Aktuelle Rezensionen
Harald Stahl
„Die hohen Bäume und das Unterholz und das Tote“. Waldnaturschutz im Nordschwarzwald, Waldbewusstsein und Naturerfahrung
(Freiburger Studien zur Kulturanthropologie 3), Münster/New York 2019, Waxmann, 359 Seiten, ISBN 978-3-8309-3981-8
Rezensiert von Thorsten Gieser
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021
April 2021, in einem Bachtal irgendwo im Westerwald. Ich gehe auf dem Forstweg, in den matschigen Spurrillen des Harvesters, der hier – wie überall in der weiteren Umgebung – seit Wochen am Werk war. Riesige Holzstapel und verwüstete Kahlschlagflächen zeugen von seiner Arbeit in einem „klimakranken“ Fichtenwald, der zudem vom Borkenkäfer heimgesucht wurde. Der Wald hier und andernorts in Deutschland scheint dem Ende nah. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass mich diese Szenerie an die „hohen Bäume und das Unterholz und das Tote“ erinnert, die Harald Stahl in seinem Buch über Waldnaturschutz, Waldbewusstsein und Naturerfahrung als Leitmotiv gewählt hat. Schade ist dabei nur, dass dieses Buch auf seiner Dissertation von 2016 beruht und daher die für den Wald katastrophalen letzten drei Jahre noch gar nicht im Blick haben konnte. Doch das ändert nichts an der Aktualität der Themen, die der Autor in seinem Werk angeht.
Seine Forschung beschäftigt sich mit einer bestimmten Art von Naturschutz, dem Prozessschutz. Dabei soll Natur der Nutzung entzogen werden, sich selbst überlassen bleiben und durch natürliche Prozesse ver- und überwuchern, damit verwildern, zu einer „neuen Wildnis“ werden (13). Zentral für Stahls Argumentation ist, dass dieser „Wildwuchs“ nur vermeintlich ein rein natürlicher ist, denn er beruht auf einer „Kultur der Naturbelassung“ beziehungsweise einer kulturellen Praxis des „Nichtstuns“ (17). Somit drückt sich paradoxerweise in dieser neuen Wildnis eine geplante, organisierte und verwaltete kulturelle Ordnung aus (305). Durch eine Aufwertung und Ästhetisierung von Natur hat sie eine „Kultur der Naturreinheit“ zum Ziel, welche sowohl einer Sehnsucht nach Natur einen gegenweltlichen, anderen Ort (Heterotopie) gibt (302), als auch Vorstellungen einer „richtigen Natur“ gesellschaftlich verhandelt. Diese besondere Natürlichkeit beziehungsweise das Wilde an diesen Orten zeigt sich dabei vor allem im „Nebeneinander von Totholz und Grün“, das heißt in der „Semantik von Zerstörung und Neubeginn in der Natur“ (303). Stahl macht dies konkret anhand dreier Naturschutzflächen im Nordschwarzwald: dem Bannwald Wilder See, dem Sturmwurf-Erlebnispfad Lotharpfad und dem Nationalpark Nordschwarzwald.
Bevor er sich allerdings ins Konkrete begibt, nimmt Stahl uns mit in „die Archive der Naturzugänge, des Naturbegriffs, des Natur-, Landschafts- und Waldbewusstseins“ (17). In zwei langen Kapiteln widmet er sich der Kultur- und Begriffsgeschichte von Natur, sowie der volkskundlich-kulturanthropologischen Forschungsgeschichte zu Natur und Wald – insbesondere auch dem „deutschen Wald“ und der jüngeren Forschungsgeschichte dieses Themas seit den 1990er Jahren (z. B. Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer). Im Folgenden geht er mit Hartmut Böhme und Martin Seel auf Zugänge zu Landschafts- und Naturerfahrungen ein, die in einer Erkundung des „Waldbewusstseins“ münden, in der die Zusammenhänge zwischen Naturerfahrung, Imagination und kultureller Erinnerung beziehungsweise zwischen individuellen und kollektiven Naturzugängen thematisiert werden.
