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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Sara Diedrich/Elias Siebert

Gezähmte Berge. Alpine Landschaften im Blick badischer Fotografen

(Sonderveröffentlichung des Landesarchivs Baden-Württemberg), Stuttgart 2020, Kohlhammer, 136 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-17-039676-0


Rezensiert von Ulrich Hägele
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Der Klimawandel tritt im Gebirge in beängstigender Weise zu Tage. 1992 besuchte ich den Rhône-Gletscher im Schweizer Kanton Wallis. Wo man damals die künstlich angelegte Gletschergrotte besichtigen konnte, ist heute ein See. Die Gletscherzunge hat sich weit zurückgezogen, und die grünliche Wasserfläche wird immer größer. Wenn wir die Luftverschmutzung nicht bald in den Griff bekommen, wird der Rhône-Gletscher, wie auch die meisten anderen dieser grandiosen Zeugnisse der Eiszeit, bis Ende des 21. Jahrhunderts verschwunden sein.
Die Gletscher sind die eine Seite. Die andere sind: entnaturierte Berglandschaften mit ausgedehnten Skigebieten, mit Klettersteigen, Hütten, Hotelanlagen, Wellness-Resorts und Après-Ski. Dazu Talsperren, Straßen, die sich in die Bergwelt graben, riesige Parkplätze, Parkhäuser und Supermärkte. Und sodann: die Berge millionenfach mit Smartphones aufgenommen, in den sozialen Netzwerken kommuniziert und vervielfältigt. Der Massentourismus und die digitalisierte visuelle Kultur tragen ihren Teil bei zum globalen Aneignungsprozess der einst unerreichbaren Bergwelten – der Homo sapiens im Anthropozän hinterlässt seine Fußabdrücke überall.
Sara Diederich und Elias Siebert unternehmen in ihrem reich illustrierten Band, der als Begleitband zur Ausstellung im Landesarchiv Baden-Württemberg im Generallandesarchiv Karlsruhe erschienen ist, die vom September 2020 bis Februar 2021 zu sehen war, den Versuch, das Gestern – die vermeintlich noch intakten Berge von vor hundert Jahren – mit dem Heute zu vergleichen. Als Grundlage dienen die Bilder des Karlsruher Geologen Wilhelm Paulcke (1873–1949). Zwischen 1890 und 1940 hatte er die Alpen vielfach bereist und dort mit seiner Plattenkamera Landschaften aufgenommen. Der Mann drückte rund zehntausend Mal auf den Auslöser. Das große Werk blieb erhalten und gelangte in das Generallandesarchiv Karlsruhe. Den Gegenpol an Bildern aus der Gegenwart lieferte der Karlsruher Fotograf Elias Siebert. 2017 begann er mit seinem vergleichenden Projekt. Er nutzte die Methode der sogenannten Re-Photography, indem er Wilhelm Paulckes Fotografien als Vorlage nahm und sich im Abstand von über einem Jahrhundert an dieselben alpinen Orte begab, an denen Paulcke einst seine Kamera positioniert hatte.
Für einen einführenden Text konnten die Autor_innen keinen geringeren als Reinhold Messner gewinnen. Der Bergpionier betont, die alpinen Regionen seien schon viele Jahrtausende im Einzugsbereich des Menschen gewesen und insofern als Kulturlandschaften geformt worden. Allerdings habe es bis ins 20. Jahrhundert hinein zwei verschiedene Bergzonen gegeben: eine, in der sich der Mensch angesiedelt und sich mit den rauen Verhältnissen arrangiert habe, und eine, die aus Ödland bestand, aus unüberwindbaren Felsformationen und ewigem Eis – ein „Gefahrenraum“, in den man besser nicht vorzudringen versuchte. „Diese unantastbaren Berge waren [...] Orientierungshilfe, Hindernis, Mythos. Vor allem waren sie unzugänglich [...] brauchten nicht vor [den Menschen] geschützt zu werden. Ihre Kraft ist wesentlicher Teil der Bergnatur.“ (4)
Mit Beginn des Massentourismus seit den 1920er Jahren sei die Unantastbarkeit der oberen Zone mehr und mehr geschwunden. Die menschenferne Bergwelt wurde systematisch und großflächig sowie über nationale Grenzen hinweg erschlossen. Das einstige naturnahe und kräfteraubende Ringen Einzelner mit dem Berg und seinen Gefahren sei sportiven Massenevents gewichen: „Heute sind die Gebirge Arena, in der Mensch gegen Mensch antritt, mit Regeln, Stoppuhr und bei größtmöglicher Absicherung.“ Das Gebirge gelte „lediglich als Ressource für den Tourismus“ (5). Reinhold Messner plädiert für eine Abkehr von der gegenwärtigen Praxis. Zumindest die früher unzugängliche Zone, „wo der Mensch auf Dauer nie gelebt hat und nicht leben kann [...], wo kein Getreide wächst, keine Rohstoffe zu holen sind“ (5), sollte wieder ihre Ruhe finden und als besonders geschützte geografische Tabuzone dem Massentourismus verschlossen bleiben.
