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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Marlis Heyer/Susanne Hose (Hg.)

Encounters with Wolves. Dynamics und Futures. Begegnungen mit Wölfen. Zetkanja z wjelkami

(Kleine Reihe des Sorbischen Instituts/Mały rjad Serbskeho instituta 32), Bautzen 2020, Sorbisches Institut, 161 Seiten mit Abbildungen, 10 Grafiken, ISBN 978-3-9816961-9-6


Rezensiert von Nikolaus Heinzer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Seit mehreren Jahrzehnten breiten sich Wölfe in verschiedenen Teilen Europas wieder aus und lassen sich dabei in den Gebieten nieder, aus denen sie bis ins 20. Jahrhundert hinein größtenteils vertrieben wurden. Im Zuge dieser Entwicklung häufen sich gedankliche und physische Begegnungen von Menschen und Wölfen. Die Rückkehr dieser großen Beutegreifer und die daraus resultierenden Debatten und Konflikte sind nicht nur ein ökologischer Prozess, sondern auch Teil gesellschaftlicher Dynamiken und Zukunftsaushandlungen, welche im Tagungsband „Encounters with Wolves. Dynamics and Futures“ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive diskutiert werden. Der Sammelband entstand größtenteils aus Vorträgen der gleichnamigen Tagung, welche von dem an der Universität Würzburg ansässigen DFG-Projekt „Die Rückkehr der Wölfe. Kulturanthropologische Studien zum Prozess des Wolfsmanagements in der Bundesrepublik Deutschland“ unter der Leitung von Michaela Fenske in Kooperation mit dem Sorbischen Institut Bautzen und dem an der Universität Zürich angesiedelten, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projekt „Wolf: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz“ unter der Leitung von Bernhard Tschofen organisiert wurde. Die Tagung fand vom 27. bis 29. Juni 2018 in Bautzen statt und bot den Rahmen für einen internationalen und interdisziplinären Austausch zum Thema der Wolfsrückkehr.
Wie die beiden Herausgeberinnen Marlis Heyer und Susanne Hose im Vorwort ausführen, beruht der Tagungsband auf einem kulturanthropologischen Ansatz, der die Ausbreitung von Wölfen und die daraus entstehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als „Multispecies-Prozesse“ (14) versteht, das heißt als Prozesse, in denen „Gesellschaft gemeinsam von Menschen und nicht-menschlichen Anderen gemacht wird“ (14). Entsprechend fragen die Beiträge auch danach, auf welche Weise Wölfe in kulturelle Aushandlungsprozesse involviert sind und wie sie diese beeinflussen. Damit leistet der Band zum einen einen Beitrag zur Etablierung der Ansätze der Human-Animal-Studies und der Multispecies Ethnography in der europäischen Kulturanthropologie. Zum anderen finden auch der vergleichende Blick in verschiedene nationale Wolfskontexte und insbesondere der Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen sowie zwischen rein wissenschaftlichen und praxisorientierten Herangehensweisen, welche die zugrunde liegende Tagung prägten, in diesem Sammelband Niederschlag.
Das Buch ist lose in zwei Themenbereiche strukturiert: Während die ersten vier Beiträge „einen stärker regionalen Fokus auf Wölfe in den Kontexten von Erinnerung, Tradition, Raum oder Folklore“ (16) aufweisen, setzen sich die Arbeiten im zweiten Bereich „eher mit Fragen nach der Konzeptualisierung und Theoretisierung von Wölfen auseinander“ (16). Das Vorwort von Marlis Heyer und Susanne Hose steigt mit einem sorbischen Wolfsmärchen ein, anhand dessen die „Vielschichtigkeit des Verhandelns zum Thema ‚Wolf/Wölfe in der modernen Gesellschaft‘“ (8) veranschaulicht wird. Neben der Verortung des Bandes in einer auf die Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen ausgerichteten Kulturanthropologie verweisen die Herausgeberinnen auch auf die wichtige Rolle des kollektiven Gedächtnisses in Bezug auf Wölfe, welches heutige Narrative und Umgangsweisen und die damit verbundenen „Aushandlungen möglicher Zukünfte“ (12) stark mitprägt. Den Anfang des ersten Themenbereichs machen zwei historische Beiträge. Emilia Mielaniuk wirft einen Blick auf die große historische Präsenz von Wölfen in der polnischen Rechtsprechung, Sprache, Folklore, Religion und Kunst. In einem kurzen Schlussteil hält sie fest, dass an alte Bilder und Erfahrungen anknüpfende Ängste vor Wölfen in Polen auch heute noch, trotz gegensätzlicher biologischer Fakten, Bestand haben. Heta Lähdesmäki untersucht in ihrem äußerst gelungenen Aufsatz für den finnischen Kontext, wie spezifische, auf Konflikte fokussierte Vergangenheiten in Bezug auf das Zusammenleben von Menschen und Wölfen heute aktualisiert und als Argumente gegen eine mögliche Koexistenz genutzt werden. Mit Sara Ahmeds Konzept der Wunde zeigt sie auf, wie Bezugnahmen auf positivere Vergangenheitsnarrative einen konstruktiveren Umgang mit Wölfen ermöglichen könnten und plädiert mit Sandra Swarts dafür, Geschichte allgemein stärker als vielfältige Beziehung zwischen verschiedenen Spezies zu denken.
