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Judith Eckert/Diana Cichecki

Mit „gescheiterten“ Interviews arbeiten. Impulse für eine reflexiv-interaktionistische Interviewforschung

Weinheim/Basel 2020, Beltz Juventa, 184 Seiten, ISBN 978-3-7799-3900-9


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Es gehört viel Mut dazu, als Nachwuchswissenschaftlerinnen ein Thema anzugehen, das selbstkritisch auf Interviews blickt, die „gescheitert“ sind, also anders verlaufen, als man es sich erhofft hat. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Utz Jeggle war einer der ersten, der schon 1984 auf die „Verständigungsschwierigkeiten im Feld“ hingewiesen hatte. [1] Es handelt sich hierbei um eine Schilderung von Missverständnissen und Fehleinschätzungen mit hohem Erkenntniswert, in der sich Jeggle eher als irrend, unwissend und ungeschickt darstellte, letztlich aber, durch den hohen Reflexionsgrad, als lernbereit und um Verstehen ringend.
Seit 1984 haben sich zahlreiche Forscher*innen des Themas „Scheitern“ beim Führen und Auswerten von Interviews angenommen, besonders aus der Soziologie. Dies geschah eher in Aufsätzen oder in Randbemerkungen von Monografien. Die Soziologinnen Judith Eckert (Universität Duisburg-Essen) und Diana Cichecki (Universität Freiburg) haben jetzt ein Buch vorgelegt, das dem Thema des „Scheiterns“ in Interviews grundlegend und methodologisch nachgeht. Der Band beruht auf einschlägigen, „normalen“, in der Forschung jedoch „vernachlässigten“ Erfahrungen der beiden Autorinnen, die sie in ihren Dissertationsprojekten gemacht haben (7). Das Ziel ihres Buches ist es, aus diesen Erfahrungen des „Scheiterns“ „Impulse für eine reflexiv-interaktionistische Interviewforschung“ zu geben, wie es im Untertitel des Bandes heißt. So ist ein methodisches Handbuch entstanden, das sich sehen lassen kann.
Nach einführenden Bemerkungen und exaktem Verweis auf den aktuellen (v. a. englischsprachigen) Forschungsstand geht es in einer grundlagentheoretischen Rahmung um „Scheitern“ an sich. Darunter verstehen die Autorinnen, dass „die Forschung nicht wie geplant und erhofft verläuft aufgrund von Erfahrungen und Ereignissen, die als negativ bewertet werden“ (15). Demgegenüber setzen Eckert und Cichecki auf ein Konzept, das den Blick auf das „Gescheiterte“ und die „Scheiternden“ richtet. Damit revidieren sie das Dogma des „Gelingen Müssens“, das eine idealtypische Vorgehensweise mit impliziert sowie die Planbarkeit von Interviews. Vor allem aber würden mit dem Fokus auf ALLE, das heißt auch die „gescheiterten“ Daten, die Grundprinzipien qualitativer Forschung ‒ Offenheit, Kommunikation, Subjektivität und Reflexivität ‒ überhaupt erst eingelöst.
Zwei methodologische Grundlagen rahmen den Band: der US-amerikanische Pragmatismus, bei dem „Handlungsprobleme und -krisen der zentrale und einzige Ursprung neuer Erkenntnis“ (28) sind, sowie der symbolische Interaktionismus, bei dem Bedeutung immer wieder neu zwischen Menschen ausgehandelt wird. „Wir schlagen deswegen vor“, so argumentieren die beiden Autorinnen, „die interaktionsanalytische Beschäftigung mit den Interviewdaten reflexiv zu wenden, d.h. […] mit Blick auf das sich darin dokumentierende Wissen bzw. die Vorannahmen“ (50). Folgerichtig fragen Eckert und Cichecki im nächsten Kapitel nach den „irritierten Hintergrunderwartungen“ (52) der Forschenden und machen in ihnen einen der Hauptgründe für das Nichtgelingen aus. Als problematisch identifizieren sie unter anderem folgende (oft vorgegebene oder festgefahrene) Vorstellungen: vom „methodengetreuen Ablauf der Forschungsbegegnung“ (54); von einer großen „Verbalisierung und Erzählung durch die Interviewpartner*innen“ (55); von der Idee, Interviews steuern zu müssen; von dem Konzept, ähnliche Kommunikationsregeln zu teilen; von Machtgleichheit, die sich aber als das Gegenteil herausstelle und unwissentlich reproduziert werde, anstatt aufgelöst zu werden.
Ein weiterer Bereich dieses dritten Kapitels ist den „Arten des Erkenntnisgewinns“ (84) gewidmet. Wofür, so fragen die Autorinnen, lohnt es sich zu „scheitern“? Sie geben unter anderem folgende Antworten: „Gescheiterte“ Interviews können dazu anregen, „die bisher scheinbar selbstverständliche Art und Weise des Forschens in Frage zu stellen und dadurch einen Prozess der methodologischen und epistemologischen Selbstreflexion und ggf. Neupositionierung zu initiieren“ (84). Sie seien ferner in der Lage, das Verständnis davon, was relevante Daten sind, zu klären, den Stellenwert von Interviews für die Beforschten zu erkennen, auch „Einsichten in andere Kommunikationsstile und Erzählgenres“ (89) sowie neue „Erkenntnisse bezüglich des Forschungsgegenstands“ (92) zu gewinnen. Außerdem könnten, oft zunächst ausgesonderte oder gar nicht beachtete Daten ganz allgemein dazu dienen, sich methodisch und hinsichtlich forschungsethischer Aspekte weiter zu entwickeln. Das Plädoyer „Störungen ernst [zu] nehmen“ (106), um der zentralen Forderung qualitativer Forschung nach Offenheit gerecht zu werden, schließt diesen Buchteil ab.
