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Nicole Zielke

Wohnkultur im Alter. Eine qualitative Studie zum Übergang ins Altenheim

(Alter – Kultur – Gesellschaft 2), Bielefeld 2020, transcript, 204 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5015-0


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

Wie gestaltet sich für Hochbetagte der Umzug in ein Altenheim? Wie wird dieser Übergang bewältigt und wie drücken sich die damit verbundenen Veränderungen in Hinsicht auf Körper, Dinge und Raum aus? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Dissertation von Nicole Zielke, die 2018 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld eingereicht wurde. Die Autorin hat ein qualitatives Verfahren gewählt und auf der Basis von teilnehmender Beobachtung und verstehenden Interviews (nach Jean-Claude Kaufmann) mit Betroffenen, Angehörigen und Pflegekräften gesprochen: 32 Männer und Frauen im Alter zwischen 40 und 97 Jahren wurden interviewt; zwei Männer und fünf Frauen werden stellvertretend im vorliegenden Band zunächst porträtiert und dann durchgehend zitiert.
Im Gegensatz zu schon vorhandenen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen – etwa der Magisterarbeit von Charlotte Löffler oder der Dissertation von Anamaria Depner – geht es bei Zielke beim (letzten) Wechsel des Wohnortes zwar auch um Entscheidungen hinsichtlich der eigenen Dinge, jedoch bilden diese nur die Basis, um auf den (inzwischen geschwächten) Körper und „die Prozesse des Aushandelns und die (symbolischen) Aneignungsstrategien“ (13) zu blicken. Hier greift die Autorin auf Konzepte von Dagmar Hänel und Alois Unterkircher zurück, die das Aktive in derartigen Konstellationen im Pflegeheim betonen – im Gegensatz zum Konzept der Ohnmacht in einer „totalen Institution“, wie Erving Goffmann Altenheime charakterisiert hat.
Nach einem ausführlichen Kapitel zu ihren theoretischen Grundlagen (den soziologischen Raumtheorien von Martina Löw und Carmen Keckeis) und ihrem methodischen Vorgehen kommt Zielke zu den drei Hauptkapiteln. Im ersten unterscheidet sie zunächst zwischen den einzelnen „Erfahrungsdimensionen“ Körper, Dinge und Raum. Hierbei verfährt sie induktiv und zitiert inhaltlich oder direkt aus dem Material, das sie bei ihren Feldforschungen erhoben hat, was stark zur Überzeugungskraft der Argumentation beiträgt. In den Selbstäußerungen der Befragten ist immer wieder der Schmerz zu hören, der mit zunehmenden körperlichen Einschränkungen und dem damit notwendig werdenden Umzug in ein Altersheim verbunden ist, der mit einem Verlust der Eigenständigkeit einhergeht. Die hochbetagte Ingrid Lammert zum Beispiel, die bis zu ihrem 80. Lebensjahr selbstständig in einem Versicherungsgeschäft gearbeitet hat, formuliert es so: „Was hast Du alles gemacht und was konntest du alles machen. Du brauchtest niemanden zu fragen. Du hattest Dein Zuhause. Du hattest das Geschäft. […] Und dann kamen diese Zusammenbrüche, zweimal hintereinander und […] da war nix mehr wie vorher.“ (79) Nicht nur der Körper verändert sich, auch das Inventar, sei es, dass Objekte verkauft (Auto) oder verschenkt (Möbel, Kleider) werden, sei es, dass es notwendiger Neuanschaffungen (Gehhilfen, Notknöpfe, Hebevorrichtungen) bedarf.
Diesen ersten Hauptteil fasst Nicole Zielke hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Körper, Dingen und Raum wie folgt zusammen: „Der Übergang ist an den körperlichen Leib und die Erfahrung von Verletzbarkeit und ‚Behinderung‘ gebunden. […] Der Körper dient im Übergang als Grundlage für Zuschreibungen, Kategorisierungen und darüber hinaus für räumliche Zuweisungspraktiken. […] Das Bedürfnis nach einem ‚Zuhause‘ bzw. nach räumlicher Privatheit verändert sich durch den Übergang ins Seniorenheim nicht. […] Indem die Dinge im Seniorenzimmer platziert und arrangiert werden, eignen sich die AkteurInnen den ‚gebauten‘ Raum an. Sie schaffen sich durch die arrangierten Status-, Kompetenz-, Erinnerungs-, Zugehörigkeits- und Bildungssymbole einen Raum des Privaten, in dem der Einzelne als Individuum mit seinen individuellen Lebensweisen, Vorstellungen und Verhaltensweisen erkannt und anerkannt wird.“ (122 f., im Original hervorgehoben)