In seinem einleitenden Text betont Wolfgang Zimmermann die Bedeutung der Fotografie für die Popularisierung der alpinen Formationen und ihre Aneignung. Die Lichtbildner, so der Chef des Generallandesarchivs Karlsruhe, seien in der Lage, „eigene Bildräume und -welten“ (6) zu schaffen. Die handwerklichen Mittel dazu: „Motive und Perspektiven [...], Komposition der Aufnahmen, [...] Einbettung in semantische Kontexte.“ (6) Wie dies Wilhelm Paulcke gelang, demonstriert Sara Dietrich in ihrem sehr informativen Aufsatz „Ein Leben mit den Bergen“. Finanziell brauchte sich Paulcke als Sohn eines Leipziger Pharmaindustriellen keine Sorgen zu machen. Paulcke war zwölf, als die Familie 1881 der Gesundheit wegen nach Davos zog. Nach dem frühen Tod der Eltern kam er bei Freunden in Baden-Baden unter. Es folgten Gymnasium, Militärdienst im Rheinischen Militär-Bataillon und Studium der Botanik, Zoologie und Geologie an der Universität Freiburg. 1901 habilitierte sich Paulcke an der Technischen Hochschule Karlsruhe und war dort von 1906 bis 1935 Professor für Geologie und Mineralogie sowie 1919/20 Rektor. An der TH führte er den Hochschulsport ein. In der freien Zeit zog es ihn zu Touren in den Schwarzwald und ins Gebirge. Paulcke war Lawinenexperte und gilt als Ski- und Kletterpionier: Im Schwarzwald bestieg er als erster den sogenannten Hirschsprung im Höllental (1885), in den Glarner Alpen stand er als weltweit erster Mensch mit Skiern auf einem Dreitausender, dem Oberalpstock (1896). Sodann bezwang er am Fluchthorn im Silvrettagebiet erstmalig den später nach ihm benannten 3072 Meter hohen Paulcketurm. Außerdem sprach er sich vielfach dafür aus, die alpinen Regionen für den Skisport touristisch zu erschließen. Paulcke war deutschnational gesinnt und während des Nationalsozialismus ein glühender Verehrer Adolf Hitlers und Anhänger der sogenannten Rassenlehre. Er starb 1949, nachdem er in seiner Bibliothek von einer Leiter gestürzt war.
Wie ist nun Elias Siebert bei seinem vergleichenden Projekt vorgegangen? Er wählte zunächst fünf motivische Themenfelder: Berghütten, Siedlungen, Energiegewinnung, Skipisten, Gletscherlandschaften. Sodann zog er aus Paulckes Fundus Bilder heran und machte sich vor Ort auf die Suche nach dem ursprünglichen Standort. Das war nicht unproblematisch: „Sein alpinistischer Ehrgeiz erschwerte die Suche nach den Standpunkten von Bildern aus seinen jüngeren Jahren, weil er viele der Motive von schwer zugänglichen Orten weit oben am Berg aufgenommen hatte.“ (17) Allerdings seien die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Motive wiederum „einfach“ und „ohne körperliche Strapazen“ (17) erreichbar gewesen – die Erklärung: Wilhelm Paulcke hatte sich während des Krieges am Bein verletzt und konnte danach nicht mehr klettern. Um die alten Standorte zu erreichen, befragte Siebert auch Menschen in den Bergdörfern. „Vom Mitarbeiter der Bergbahn bis zu den Dorfältesten sorgten die historischen Bilder in meinem Gepäck für großes Interesse, lebhafte Diskussionen und Erstaunen über den Zustand ihrer Heimat vor hundert Jahren.“ (17) Die Veränderungen waren zum Teil eklatant: Hier der von Wind, Wetter und den Strapazen des Hochgebirges gezeichnete Wirt der Silvrettahütte um 1900, „teils wochenlang ohne Kontakt zur Außenwelt, mit den vier gemauerten Wänden hinter ihm als einzigem Schutz“ (17), dort ein in Funktionskleidung, vor seiner ausgebauten und mit einer mondänen Eisenterrasse versehenen Hütte posierender „leutseliger junger Mann, der in seiner Tätigkeit eine berufliche Herausforderung sieht, via Internet in ständigem Austausch mit der Welt steht und der auch in diesem Beruf nicht auf Strom und fließendes Wasser verzichten muss“ (17).
Elias Siebert geht davon aus, mit seinen Bildern Raum und Zeit insofern überwinden zu können, als er nicht etwa das Gestern und Heute visuell nebeneinanderstellt, sondern das alte und das neue Bild mit digitaler Technik ineinander montiert. Die alten Bilder belässt er in Schwarzweiß, die neuen Bilder sind in Farbe. Da steht dann auch einmal eine moderne Kamera auf einem Stativ in der Landschaft und im Mittelgrund befindet sich ein visuelles, schwarzweißes Relikt aus längst vergangener Zeit – wundersame Bildkompositionen, die einen an eine optische Täuschung denken lassen. „Die möglichst genaue Wiederholung der Aufnahme schafft eine zeitliche Vergleichbarkeit dadurch, dass die Variable des Raumes weitgehend eliminiert und der Variable der Zeit die Bühne überlassen wird.“ (17)
„Gezähmte Berge“ erweitert die Geschichte der Fotomontage um ein neues Kapitel. Es handelt sich nicht nur um Re-Fotografie, sondern um eine neue Art des Schnittbildes. Zudem ergänzte Elias Siebert seine meisterhaft komponierten Illustrationen hin und wieder mit eigenen, subjektiven Bildern. Die Texte sind schön zu lesen, erfrischend kurz und beinhalten dennoch reichhaltige Informationen zu den historisch-biografischen Zusammenhängen. Die Bilder lassen einen mit dem Gedanken zurück, wie sehr unser Planet doch bereits beschädigt ist: Die tiefen Verletzungen der alpinen Welt sind wohl nicht mehr zu heilen, und auch der Klimawandel wird mit unserem gegenwärtigen Engagement kaum aufzuhalten sein.