Thorsten Giesers ethnografische Fallstudie bei den Tuva in der Mongolei erklärt Mensch-Wolf-Beziehungen nicht nur als Konflikte, sondern beschreibt sie in ihrer Ambivalenz, Komplexität und Dynamik. Der Aufsatz ist entlang der unterschiedlichen Rollen gegliedert, die Wölfe in der Lebenswelt der Tuva einnehmen können: von Räubern über mythologische Figuren bis hin zu Nachbarn. Gieser betont dabei, dass Wildnis und wilde Tiere hier dynamische Konzepte sind, die nicht auf statische räumliche oder konzeptionelle Dichotomien reduziert werden können. Eine weitere regionale Studie stellt der Foto-Essay von Robert Lorenz dar. Mit zweiundzwanzig Fotografien versucht der Fotograf das Wolfsland Lausitz in seinen emotionalen und räumlichen Dimensionen greifbar zu machen. Der Wolf, der auf keinem Bild erscheint, fungiert dabei sowohl als konkretes Tier, das die Lausitz ökologisch verändert, als auch als Metapher und politisch verhandelte Allegorie für die sich stark wandelnde Identität einer Region.
Der nächste Abschnitt des Bandes beginnt mit zwei kulturanthropologischen Beiträgen. Im ersten vergleichen Irina Arnold und Marlis Heyer das Wolfsmanagement in Niedersachsen und der Lausitz. Dabei zeigen sie kritisch auf, dass aktuelle politische Instrumente ungenügend auf Multispecies-Relationen und nicht-menschliche Handlungsmächtigkeiten ausgerichtet sind. Der Rückgriff auf die Future Studies als verbindendes theoretisches Glied zwischen ihren Teilprojekten ist dabei auch äußerst fruchtbar, um die gesellschaftlichen Prozesse rund um Mensch-Wolf-Begegnungen in ihren politischen und zukunftsorientierten Dimensionen besser zu verstehen. Offen bleibt die spannende Frage, wie ein die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen und anderen Spezies berücksichtigendes Denken im Wolfsmanagement praktisch implementiert werden kann. Im Beitrag von Elisa Frank folgen methodische Reflexionen zur kulturanthropologischen Erforschung des emergenten und nicht klar umrissenen Forschungsfeldes eines erweiterten Wolfsmanagements in der Schweiz. An George Marcusʼ Multi-Sited Ethnography und Rolf Lindners Kulturanalyse anknüpfend entwickelt Frank das Modell der Leit-Wölfe, denen sie in ihrer Forschung folgt und mit deren Hilfe sie ihr komplexes, netzwerkartiges Feld strukturieren und untersuchen kann. Wölfe werden durch dieses überzeugende Modell in ihrem Facettenreichtum sichtbar und in ihrer Vielschichtigkeit analysierbar.
Den Schluss machen drei etwas stärker praxisorientierte Beiträge. Im Gespräch mit Laura Duchet erläutert Michael Gibbert, inwiefern eine Perspektive aus dem Bereich Marketing und Kommunikationswissenschaft auf das Wolfsmanagement dazu beitragen kann, unterschiedliche Interessensgruppen besser zu verstehen. Privat auch als Jäger und Tierhalter tätig, schätzt Gibbert, dass eine Abänderung des rechtlichen Status von Wölfen vom geschützten zum jagdbaren Wildtier eine effiziente Regulierung von Wolfspopulationen und eine bessere Kommunikation derselben erleichtern würde. Ferner zeigt er Möglichkeiten des positiven Marketings auf, indem etwa wolfsfreundlich produzierte landwirtschaftliche Produkte entsprechend gelabelt würden. Der Beitrag von Manuela von Arx, Ilona Imoberdorf und Urs Breitenmoser von der Stiftung KORA, die in der Schweiz für das Monitoring von Großraubtieren zuständig ist, richtet sich hauptsächlich an staatliche Behörden. In ihrer vor allem auf Interviews mit Praxis-Akteur*innen beruhenden Studie untersuchen sie die Frage, wie Behörden beim Auftauchen nicht-scheuer Wölfe kommunizieren und wie diese Kommunikation verbessert werden kann. Die Autor*innen empfehlen eine enge und situativ angepasste kommunikative Begleitung von Wolfsvorfällen. Zudem sollten die Gemeinden stärker involviert, Wildhüter als zentrale Vermittler spezifisch weitergebildet und die Auswirkungen der Wolfskommunikation auf die lokale Bevölkerung genauer untersucht werden. Auch der Kulturgeograf und Erziehungswissenschaftler Sebastian Ehret fordert mit Henry Buller, dass wissenschaftliche Erkenntnisse stärker in außerakademische Kontexte getragen und in gesellschaftliche Debatten eingebracht werden sollten. Zu diesem Zweck entwickelt er ein heuristisches Schema, das die Wolfsdebatten entlang verschiedener Dimensionen strukturiert und unterschiedliche Logiken und Positionen verdeutlicht. Ziel ist es, einem breiteren Publikum ein Bewusstsein für die Komplexität und Vielstimmigkeit der Wolfs-Mensch-Beziehungen zu vermitteln, zur Auseinandersetzung mit diversen Positionen anzuregen und so insgesamt zur Vermeidung von Missverständnissen beizutragen. Die Frage der genauen Umsetzung dieses äußerst vielversprechenden Vermittlungskonzepts bleibt in Ehrets Aufsatz offen und würde weitere Ausführungen verdienen.
Die in diesem Sammelband zusammengeführten Beiträge spiegeln nicht nur eine große internationale Bandbreite wider, sondern weisen auch eine disziplinäre und formale Heterogenität und damit eine Perspektivenvielfalt auf, welche eine Bereicherung sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch für ein breiteres Verständnis der komplexen gesellschaftspolitischen Prozesse und Debatten rund um die Ausbreitung von Wölfen in Europa darstellt. Diese in ihrer Vielfalt bemerkenswerte und angenehm kompakte Zusammenstellung überzeugt sowohl in ihrer Breite als auch durch die Dichte und Qualität der einzelnen Beiträge und regt zu weiteren (wissenschaftlichen) Begegnungen mit Wölfen an.