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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Brigitte Frizzoni (Hg.)

Verschwörungserzählungen. 10. Tagung der Kommission für Erzählforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv)

Würzburg 2020, Königshausen & Neumann, 354 Seiten, ISBN 978-3-8260-6670-2


Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Dieser aspektreiche Band ist im für sein Thema höchst aktuellen Corona-Jahr 2020 zu seinem paradoxen Pech einerseits zu spät, andererseits zu früh zum Abschluss gekommen. Als die hier versammelten 24 Beiträge 2018 auf einer Tagung der Kommission für Erzählforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Zäziwil/Schweiz diskutiert und für den Druck vorbereitet wurden, erschien auch der fulminante Verschwörungstheorienband „Nichts ist, wie es scheint“ des Tübinger Amerikanisten Michael Butter, auf den sich die meisten Autorinnen und Autoren beziehen (und den weitere hätten in Betracht ziehen sollen), den sie aber offenbar nicht mehr angemessen hatten berücksichtigen können. Und die für eine empirische Kulturforschung großartige Chance, unmittelbar der Entstehung und Entwicklung der vielfältigen Corona-Verschwörungsgeschichten, die 2020 zu beobachten waren, präzise nachzugehen, kam für diesen Band zu spät.
An Butters Monografie kommt nun vorerst keiner vorbei. Sie markiert den gegenwärtigen Erkenntnisstand, ist kompakt, übersichtlich, gut lesbar geschrieben, sogar durch Register erschlossen. Sie gibt das Reflexionsniveau vor, an dem sich jüngere kulturwissenschaftliche Studien orientieren und messen lassen müssen, auch die vorliegende Aufsatzsammlung. Diese möchte, wie Brigitte Frizzonis pointierende Einleitung klar darlegt, besonders eine narratologische Perspektive einnehmen, die in der Tat neue und interessante Einsichten verspricht, zumal neben der volkskundlich-ethnologisch arbeitenden Kulturwissenschaft hier auch Gesichtspunkte aus Psychologie und Psychotherapie, Religions-, Erziehungs- und Medienwissenschaft einfließen. Der Buchtitel hebt bewusst Verschwörungserzählungen gegenüber den (als umfassende „master narratives“ verstandenen) Verschwörungstheorien hervor; hier sollen also bevorzugt Inhalte, Formen und Perspektiven des Erzählens über (echte oder angebliche) Verschwörungen analysiert werden und erst in zweiter Linie die ihnen zugrundeliegenden Verschwörungskonzepte (Mutmaßungen, Unterstellungen) und deren Motivation oder Wahrheitsgehalt. Fragen wir, wie das Buch diese Vorgaben erfüllt und den Aufriss Butters ergänzt; zuerst aber der Inhalt:
Der Band ist in drei Teile gegliedert, mit jeweils acht Beiträgen: (1) theoretische Ansätze zum Verständnis von Verschwörung und Verschwörungstheorie, (2) die Verortung der Erzählung in verschiedenen Alltagsbereichen (Politik, Wissenschaft, Popkultur, Sport, Ernährung) sowie (3) das Erzählen in medialen Kontexten (Roman, Radio, Film, Fernsehen, Internet). In Teil 1 befassen sich die Beiträge mit grundlegenden Fragen der Verschwörung als „formender Gesetzlichkeit“ (Harm-Peer Zimmermann) und mit dem Geheimnis als „kultureller Praxis“ (Regina Bendix), weisen auf vergleichbare Plausibilisierungsstrategien in der „Sage“ hin (Sabine Wienker-Piepho) und – tiefergreifend und genereller – auf die Komplexität von Wahrheit und Wirklichkeit (Andreas Anton), bringen als Hintergrund die „Auflösung der Religionen“ ins Spiel (Julian Genner u. Ina Dietzsch) und – empirisch ansetzend und angenehm selbstkritisch – eine „Grammatik der Verschwörungsbeobachtung“ (Sebastian Dümling), erörtern psychologische Zugänge zu „Zweifel und Dogmen“ (Bernd Rieken) sowie das „Verschwörungs-Erleben“ aus einer psychotherapeutischen Perspektive (Anna Jank).
