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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Katrin Bauer/Dagmar Hänel/Thomas Leßmann (Hg.)

Alltag sammeln. Perspektiven und Potentiale volkskundlicher Sammlungsbestände

Münster/New York 2020, Waxmann, 297 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4127-9


Rezensiert von Andrea Geldmacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Sammeln assoziiert man vorrangig mit der Institution des Museums. Doch Sammlungen entstehen auch in anderen Zusammenhängen, gezielt angelegt als Basis wissenschaftlicher Forschung und später als deren Relikte. Vergleichsweise unbekannt und wenig erschlossen sind die Bestände der Landesstellen und Kommissionen für Volkskunde, wie sie unter verschiedenen Bezeichnungen und Trägerschaften beziehungsweise institutioneller Anbindung in den meisten Bundesländern in Deutschland arbeiten. Aufgaben dieser Landesstellen sind – in unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtung und je nach Personal- und Finanzausstattung – die Dokumentation und Erforschung von Alltagskultur in ihrer materiellen und immateriellen Ausprägung. Sehr heterogene Sammlungen wurden dort zusammengetragen, die auch die Entwicklung der einzelnen Institute und ihre Perspektivwechsel im Laufe ihrer Geschichte spiegeln und spezifische Fragen zum Umgang und zur Analyse aufwerfen. Die Bestände an Quellen zur historischen und gegenwärtigen Alltagskultur reichen von Fotografien, Fragebögen, verschriftlichten Interviews oder auch Erlebnisberichten, Korrespondenzen oder Lebenserinnerungen bis hin zu Postkarten, Bildern, Antwortkarten des Atlasʼ der Deutschen Volkskunde und Objekten oder Videos. Meist gibt es weder eine stringente Systematik, noch eine (Kontext-)Dokumentation und auch keine tiefergehende Erschließung (10). Diese Situation unterscheidet die Landesstellen nicht von anderen volkskundlichen Institutionen wie Museen und Archiven; allen fehlen Personal, Ressourcen und daraus resultierend Sammlungskonzeptionen beziehungsweise Konzeptionen zum Umgang mit vorhandenen Quellen der Alltagskultur, die sich bei näherem Hinsehen als „Schatzkästchen“ (10) erweisen können.
Die Arbeitsgruppe der Landesstellen und anderer Forschungsinstitutionen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde diskutiert seit vielen Jahren Fragen der Sammlung und Dokumentation von Alltagskultur: „Welche Rolle spielen Zeit, Raum und soziale Konfiguration, und wie können diese Differenzierungen angemessen repräsentiert werden? Welche Methoden lassen sich anwenden, welche sind ungeeignet? Welcher Qualifizierung und Quantifizierungen bedarf es? Hinzu kommen ganz praktische Fragen des Umgangs mit bestimmten Materialien, gerade für die Objektkultur des 20. Jahrhunderts sowie grundsätzliche Überlegungen zum Sammeln und Dokumentieren von inzwischen umfassend digitalen Alltagswelten.“ (8)
Die vorliegende Publikation dokumentiert die vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte vom 13. bis 14. Oktober 2016 in Bonn ausgerichteten Tagung in vier Kategorien. In der Kategorie „Sammlungslogiken“ berichtet Michael Greger (Salzburg) über die Sammlung des Schuldirektors und -inspektors, Grafikers und Heimatpflegers Richard Treuer, die sich im Salzburger Landesinstitut für Volkskunde befindet. Es handelt sich um ein ab den 1940er Jahren aufgebautes Archiv von über 2 000 Fragebögen und etwa 1 400 Schulaufsätzen zu Bräuchen und Brauchabläufen. Im Fokus steht zum einen die Frage nach der weltanschaulichen Verortung Treuers, insbesondere wegen seiner Kontakte zu Richard Wolfram und dessen starker „Involvierung in den NS-Forschungsapparat“ (23), und zum anderen die Frage nach dem quellenkritischen Umgang mit den Archivalien. Christoph Dautermann (Krefeld) beschreibt eine klassische Museumssituation. Das Museum Burg Linn in Krefeld übernahm die komplette Wohnungseinrichtung eines Verstorbenen. Bei der näheren Betrachtung der Objekte und weiteren Recherchen zeigen sich Fehlstellen und Brüche in Biografie und Bestand, die zu hinterfragen sind. Selten gibt es wie hier die Möglichkeit, aufgrund vorhandener, scheinbar marginaler Objekte wie zum Beispiel Notizzetteln, alltägliche Verrichtungen zu dokumentieren. An diesem beeindruckenden Beispiel wird deutlich, wie wichtig die sensible und präzise Dokumentation des Zusammenspiels der Gegenstände ist. Erst die Vernetzung aller verfügbaren Informationen bildet eine Lebenssituation und damit gesellschaftliche Zusammenhänge annähernd ab. Lioba Keller-Drescher (Münster) betrachtet Sammlungen als „Resultate komplexer Intentionen und Handlungen“ (65) und analysiert am Beispiel des Flurnamenarchivs der „Abteilung Volkstum“ des Landesdenkmalamtes Württemberg Sammlungen wissenschaftshistorisch nicht nur als Wissensbestände und Materialarchive, sondern auch als Archive ihrer Herstellungspraktiken und Strukturbedingungen. Diese Einbindung von Umgebungswissen muss bei einer digitalen Publikation ebenfalls erfolgen, da Archivbestände nur mit wissenschaftlicher Begleitung verstanden werden können.
