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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Ulrike Schwarz (Hg.)

Das Augsburger Passionsspiel von St. Ulrich und Afra. Edition und Kommentar

(Editio Bavarica, 5), Regensburg 2018, Pustet, 751 Seiten, ISBN 978-3-7917-2818-6


Rezensiert von Manfred Knedlik
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Ohne Zweifel ist das Phänomen der Passionsspiele im allgemeinen Bewusstsein eng mit den weltweit bekannten, bis 1634 zurückreichenden Aufführungen in Oberammergau verknüpft; der erste erhaltene Text datiert von 1662. Als einen der „Impulsgeber“ (19) hat bereits die ältere literaturhistorische Forschung das sogenannte Augsburger Passionsspiel identifiziert, überliefert in einer wohl in der Fuggerstadt entstandenen Handschrift aus der Zeit um 1500, die bis zur Säkularisation im Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra aufbewahrt wurde und die sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München befindet (Cgm 4370). Erstmals ediert wurde sie 1880 vom damaligen Direktor der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek August Hartmann, der aber lediglich eine wichtige Quelle des Oberammergauer Passionsspiels zugänglich machen wollte, ohne damit eine eingehende Untersuchung dieses „werthvolle[n] Denkm[a]l[s] altdeutscher Dramatik“ zu verbinden. [1] Auch in der Folge erlangte das Spiel nur wenig Aufmerksamkeit in der Forschung. Diesem Desiderat stellt sich die vorliegende, aus einer Augsburger Dissertation bei Klaus Wolf hervorgegangene Publikation von Ulrike Schwarz, die in der verdienstvollen Reihe „Editio Bavarica“ erschienen ist. Allein der Umfang des „Kommentars“ weist auf Inhaltsfülle hin. Einer knapp 90-seitigen Edition, die gemäß eigener Aussage jene Hartmanns nicht ersetzen, freilich dessen Auslassungen (z. B. die Rollenliste, Cgm 4370, fol. 66v, hier auf S. 138 f.) ergänzen will, stehen ca. 625 Seiten kommentierender Untersuchung gegenüber. Schwarz liefert sprachliche, literatur- und theaterhistorische, aufführungs- und bühnentechnische Details, erörtert geschichtliche, soziale und politische Hintergründe oder prosopografische und ikonografische Fragen – kurz: In interdisziplinärer Breite nimmt die Autorin eine umfassende Kontextualisierung des untersuchten Spiels vor.
Die Edition bietet im Interesse einer leichteren Lesbarkeit, entgegen den neueren Konventionen in der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung, [2]  eine moderat modernisierte Wiedergabe des Textes; über die Form der Eingriffe geben die einleitenden Bemerkungen zur Textredaktion Rechenschaft. Für den Vergleich mit der originalen Textgestalt wird auf die digitalisierte Fassung verwiesen, die auf der Internet-Seite der Bayerischen Staatsbibliothek zugänglich ist. [3] Die Auflösung der diakritischen Zeichen in der vorgelegten Edition erfolgt auf der Basis einer sprachhistorisch-phonologischen Untersuchung des Haupttonvokalismus (wie auch Nebentonvokalismus und Konsonantismus), die den ostschwäbischen Lautstand der Augsburger Handschrift en détail zeigt; [4] dafür verantwortlich ist ein neuerer Bearbeiter, während die Analyse der Reimgrammatik zeigt, dass zumindest Teile des älteren Spiels eine bairische Färbung aufgewiesen haben müssen.
Den wesentlichen Mehrwert gegenüber der älteren Edition von Hartmann stellt, wie angedeutet, die umfassende Kommentierung dar. Zunächst werden unter Berücksichtigung der literarischen und (seltenen) archivalischen Überlieferung Augsburger Spielzeugnisse vom 12. bis zum 16. Jahrhundert ausgebreitet, die eine reiche Tradition an geistlichem Spiel in der Stadt an Lech und Wertach erkennen lassen. Finden sich hier Hinweise auf Spieltraditionen, so machen die folgenden Ausführungen den theatralischen, darstellerischen und performativen Kontext des Augsburger Passionsspiels sichtbar: Erörtert werden Fragen nach Spielträger, Regisseur, Schauspielern und sonstigen Beteiligten, nach Bühnenbild, Requisiten und Kostümen, nach Bühnen- und Inszenierungsform. Aus der akribischen Analyse der Regie- und Sprechtexte gewinnt Schwarz Aufschlüsse über die Bühnenpraxis, unter anderem über die Kunstgriffe und Illusionstricks, die selbst vor blutigen Effekten nicht zurückschreckten; ferner lässt ihr Entwurf eines schematisierten Bühnenplans eine gewisse Vorstellung vom Aufbau der Simultanbühne, von Spielständen und Spielerbewegungen entstehen, wobei sie zu Recht darauf hinweist, dass die erhaltene Spielhandschrift lediglich eine Momentaufnahme darstellt. Bekanntlich waren die Texte ständigen Umformungen ausgesetzt, weil die verantwortlichen Spielleiter die Vorlagen für jede Aufführung überarbeiteten, um sie aktuellen Bedürfnissen anzupassen.