Es ist dabei nicht verwunderlich, dass mein Gedankenfaden, der sich um diese beiden Kapitel wickelte, plötzlich abriss und das Hämmern eines Spechts mein Bewusstsein wieder zurück auf den Waldweg brachte, auf dem ich immer noch ging. Das aufmerksame Im-Wald-sein schien mir interessanter als in meiner Vorstellung diese beiden Kapitel Revue passieren zu lassen. Denn sie mögen zwar (in ihrer Ausführlichkeit) für eine Dissertation unerlässlich sein, doch rekapitulieren sie für Fachkundige nur allzu bekanntes. Wer sich in diesen Themen jedoch noch nicht auskennt, findet hier eine gründliche, umfassende und klar strukturierte Ausarbeitung, die sich zu lesen lohnt. Wenn es doch nur auch etwas Überraschendes gegeben hätte!
Ich klettere auf die nun flachliegenden ehemals hohen Bäume am Wegesrand, meine Hände gleiten über die Narben im Holz, die der Greifarm des Harvesters im Stamm hinterlassen hat, setze mich, starre in den Wald und denke an den Bannwald Wilder See. Dort, so Stahl, verkörpert sich (mehr als in vielen anderen Wäldern) der Wald als Gegenwelt, die vor allem auch atmosphärisch für Besucher und Besucherinnen greifbar wird, obwohl auch hier „Schwarzwaldklischees“ und touristische Bilder (199–203) den „Wildnisqualitäten“ (208–210) des Ortes zur Seite stehen. Es ist auch ein Ort, der einerseits – 1911 als Naturdenkmal geschaffen – bewahrend in die Vergangenheit, andererseits auch als Versuchsfeld für die Wissenschaft in die Zukunft in Richtung einer neuen Wildnis blickt. Somit erschließt sich schon in diesem ersten Beispiel der Wald als „ein anderer, aber eben auch zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehöriger Ort“ (213).
Eine ähnliche temporale Doppelorientierung findet sich auch beim Sturmerlebnispfad, der an die verheerenden Auswirkungen des Sturms Lothar 1999 erinnern soll. Die Sturmwurfsukzessionsfläche, durch die sich der Pfad windet, verbindet dabei für jeden am eigenen Körper erlebbar die Materialität der Zerstörung eines vergangenen Ereignisses und den grünen, wuchernden Neubeginn, der sich über das Totholz legt. Neben Erinnerungsort („der Sturm als Einbruch der Natur in die Zivilisation“, 257) ist der Lotharpfad allerdings auch Mahnmal für eine ökologische Krise, für Klimawandel und Umweltverschmutzung. Denn das Katastrophenhafte des Sturms konnte nur deshalb solche Ausmaße erreichen, weil er in einer von Menschen gestalteten Fichtenmonokultur wüten konnte und somit die Verantwortung der Menschen für den Wald zeigte sowie auch die vielfältigen Verflechtungen zwischen Natur und Kultur.
Beim letzten Beispiel, der Diskussion um die Errichtung des Nationalparks Nordschwarzwald verdichten sich dann nochmal die Spannungen zwischen Kulturen der Naturnutzung und der Kultur des Nichtstuns sowie von normativen Naturvorstellungen. Hier treffen Vorstellungen vom Wald als „Alltags-, Lebenswelt und Wirtschaftsraum“ (272) von lokalen Nationalparkgegnern (mit ihrer eigenen Ästhetik der Ordnung, „schön“ und „aufgeräumt“, 275) auf Vorstellungen von Wald als Ort ökologischer Prozesse und ästhetischen Naturgenusses („dies klare Durcheinander des Wachsenden übereinander Hergefallenen“, 306). Spätestens bei diesem Beispiel wird klar, dass die hier behandelten Themen weit über den Nationalpark und den Nordschwarzwald hinaus relevant sind und in größere Diskurse um Naturschutz und Nachhaltigkeit eingebettet sind.
Alles in allem, eine gelungene Arbeit die sich einreihen wird in die kulturanthropologischen Werke über Wald und Waldbewusstsein. Akribisch recherchiert, mit einer Fülle von Material (aus Archiven, Medien, Interviews) und gut geschrieben, lädt sie uns ein sich in das Dickicht der Bedeutungen von Natur zu begeben.