Der zweite, wesentlich kürzere Teil handelt vom „Habitus als konstituierendem Element räumlicher Privatheit“ (131). Fußend auf Pierre Bourdieus Theorie zeigt die Autorin anhand ihres Materials, wie sich „der klassen-, der geschlechts- und der generationsspezifische Habitus auf die Konstitution räumlicher Privatheit bzw. die Gestaltung des gesamten Übergangsprozesses auswirkt und diesen bedingt“ (149).
Im dritten, ebenfalls kurzen Kapitel widmet sich Zielke der „Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation im Übergang“ (153). Damit meint sie Kontinuitäten im Wohnstil, wie sie der jeweilige Habitus vorstrukturiert und in „Wiederherstellungspraktiken“ (153, im Original hervorgehoben) münden lässt. Die „erzwungene Anpassung des Habitus“ (156) zum Beispiel durch die Reduktion der Wohnung auf ein Zimmer erfordert jedoch erhebliche Modifikationen von vorhandenen Vorstellungen. Ob diese gelingen, hänge, so Zielke, in erster Linie von der Entscheidung ab, wie der Umzug in das Altenheim erfolgt sei: durch Zwang oder freiwillig.
Ziel von „Wohnkultur im Alter“ ist es, den Akt der Neukonstruktion von privaten Räumen in den Fokus zu nehmen, der in dem Moment ansteht, wenn Hochbetagte in ein Altenheim ziehen. Die Autorin stellt in diesem Zusammenhang ein Geflecht von wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen dem jeweiligen Körper, den Dingen und den Räumen fest und führt überzeugend vor, dass sich in diesen Interdependenzen „Lebensweisen, Wertvorstellungen, Erwartungen, Erinnerungen und Erfahrungen“ (169) offenbaren. Im Übergang selbst, so ein weiteres Ergebnis der Untersuchung, sind „Manifestationen gesellschaftlicher Strukturen, Altersnormen sowie Lebensentwürfe und Selbstkonzepte“ (169) eingeschrieben. Habitus, Generation und Geschlecht spielen eine entscheidende Rolle. Neben diese Konstanten treten gleichzeitig nicht zu vernachlässigende Momente an Modifikationen: die Anpassungsstrategien an den neuen Raum, die neuen Ordnungen der Objekte sowie an das neue, eher durch die Institution Pflegeheim vorgegebene Leben.
Was macht den Wert dieses Bandes aus? Angewandte Sozial- oder Gesundheitswissenschaftler*innen sowie Pflegekräfte profitieren zum Beispiel von der Innenperspektive der Betroffenen, die hier zu Wort kommen. Sie werden (wieder-)erkennen, wie wichtig es ist, in einer derartigen Phase des Übergangs sensibel zu reagieren und viel Offenheit gegenüber den vorhandenen Aneignungsstrategien beim Wohnen zu zeigen, aktive Entscheidungen herbeizuführen und zu billigen, von bestimmenden Strukturen und normativen Regulierungen abzusehen.
Für die Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie ergänzt dieser Band die Arbeiten von Löffler und Depner um die Perspektive des Körpers und des Raumes. Die Autorin kann zeigen, wie sich auch hier im Wohnstil, in den Dingen wie auch in der Aneignung des Raumes durch den Körper personale Identität manifestiert und diese bis zum Lebensende durch und trotz gewisse(r) Anpassungen stabil bleibt. Nicole Zielke führt ferner vor, was qualitative und subjektorientierte Forschung, noch dazu gut geschriebene, leisten kann und auch wie fließend die Grenzen zur qualitativ forschenden Soziologie inzwischen geworden sind. Der Sinn und gar der Erkenntniswert der Zeichnungen, die den Band durchziehen, hat sich der Rezensentin jedoch nicht erschlossen.