bauten hin, die ab den späten 1940er Jahren auf dem Grund der ehemaligen Güter entstanden sind.
Zum Schluss noch ein Rückblick auf den Titel des Bandes, dem mit einem Fragezeichen versehenen Zitat „Aus den Augen, aus dem Sinn?“. Leider muss man dem Landeskonservator und dem Hauptautor dieser Publikation beipflichten, dass es sich bei der hier vorgestellten Baugeschichte um ein „marginalisiertes Forschungsfeld“ handelt. Es bedarf weiterer Aufmerksamkeit, auch wenn die Dokumentationslage oft schwierig ist. Das Verdienst des Autorenteams ist sowohl aus bauhistorischer Sicht als auch im Sinn der Erinnerungskultur zu würdigen.

Anmerkungen

[1] Volker Bode: Kriegszerstörungen 1939–1945 in Städten der Bundesrepublik Deutschland. Inhalt und Probleme bei der Erstellung einer thematischen Karte (mit farbiger Kartenbeilage). In: Europa Regional 3 (1995), S. 9–20. Vgl. die entsprechende Karte der Zerstörungen. Digital Open Access unter: www.ssoar.info/ssoar/handle/document/48554 [28.5.2022].

[2] Sybille Göbel: Ohne Not ausgelöscht – warum Thüringens Baudenkmäler verschwinden. In: Thüringer Allgemeine, 3. Februar 2018.

[3] Andreas Dix: „Freies Land“. Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und frühen DDR 1945–1955. Köln/Weimar/Wien 2002.