Teil 2 betrachtet „Verschwörungsideologie in der extremen Rechten“ (Alice Blum u. Michael Urmoneit) und – strukturell auf den Rezensenten fast wie eine Meta-Verschwörungstheorie wirkend – „Verschwörungserzählungen rund um Gender Studies“ (Marion Näser-Lather), untersucht am Popstar-Beispiel Taylor Swift „Celebrity Gossip als misogyne Verschwörungserzählung“ (Fatma Sagir) und – mitten im alltäglichen Leben – „Erzählungen über Verschwörungen im Fußball“ (Christina Niem), reflektiert einlässlich über „Die Pockendeckenerzählung als Mittel der sinnhaften Selbstverortung“ (Mirko Uhlig) und facettenreich an der „Mothman“-Figur über die Nähe von Modernen Sagen zum Verschwörungsmotiv (Janin Pisarek), diskutiert die sogenannte „Menstruationslüge als Verschwörung“ (Pauline Lörzer) und bietet einen interessanten Vergleich zwischen japanischen und westlichen Verschwörungstheorien (Akemi Kaneshiro-Hauptmann). Teil 3, schließlich, will die „narrative Logik“ der Protokolle der Weisen von Zion am Beispiel des Berner Prozesses 1933–37 aufzeigen (Alfred Messerli) und die Attraktivität der Prä-Astronautik im Rahmen von Verschwörungserzählungen (Meret Fehlmann), ferner Verschwörung in einem persischen Roman „als eine Art Theater am politischen Schauplatz erklären“ (Iraj Esmaeilpour Ghoochani u. Tilman Weinig) und „YouTube als kulturanthropologische Quelle“ für Verschwörungserzählungen erweisen (Johannes Glaser), was auch speziell für „Chemtrails“ gilt, an denen Simone Stiefbold zeigt, wie Erzählungen erst durch Gegenrede zu Verschwörungserzählungen werden. Bleiben drei Aufsätze, die „Argumentation, Erzählung und Ästhetik“ am Filmbeispiel „Zeitgeist“ fokussieren (Deborah Wolf) und sowohl anhand der US-Fernsehserie „24“ als „rationalisierte Verschwörungserzählung mit losen Enden“ (Malte Völk) als auch der spanischen Radiosendung „Milenio 3“ das „mediale Erzählen von Verschwörungstheorien“ im sozialen Kontext ansprechen (Marina Jaciuk).
Kein Zweifel: Die Vielfalt der Frageansätze beeindruckt und stimuliert das Weiterdenken. Was aus dem Blickwinkel einer volkskundlichen Kulturwissenschaft und der zugehörigen Erzählforschung aber doch – insgesamt gesehen – enttäuscht, ist, dass mit dem „Pfund“ einer dezidiert historisch-vergleichenden Arbeitsweise nur selten gewuchert wird. Der Rezensent vermisst zu häufig den strikt empirischen Ansatz, der als Basis Beschreibungen verlangt, das heißt hier vor allem: die möglichst genaue Wiedergabe der Erzähltexte, nicht allein das grobe Referat der Erzählinhalte. Nur dann werden, zumal in unübersichtlichen Kommunikationssituationen, die Erzählanalysen plausibel. Ferner fehlt oft die historische Perspektive, die selbst bei typologischen Überlegungen notwendig wäre, bei der Frage etwa, in welchem Verhältnis „Verschwörungserzählung“ (als Erzähltyp oder Erzählform oder Erzählgattung?) zu anderen – oft dem historischen/wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verpflichteten – Kategorien steht: zu „Sage“, „Moderner Sage“ oder Lügenerzählung, zu „Fake News“ oder auch zu „Verschwörungstheorie“, „Verschwörungsbeobachtung“ (die Stefan Dümling hier einbringt) oder zu Jollesʼ „Einfacher Form“ (die Harm-Peer Zimmermann heranzieht) etc. Vor einem historischen Hintergrund würde auch noch einleuchtender, wenn Andreas Anton zu Recht „Verschwörungstheorie“ (heute) als einen stigmatisierenden Begriff einstuft, ihn als ein soziales Deutungsmuster versteht, auf das Ambivalente bei „falschen“ und „richtigen“ Deutungen hinweist und nicht nur eine Wahrheit voraussetzt, sondern eine Vielfalt von Wirklichkeiten erwägt (die eben auch geschichtlich konnotiert sind).