Während das erste Kapitel relativ theoretisch angelegt ist und nur punktuell mit Beispielen durchsetzt wurde – gestalterisch durch graue Kästen gekennzeichnet –, bereichern in den beiden folgenden Teilen die Passagen aus den eigenen Forschungen der Autor*innen und weiterer ca. 40 Forscher*innen die Argumentation. So wird überzeugend vorgeführt, „dass die Arbeit mit ‚gescheiterten‘ Interviews im Rahmen eines iterativ-zyklischen Forschungsprozesses nicht nur für die Neu- oder Feinjustierung der Methodik, sondern beispielsweise auch für die Klärung und Weiterentwicklung epistemologischer und methodologischer Positionen oder für eine tiefere Durchdringung des Forschungsgegenstandes fruchtbar ist“ (52).
Welche methodischen Strategien gibt es, um falsche Erwartungen an die Forschung und damit auch das „Scheitern“ zu vermeiden? Was hilft Fremdverstehen zu gewährleisten, ebenso wie das Selbstverstehen? Diese Fragen beantworten Eckert und Cichecki im vierten Kapitel mit unter anderem folgenden Thesen, die sie jeweils breit mit Beispielen belegen: Es müssten vorbehaltlos alle Interviewdaten genutzt werden, ebenso die Feldnotizen und andere Aufzeichnungen; die Auswertung müsse sequenz- und feinanalytisch erfolgen; zu den verbalen Daten müssten Beobachtungs- und Kontextdaten herangezogen werden; Prä- und Postskripte seien anzufertigen, es empfehle sich – auch als Korrektiv bei eigenen Vorannahmen – in der Gruppe (z. B. einer ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt) zu arbeiten; Interviewpartner*innen seien bei Deutungen einzubeziehen; diskursive und konfrontative Interviewtechniken böten eine weitere Dimension des Erkenntnisgewinns. Insgesamt gelte, jeweils spezifische Vorgehensweisen je nach Thema und Interviewpartner*innen zu entwickeln – ein Plädoyer für Stephanie Bethmanns „Methodenpolygamie“ (108). „Bekannte Methoden können angepasst, bislang unbekannte entdeckt und neu erfunden werden. Ziel ist es stets, das Offenheitspostulat qualitativer Forschung methodisch zu realisieren.“ (154)
Diese Offenheit gelte es, so die Autorinnen, auch verstärkt in die Methodenvermittlung, das heißt in das Studium sowie in die Interviewforschung und damit in Arbeiten und Lehrbücher einzubringen: Unvorhersehbarkeit und Flexibilität seien die neuen Paradigmen und nicht das in jeder Situation anwendbare Schema. Wenn „Scheitern“ wahrgenommen und als der Forschung inhärent angesehen würde, könnte das helfen, nicht tautologisch zu forschen, also nicht „herrschende Sichtweisen und damit soziale Ungleichheit zu reproduzieren“ (157). Die forschungspraktischen Implikationen wären das Eine; hinzu käme die Reflexion über (andere als die eigenen) Kommunikationsweisen sowie eine Grundsatzdebatte über das, was Daten sind: nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern auch Schweigen und parasprachliche Elemente. „‚Karge‘“ (163) Interviews, wie sie am Ende des Bandes heißen, offenbarten vieles und böten eine probate Grundlage, um systematische Interviewforschung zu betreiben: „Stellt vielleicht weniger die Frage-Antwort-Sequenz, sondern vielmehr die von Forscher*innen geleistete ‚Beziehungsarbeit‘ (Schröer) das konstitutive Merkmal von Interviews dar?“ (164).
Die Frage, ob sich die Lektüre dieses Bandes lohnt, lässt sich uneingeschränkt bejahen. Ein wichtiges, bisher vernachlässigtes methodisches Thema breit anzugehen, es detailreich darzulegen, mit Beispielen zu veranschaulichen und dies zudem in einer gut zu lesenden Sprache zu verfassen – alles das hat den Charakter eines Standardwerkes, an dem in größeren Forschungsprojekten kein Weg mehr vorbeiführen sollte. Es wäre zu wünschen, dass in einigen Jahren ein Fortsetzungsband entstünde. Dieser würde die Entwicklungsgeschichten vom „Scheitern“ zum Gelingen noch um diejenigen Beispiele ergänzen, bei denen es – trotz aller Reflexivität und aller Anstrengung – nicht gelungen ist, das „karge“ empirische Material zu einem ergiebigen zu machen, weil man zum Beispiel inhaltlich oder verbal an die Grenzen des Sagbaren gestoßen ist, es ein Recht auf „Verweigerung“ und oft „mindestens zwei Wahrheiten“ [2] gibt. Dann wäre auch der Kreis zu Utz Jeggle, der auf diese Befunde bereits 1984 hingewiesen hat, wieder geschlossen.

Anmerkungen

[1] Utz Jeggle: Verständigungsschwierigkeiten im Feld. In: ders. (Hg.): Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse. Tübingen 1984, S. 93–112.

[2] Ebd., S. 101 und 96.