Die zweite Kategorie „Aktualisierungen“ richtet den Blick auf Archive und Sammlungen, die – wenn auch vor Jahrzehnten begonnen – aktuell weitergeführt werden. Kathrin Pöge-Alder (Halle) berichtet über das 1975 als Zentrum Harzer Kultur gegründete Zentrum HarzKultur in Wernigerode, das seit 1990 vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt geführt, aber an seinem Standort Wernigerode verblieben ist. Das Zentrum ist ein Beispiel, wie eine Sammlung unter unterschiedlichen politischen Perspektiven – von der sogenannten Volkskunstbewegung der DDR bis zum Immateriellen Kulturerbe der UNESCO-Konventionen – sowohl geprägt als auch neu und aktiv genutzt werden kann. Interessant ist in diesem Fall die Verbindung von lebenspraktischen und institutionengeschichtlichen Ebenen, da der Landesheimatbund mit der Übernahme des Archivs auch in die Organisation von Veranstaltungen eingebunden ist und eine Beratungsfunktion übernimmt. Konrad Kuhn (Innsbruck) schließt an diese Perspektive der Dynamik vermeintlich toter volkskundlicher Sammlungen an. Er erkennt in den historischen Sammlungen wissensgeschichtliches und -anthropologisches Potential und untermauert seine Einschätzung am Beispiel der Bestandsaufnahme von Votivgaben aus über 800 Kirchen, die zwischen 1938 und 1953 von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde durchgeführt wurde. Auch wenn die ca. 25 000 Fotos und Karteikarten nicht in einer Publikation ausgewertet wurden, so war die Votivsammlung „stets ein Ort vielfältiger Beziehungen, der Sammlungsbestand war immer auch Kommunikationsort und oft genug auch Tauschbörse“ (116). Aktuell wird die Fotosammlung digitalisiert und steht für neue Forschungsfragen zur Verfügung. Theresa Jacobs und Ines Keller (beide Bautzen) rekonstruieren in ihrem Beitrag die Geschichte der sogenannten „Komplexforschung“ am Sorbischen Institut in Bautzen. Es handelt sich dabei um eine der größten kulturwissenschaftlichen Datenerhebungen der DDR, die 1987 durch das Institut für sorbische Volksforschung in Bautzen auf der Basis von Vorarbeiten aus den 1970er Jahren in den beiden Lausitzen durchgeführt wurde. Thematisch waren in dieser „Komplexforschung“ sowohl Dorfstudien vorgesehen, als auch breit aufgestellte Studien mit Datenerhebung und Analysen in größeren geografischen Räumen. Die Autorinnen gehen detailliert auf „Vorgeschichte, konzeptionelle Entwicklungen, auf Methoden und Durchführungen sowie auf Ergebnisse“ ein (120). Auch heute liegt das Augenmerk des Sorbischen Instituts auf den „Bezugspunkten zum Sorbischen, auf Dimensionen von Mehrsprachigkeit und Spracherwerb, auf Formen von Mobilisation und Migration“ (144). Aspekte des vorliegenden Materials können daher in aktuellen und zukünftigen Forschungen nicht nur zum Sorbischen quellenkritisch vergleichend herangezogen werden. Kathrin Bonacker (Marburg) stellt mit ihrem privaten, seit 1990 geführten Kulturhistorischen Anzeigenarchiv eine aktuelle Sammlungsinitiative vor. Ihre Quellen können spannende Belege für Zeitströmungen liefern. Doch es stellt sich die Frage nach professioneller Archivierung, sei es digital oder analog, die kaum von einer Einzelperson geleistet und finanziert werden kann.
