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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Urs Kienberger (Hg.)

111 Jahre Hotel Waldhaus Sils. Geschichte und Geschichten zu einem unvernünftigen Familientraum

Zürich 2019, Scheidegger & Spiess, 343 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-85881-634-4


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2021

Ein Hotel schreibt Geschichte: Das „Waldhaus“, im Engadiner Ort Sils gelegen, besteht seit über 100 Jahren, ist immer noch familiengeführt und hat unzählige Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Literatur beherbergt. Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg logierte im Haus, die Industriellenfamilie Thyssen kam, die Familien Mann und Hesse trafen sich hier in der Nachkriegszeit, heute sind es weiterhin berühmte Künstler*innen und Gäste, manche schon in der dritten Generation, aber auch unzählige nicht in der Öffentlichkeit stehende Personen aus der ganzen Welt, die sich zum Beispiel bei den „Silser Kunst- und LiteraTourtagen“ einfinden, stundenweise zu Konzerten kommen oder sich nur zum Tee in der Halle aufhalten.
Im Lauf der über einhundertjährigen Geschichte des Luxushotels hat sich manches verändert, aber noch mehr ist bestehen geblieben und fußt auf dem 1908 gegründeten materiellen wie ideellen Fundament der Familie Giger, später Wolflisberg, Kienberger und Dietrich. In regelmäßigen Abständen besinnt sich die Hoteliersfamilie der eigenen Geschichte, so auch jetzt, zum 111. Jubiläum der Gründung des Hauses. Man könnte eine Schrift erwarten, die mit den Gästen und Superlativen prahlt und das „Waldhaus“ und die es betreibende Familie lobt und hervorhebt. Das alles ist aber nicht der Fall. Der vorliegende Band besticht durch Nüchternheit, fast vornehme Zurückhaltung und ist manchmal sogar von Skepsis und Zweifel geprägt. Schon der Untertitel lässt das erahnen: Der „unvernünftige Familientraum“ spielt auf die finanziellen Unsicherheiten von Jahrzehnten an, denen sich die Familie, weil es ihr „Traum“ war und ist, seit Generationen stellen musste und muss. Urs Kienberger, der das „Waldhaus“ zusammen mit seiner Schwester Maria und deren Mann Felix Dietrich bis 2015 in der vierten Generation geleitet hat, schildert die Entbehrungen der Vorfahren, die wechselhafte Geschichte des Hauses, die eigenen Überlegungen, in das Hotel einzusteigen und dieses immer wieder vor allem baulich an die Gegenwart anpassen zu müssen, ohne Bestehendes zu sehr zu gefährden.
Was macht diesen Band für Kulturwissenschaftler*innen interessant? Zum einen ist es die Innensicht, die (durchaus kritische) Perspektive des Hoteliers selbst, zum anderen sind es die zitierten, unveröffentlichten Quellen: Bestellungen der Erstausstattung, die belegen, mit welcher Detailversessenheit die Gründerfamilie agierte; Unterlagen zu Messungen der Sonnenscheindauer für die exakte Ausrichtung des Hauses; Einblicke in Anschaffungskosten; Inventarlisten der erworbenen Küchenmaschinen; handschriftliche Aufzeichnungen der Urgroßmutter zu Beginn des Ersten Weltkrieges und den Folgen des Kriegs für die Familie; Details aus der Planung des eigenen Elektrizitätswerkes wie auch der zentral gesteuerten Uhr; Rechnungen über Renovierungen oder der zitierte Schriftverkehr mit Angestellten und Gästen, aus denen die sehr persönliche Bindung an das Haus hervorgeht. Eine weitere Bereicherung bilden die Augenzeugenberichte, die Andrin C. Willi zusammengestellt hat, typografisch und farblich abgesetzt vom chronologischen Teil Urs’ und Rolf Kienbergers: Hotelangestellte, Stammgäste, Familienmitglieder kommen zu Wort und breiten ihr Verhältnis zum Haus aus.
Zwischen Einzigartigkeit und Repräsentativität – so könnte man einen weiteren Wert des Bandes benennen. Das Silser Fünf-Sterne-Hotel steht für viele noble Häuser, die um 1900 in den Schweizer Bergen gebaut worden sind, um die Nachfrage nach Hotelbetten für ein wohlhabendes Publikum aus ganz Europa zu decken. In der Blütezeit des Baus von Grandhotels waren es solche Familien wie die Gigers, die mit Pioniergeist vorangingen und einen (Massen-)Tourismus begründet haben, der viele Arbeitsplätze geschaffen hat und ganze Landschaften bis heute prägt. Der Band von Urs Kienberger bezieht auch andere, ähnlich große Hotels im Engadin und im Berner Land ein, reißt die Geschichte der Gemeinde Sils an sowie die Migration der Engadiner, deren Wege nach ganz Europa gingen, und weitet so immer wieder den Blick vom eigenen Haus hinaus in die Welt.
„111 Jahre Hotel Waldhaus Sils“ lässt sich auf dreierlei Weise lesen: als Bilderbuch mit ästhetisch perfekten zeitgenössischen Fotos von Stefan Pielow, als Sammlung unterhaltsamer wie erhellender Zeitzeugenberichte, aber vor allem als tiefer Einblick in den Kosmos „Waldhaus“: für die das Hotel betreibenden Familien wie die darin logierenden Gäste.