Da reißt mich doch wieder dieses Hämmern des Spechts aus meinen Gedanken. Das Krächzen zweier Raben. Ich stehe auf vom Holzstapel und gehe den Waldweg zurück. Vor mir auf dem Boden sind die Trittsiegel von Rehen, Wildschweinen und Rothirschen zu erkennen. Dort am Wegesrand haben die Wildschweine die Wiese umgegraben. Da fällt mir plötzlich auf: Wo sind eigentlich die tierischen Waldbewohner in Stahls Buch? Wo ist das Thema Wald und Wild (auch bekannt als Debatte um „Wald vor Wild“ bzw. „Wild vor Wald“)? Wo lesen wir von den Zusammenhängen zwischen natürlicher Sukzession, Wildpopulationsdichten und Jagd/Wildtiermanagement? Die Wälder in Stahls Buch bestehen primär aus Bäumen; die Perspektive ist eine rein anthropozentrische. Wenn man bedenkt, dass wir im Zeitalter des Anthropozäns leben, ist das womöglich gar nicht so verwunderlich. Doch auch das Anthropozän findet sich weder im empirischen Teil der Arbeit (was vielleicht weniger verwundert) noch im theoretischen (was schon mehr verwundert). Auch in der Abarbeitung der Natur-Kultur-Dichotomie (Philippe Descola, Bruno Latour) finden sich nur wenige Hinweise auf eine Hybridisierung von Naturenkulturen, von (gar nicht mehr so) neuen Forschungsansätzen, die das Thema Natur und Naturerfahrung vielleicht etwas dezentrieren könnten. So scheint Harald Stahl neuere Literatur zum Posthumanismus, New Materialism, Multispecies Ethnography, Human-Animal Studies und vielem mehr schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Diese Kritik ist natürlich zutiefst unfair und ich muss mich schon im Voraus dafür beim Autor entschuldigen. Denn sie kommt von einem Ethnologen, der ein Werk der Europäischen Ethnologie rezensiert. Aber zumindest am Ende dieser Buchbesprechung sei mir ein „ethnologischer Blick“ erlaubt, der es seltsam findet, dass in 21 Seiten Literaturverzeichnis nur ein einziger (!) englischsprachiger Text zu finden ist. In den letzten 20 Jahren hat sich sowohl in der Ethnologie als auch zum Beispiel in der britischen Kulturgeografie so viel getan in Bezug auf neue theoretische Perspektiven zu Naturenkulturen oder auch der Landschaftswahrnehmung, dass es mir schwerfällt, ausschließlich die ewig gleichen Namen aus dem deutschen Diskursuniversum in einem Buch zu lesen, die schon ewig die gleichen semiotischen Ansätze propagieren. Da nützt es auch wenig, wenn zur Ergänzung eine (Bewusstseins-)Phänomenologie hinzugezogen wird, um ästhetische Naturerfahrungen zu beschreiben (die das Waldbewusstsein, also das semiotische Assoziieren von Erinnerungen und Imaginationen, braucht, um diese Naturerfahrungen zu verstehen). Eine handlungsbasierte, in Körper und der Materialität der Landschaft eingebundene, Phänomenologie à la Tim Ingold ist hier ja schon fast überholt und weiterentwickelt in postphänomenologische Ansätze einer mehr-als-menschlichen Geografie beziehungsweise Ethnologie.
An meinem Auto wieder angekommen, ziehe ich meine Gummistiefel aus und habe die Hoffnung, dass das nächste Buch, welches sich diesem vielfach krisengeschädigten Wald widmet, eine „Natur nach der Katastrophe“ (15) (bzw. Natur in der Katastrophe) mit der wissenschaftlich-handwerklichen Expertise eines Harald Stahl angehen wird, gleichzeitig jedoch auch Möglichkeitsräume eröffnet für eine Perspektivenverschiebung, hin zu neuen mehr-als-menschlichen Denkarten.