In der dritten Kategorie „Repräsentationen“ befasst sich Dennis Basaldella (Hamburg) mit teils als Nach- beziehungsweise Vorlass dem Filmmuseum Potsdam überlassenen Amateurfilmbeständen der DDR. Gerade in diesen Arten von Sammlungen findet sich ein Blick auf den DDR-Alltag, der sich „teils von dem Alltagsbild unterscheidet, den die Staatsführung in ihren Film- und Fernsehbeiträgen vermittelte“ (161). Quellen für die Untersuchungen sind neben den Originalfilmen und den veröffentlichten Fassungen auch Zeitzeugengespräche, Archivmaterial oder Tagebücher. Gabriele Wolf (München) stellt die inzwischen digitalisierte „Volkskundliche Rundfrage 1908/9“ (175) vor. Sie wurde für den Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde von Friedrich von der Leyen und Adolf Spamer mit Fragen zum klassischen volkskundlichen Kanon durchgeführt. Der Gesamtumfang des Materials umfasst etwa 6 700 Seiten, überliefert sind sie aus 756 Orten in ganz Bayern. Die Daten stehen über die Plattform „bavarikon. Kultur und Wissensschätze Bayerns“ der Öffentlichkeit zur Verfügung. Ihre Relevanz erhält die Präsentation nicht allein durch die 1908/09 einzelnen erhobenen Daten, sondern die Sammlung als Ganzes gilt als Artefakt, deren Erhaltung die Aufnahme in das Portal rechtfertigt. Das „Portal Alltagskulturen im Rheinland“ stellt Christian Baisch (Bonn) vor. Es ist im Rahmen eines DFG-Projektes zwischen 2013 und 2017 in Kooperation des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte, dem dort ansässigen Archiv des Rheinlands sowie den beiden LVR-Freilichtmuseen Kommern und Lindlar entstanden. An konkreten Beispielen und praxisorientiert zeigt der Autor, wie durch die digitale Verknüpfung von Wissensbeständen und Objekten aus unterschiedlichen Sammlungen Kontextualisierung hergestellt werden kann.
In der vierten und letzten Kategorie „Perspektiven“ thematisieren Katrin Bauer (Bonn) und Jutta Nunes Matias (Münster) die Situation der Sammlungen der Landesstellen und denken über die Relevanz der Quellengattungen und eine Sammlungsstrategie nach, die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gerecht werden kann – mit allen Ansprüchen, die ein sachgemäßer Umgang und digitale Perspektiven erfordern. Uta Bretschneider (Leipzig) und Merve Lühr (Dresden) richten den Blick auf die Alltagswelten der DDR und das Lebensgeschichtliche Archiv des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden. Seine Bestände zu den Themen „Brigadebücher“ und „Neubauern“ wurden bisher in der Forschung kaum beachtet. Peter Fauser (Erfurt) fragt danach, wie „Alltags-Musikkulturen“ als flüchtige Medien überhaupt zu sammeln sind. Gerade Hinweise auf musikalische Ausdrucksformen sind kaum fassbar, oft nur über kurze Meldungen in der Tagespresse, die aber eher zufälligen Charakter haben. Sabine Thomas-Ziegler und Carsten Vorwig (beide Kommern) rekapitulieren zum Schluss die Praxis einiger Freilichtmuseen, hier des LVR-Museums Kommern. Inwieweit wird inzwischen die Gegenwart Teil der Sammlung zur Alltagskultur? Wie lassen sich Exponate aus der Gegenwart in die bestehenden Ausstellungen einbinden und zu welchem Zweck?
Die Stärke dieser Publikation liegt in der Sensibilisierung für die Einbettung von Sammlungen in die Kontexte ihrer Entstehung, Weiterführung und Rezeption. Sie fordert dazu auf, diese Verbindung durchgängig bei jeglicher Art der Publikation mit zu vermitteln. Die Analyse der Altbestände und ihre Einbindung in aktuelle Forschungen geben Argumente für einen bedachten Umgang mit den Sammlungsbeständen der Landesstellen oder Universitäten ebenso wie in Archiven und Museen mit solchen Exponaten, die auf den ersten Blick als marginal und nicht als Quellen erster Ordnung betrachtet werden. Die außeruniversitäre Volkskunde steht hier an der Schnittstelle eines Netzwerks, wie Katrin Bauer, Dagmar Hänel und Thomas Leßmann in der Einführung formulieren (10). Sehr spannend ist der Blick auf Bestände der Volkskunde-Institutionen und auf spezifische Archivalien und Objektgattungen in der DDR, die bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Vielleicht trägt diese Publikation zu einer engeren Kooperation von Institutionen bei, die sich mit der Bewahrung von materiellen und immateriellen Kulturgütern befassen.