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Jeannine-Madeleine Fischer

Urbane Ethiken und Umweltschutz. Ideale, Praktiken und Aushandlungen um die gute Stadt in Auckland, Aotearoa Neuseeland

(UmweltEthnologie 4), Bielefeld 2020, transcript, 237 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5039-6


Rezensiert von Christoph Köck
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021

Die vorliegende Veröffentlichung von Jeannine-Madeleine Fischer wurde am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation anerkannt. Die Arbeit wurde im Rahmen der interdisziplinären Forschergruppe „Urbane Ethiken. Konflikte um gute und richtige städtische Lebensführung im 20. und 21. Jahrhundert (DFG)“ als Teilprojekt gefördert.
Die Studie konzentriert sich räumlich auf Auckland als Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum Neuseelands. In der Metropole und einzigen Millionenstadt des Inselstaates kristallisieren sich die Aushandlungen und Beziehungen um „das gute Leben“ in einem modernen, sich naturnah konstruierenden urbanen Umfeld besonders auffällig. Um den Ethiken als „Aneignungsprozesse kursierender Moralvorstellungen“ (44) auf die Spur zu kommen, beleuchtet die Autorin ausschnitthaft drei Handlungsfelder, die jeweils eine kongruente Symptomatik aufweisen: das kollektive „Weeding“ (Unkrautjäten), den Betrieb von Community Gardens sowie kommunal gesteuerte Recycling- und Mülltrennungspraktiken. Die Beschränkung erweist sich als klug fokussierende ethnografische Vorgehensweise. Der methodische Schwerpunkt liegt auf der (teilnehmenden) ethnografischen Beobachtung in allen drei Feldern, angereichert durch Dokumentenrecherche und Expert*innen-Interviews mit dem Anspruch, die lebensweltlichen Zusammenhänge in dichter Beschreibung sichtbar zu machen. Das Forschungsverfahren ist außerordentlich gut dokumentiert und gelungen, zumal es die eigene, dem Feld zugewandte Haltung reflektiert. Es wurden drei Feldforschungsphasen in den Jahren 2012–2016 realisiert. Untersuchungsorte sind zum einen der Stadtteil Davenport, ein maritimes Wohlstandsviertel mit historischem Charakter, dessen Bewohner*innen vorwiegend Pākehā, Neuseeländer*innen mit europäischer Abstammung, sind, und zum anderen der multikulturell geprägte Stadtteil Māngere East, der insbesondere von Menschen mit ursprünglich polynesischer Herkunft und von Maori besiedelt ist. Die Autorin verzichtet explizit auf eine komparative Gegenüberstellung, nimmt in ihrer Ethnografie aber immer wieder auf die erkennbaren Milieuunterschiede Bezug.
Als besonders aufschlussreich, weil für den Inselstaat Neuseeland repräsentativ, erweist sich das Kapitel über die „weediest city in the world“ (97 ff.). Die kulturelle Praxis des Unkrautjätens fußt auf einer Art „Reinheitsgebot“, auf das sich die Bevölkerung kollektiv verständigt hat. Dies impliziert, dass in den lokalen Weeding-Initiativen alles getan wird, um eine administrativ wie auch kulturell deklarierte nicht-native Natur, in Form von Pflanzen- und Tiermaterial, von der Insel fern zu halten. Es gibt restriktive Grenzkontrollen, Vergehen werden mit hohen Geldbußen geahndet. (Anmerkung des Rezensenten: Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle, sehr erfolgreiche und restriktive ZeroCovid-Politik Neuseelands einzuordnen.) Mit dem Weeding ist in Auckland eine spezifische körperliche und mentale Beziehung der Bewohner*innen zu ihrer Naturumgebung verbunden. Eine allseits propagierte Care-Ethik lässt Verantwortung gegenüber dem nationalen Gemeinwohl entstehen. Gleichzeitig geht es um ein Arbeitsethos, das eine „taktil-visuelle Erfahrung urbaner Natur“ ermöglicht.
Andere Beziehungsgeflechte zeigen sich in den zwei weiteren Forschungsfeldern. Die Arbeit in den Community Gardens ist stark davon geprägt, lokale Identifikationsmuster aufzubauen. Kollektives Gärtnern wird vor allem für Neuzugezogene zu einem Baustein der Beheimatung, obwohl Grenzziehungen von den Alteingesessenen implizit auch in diesem Kontext markiert werden. Auch die Müllreduktionsdiskurse und -praktiken werden benutzt, um Hierarchisierungen kenntlich zu machen, zum Beispiel gegenüber benachbarten Stadtteilen, die sich aufgrund ihrer schlechteren sozioökonomischen Lage deutlich schwerer tun, um die neu ausgehandelten urbanen Ideale zu gestalten beziehungsweise umzusetzen.
Die Dissertation von Jeannine-Madeleine Fischer ist insgesamt eine kulturanalytische Bravourleistung. Fragestellungen, Methodik, ethnografische Beschreibung und Analytik sind kohärent aufeinander abgestimmt. Die Arbeit verdeutlicht sehr gut, wie ethische Paradigmata mit sozialen Beziehungen und Hierarchisierungen verwoben sind. Umweltdiskurse, so schließt die Autorin, „sind mit Machtprozessen verbunden, in welchen manche Akteur*innen privilegierte Positionen einnehmen und eher gehört werden als andere“ (220). Sie empfiehlt auf Basis ihrer Beobachtungen, diese Ungleichheiten offenzulegen, um hierarchische Strukturen bei der Aushandlung guter urbaner Umweltpraxis aufzubrechen. Eine kleine Kritik sei dem Rezensenten am Ende erlaubt – sie betrifft weniger die Arbeit selbst als den damit verbundenen wissenschaftlichen Transfer: In der Arbeit steckt so viel inhaltliches Potenzial, dass die Veröffentlichungsform „analoges Buch“ im Jahr 2020 einen offensichtlichen publizistischen Reduktionismus darstellt. Zwar führen die Internetseiten der Forschergruppe Urbane Ethiken bereits ein ganzes Stück weiter, um den Gesamtkontext der Forschung nachzuverfolgen. Dennoch könnten heute gängige digitale Dokumentations- und Publikationspraxen ganz neue Transparenzen im Forschungsprozess eröffnen. Diese Einschätzung betrifft allerdings nicht ausschließlich die vorliegende Arbeit, sondern die Transferpraxis der ethnologischen Wissenschaften insgesamt.