Was historisch-vergleichende Erzählforschung zu leisten vermag, zeigt in den Augen des Rezensenten die schöne Fallstudie in der Mitte des Bandes (189–204) von Mirko Uhlig über das Erzählmotiv der mit Pocken verseuchten Decken, dem der Autor in einem aktuellen Interview begegnet ist und das er nach seiner historischen „Wahrheit“ auslotet. Gedankengang und Argumentation erscheinen hier geradezu exemplarisch: sprachlich präzise, vergleichend (Motiv „vergiftetes Kleid“) und historisch einordnend angelegt. Die Studie beginnt mit der Beschreibung der Erhebungssituation, stellt das Erzählmotiv in seinen gegenwärtigen und historischen Kontext (1763), verfolgt historiografisch eine Kontroverse im 18. Jahrhundert (ob die Indianer wirklich gezielt, also durch eine Verschwörung, ausgerottet werden sollten – was nach heutigem Stand faktisch überzogen erscheint, also nur ein Gerücht ist), um vor allem, wie der Autor scharfsichtig formuliert, „für die Ambivalenzen und Spannungen innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu sensibilisieren“ (197). Es schließen sich Überlegungen an, wie die Pockendecken-Kurzgeschichte, die wohl Generationen lang unbekannt war, popularisiert wurde, wobei auch biografische Faktoren eine Rolle spielen. Am Ende steht die Schlussfolgerung, die Pockenerzählung basiere zwar auf einer ruchlosen Militärverschwörung, sei also Verschwörungserzählung, aber keine Verschwörungstheorie (die auf einem – wenigstens scheinbar – logisch kohärenten Gedankengebäude gründet), sowie eine stimulierende Schlussthese, „dass sich eine Verschwörungserzählung wohl nur dann längerfristig im Erzählrepertoire hält, wenn sie mit der jeweiligen persönlichen Lebensgeschichte kohärent, also sinnhaft und sinnstiftend verknüpft werden kann“ (202), mit weiterführenden Verweisen auf Albrecht Lehmann und Michael Butter.
Generell ist noch anzumerken, was dieser Band nur ansatzweise leistet (oder vielleicht auch in diesem ersten Diskussionsanlauf nicht leisten konnte) beziehungsweise was an weiterer Forschung zu diesem Thema aus kulturwissenschaftlicher Perspektive unter anderem noch zu leisten wäre: 1. Eine konsistente und plausible Begriffsklärung all jener Erzählformen, die von Verschwörungen handeln, über die gesamte „Wahrheits-Skala“ von klaren Fakten in und als „Nachrichten“ über lebensweltliche und poetische Fiktionen (wie „Mythen“ oder „Sagen“) bis hin zu scherzhaften Lügengeschichten und dreisten Fakes; 2. die vertiefte empirische Erhebung und Analyse von Verschwörungserzählungen in ihrem jeweiligen Lebenskontext: Wer sie wo und wann wem erzählt; wer sie in welchem Maße glaubt und weitergibt; wie und wo sie funktionalisiert und mit welchen Mitteln instrumentell eingesetzt werden und was die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen sind.