Mit dem Szenenkommentar schließt sich der umfassendste und, insbesondere auch für die Spieleforschung, ergiebigste Teil der Arbeit an. Die Erläuterungen zu den einzelnen Spielszenen folgen wegen der notwendigen Vergleichbarkeit einem Fünf-Punkte-Schema: (1) „Sprachliche Erläuterungen“, die gleichermaßen Übersetzungshilfen für den modernen Leser und sprachhistorische Untersuchungen bieten; (2) unter „Quellen“ erscheint der Nachweis biblischer, apokrypher, legendarischer und liturgischer Vorbilder; (3) unter dem Punkt „Szenenparallelen“ werden Ähnlichkeiten und Entsprechungen, was Aufbau, Inhalt und Einzelverse betrifft, zwischen geistlichen Spielen im gesamten oberdeutschen Raum angeführt (siehe das Verzeichnis der Vergleichsspiele auf S. 725 f.) sowie mögliche Einflüsse und Überlieferungswege erörtert, wobei sich eine – von der Forschung schon früher bemerkte [5]  – enge Verwandtschaft mit den Tiroler Spielen und dem Egerer Passionsspiel nachweisen lässt; (4) mit Blick auf „Lokale Bezüge“ erfolgt eine Einbettung des Spiels in das religiöse, politische, wirtschaftliche und soziale Leben Augsburgs, selbst die Bildende Kunst wird bei der vergleichenden Betrachtung nicht vernachlässigt, wenn etwa die Bezüge zwischen einem Teufelsauftritt und einer „Höllendarstellung“ (1520) des Augsburger Malers Jörg Breu oder zwischen der Pietà-Szene und der „Kreuzabnahme Christi“ des Hans Holbein d. Ä. untersucht werden; (5) zu spielpraktischen Überlegungen führt der Punkt „Szenengestaltung“, der unter Berücksichtigung von Handlung, Sprechtexten und Regieanweisungen nach rekonstruierbaren Bewegungen der Darsteller auf der Simultanbühne fragt, dabei oft zugleich inhaltliche Eingriffe, Streichungen und Verschiebungen offenlegt, die auf Vorformen des überlieferten Spiels verweisen. Abschließend bietet eine umfassende Bibliografie hinreichend Material für weitere Forschungen.
In mustergültiger Form leistet die vorgelegte Neuedition mit Kommentar einen Beitrag zur germanistischen Spieleforschung. Die opulente Studie kann nicht nur den Blick öffnen für ein – wie der Rückentext zutreffend sagt – „kleines, aber feines Passionsspiel“ und ihm so eigenständige Bedeutung zukommen lassen, sondern darüber hinaus, gerade mit der außerordentlich dichten Betrachtung des Textzeugnisses aus interdisziplinärer Sicht, [6] der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den geistlichen Spielen insgesamt neue Impulse verleihen.

Anmerkungen

[1] August Hartmann: Vorwort. In: ders. (Hg.): Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt. Leipzig 1880, S. 1–95, ergänzt um wenige Bemerkungen zu Überlieferung, Datierung und Sprachgestalt der Handschrift, S. 95–100, hier S. III.

[2] So z. B. Hellmut Thomke (Hg.): Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts (Bibliothek der Frühen Neuzeit 2). Frankfurt am Main 1996.

[3] Siehe daten.digitale-sammlungen.de/~db/0005/bsb00050902/images/ [26.3.2021].

[4] In Ergänzung zur Beschreibung durch Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München: Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001–5247. München 1996, S. 92.

[5] Joseph Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhandlungen über Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und Litterarhistorische Stellung. Graz 1897, S. CXXV f.; Klaus Wolf: Theater im mittelalterlichen Augsburg. Beitrag zur schwäbischen Literaturgeschichte. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 101 (2007), S. 35–45.

[6] Vgl. z. B. Klaus Wolf: Für eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Aufführungswirklichkeit. In: Hans-Joachim Ziegler (Hg.): Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Spiel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2004, S. 273–312.